Urteil des BGH vom 20.01.2010

BGH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, gericht erster instanz, faires verfahren, zpo, berufungsschrift, akten, wohnsitz, zeitpunkt, gvg, frist)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VIII ZB 36/08
vom
20. Januar 2010
in dem Rechtsstreit
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Januar 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Ball, die Richterin Dr.
Hessel, sowie die Richter
Dr. Achilles, Dr. Schneider und Dr. Bünger
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des
6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom
15. Mai 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Berufungsgericht zu-
rückverwiesen.
Beschwerdewert: 2.455 €.
Gründe:
I.
Die Klägerin, eine niederländische Gesellschaft mit Sitz in A. ,
nimmt die Beklagte auf Ersatz von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.936 €
nebst Zinsen als Verzugsschaden in Anspruch. Das Amtsgericht hat der Klage
- unter Abweisung im Übrigen - in Höhe von 2.455 € nebst Zinsen stattgegeben.
Das erstinstanzliche Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am
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Dezember 2007, dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am
17. Dezember 2007 zugestellt worden. Mit am 7. Januar 2008 beim Landgericht
eingegangen Schriftsatz hat die Beklagte Berufung gegen das Urteil des Amts-
gerichts eingelegt und das Rechtsmittel in demselben Schriftsatz begründet.
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Die Berufungsschrift ist dem Vorsitzenden der Berufungskammer des Landge-
richts zusammen mit dem beigefügten angefochtenen Urteil am 8. Januar 2008
vorgelegt worden. Der Kammervorsitzende hat noch am 8. Januar 2008 die
Rücksendung des beigefügten erstinstanzlichen Urteils an den Berufungsführer
sowie die Zustellung der Berufungsschrift an den Prozessbevollmächtigten der
Klägerin verfügt. Darüber hinaus hat der Vorsitzende die Akten erster Instanz
angefordert und eine Wiedervorlage auf den 20. Februar 2008 verfügt.
Mit am 11. Januar 2008 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schrift-
satz hat die Klägerin Berufung eingelegt. Nachdem die Prozessbevollmächtig-
ten der Klägerin Bedenken gegen die Rechtsmittelzuständigkeit des Landge-
richts erhoben hatten, hat die Beklagte am 30. Januar 2008 ebenfalls Berufung
zum Oberlandesgericht eingelegt und das Rechtsmittel zugleich begründet. In
demselben Schriftsatz hat die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gegen die Versäumung der Berufungseinlegungsfrist beantragt und vorsorglich
Anschlussberufung eingelegt.
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Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten mit Beschluss
vom 15. Mai 2008 als unzulässig verworfen und den Antrag auf Wiedereinset-
zung in die Versäumung der Frist zur Berufungseinlegung zurückgewiesen. Da-
gegen wendet sich die Beklagte mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten
Rechtsbeschwerde.
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II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
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1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im
Wesentlichen ausgeführt:
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Die Berufung der Beklagten sei nach § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu
verwerfen, weil sie nicht innerhalb der Berufungsfrist beim Oberlandesgericht
eingelegt worden sei. Die Berufungsfrist sei am 17. Januar 2008 abgelaufen;
die Berufungsschrift sei aber erst am 30. Januar 2008 eingegangen. Wiederein-
setzung in den vorigen Stand könne der Beklagten nicht gewährt werden, da
die Versäumung der Frist allein auf dem Verschulden des Prozessbevollmäch-
tigten der Beklagten beruhe; dieser habe die Bestimmung des § 119 Abs. 1
Nr. 1 Buchst. b GVG übersehen. Der Eingang der Berufung innerhalb offener
Frist beim (unzuständigen) Landgericht am 7. Januar 2007 helfe der Beklagten
nicht. Zwar könne ein unzuständiges Gericht unter dem Gesichtspunkt des An-
spruchs der Partei auf ein faires Verfahren verpflichtet sein, von sich aus frist-
gebundene Schriftsätze an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Dies könne
aber nur dann gelten, wenn das zunächst angegangene Gericht seine Unzu-
ständigkeit auch habe erkennen müssen, und dies auch nur dann, wenn die
fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Ge-
schäftsgang ohne Weiteres erwartet werden könne. Daran fehle es vorliegend.
Entscheidend für die Zuständigkeitsbestimmung des §
119 Abs.
1 Nr.
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Buchst. b GVG sei der Wohnsitz der Klägerin zur Zeit der Rechtshängigkeit der
Klage und nicht der Wohnsitz zur Zeit des Erlasses des erstinstanzlichen Ur-
teils. Nur diesen Wohnsitz habe der Vorsitzende der Berufungskammer des
Landgerichts aber anhand der mit der Berufungsschrift übersandten Ausferti-
gung des erstinstanzlichen Urteils erkennen können, da er zu diesem Prüfungs-
zeitpunkt die - von ihm nach Vorlage der Berufungsschrift sofort angeforderten -
Akten (noch) nicht zur Verfügung gehabt habe. Als dem Vorsitzenden die Akten
am 20. Februar 2008 vorgelegt worden seien, sei die Berufungseinlegungsfrist
längst abgelaufen gewesen.
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2. Die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte und
auch im Übrigen (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, § 575 ZPO) zulässige Rechtsbe-
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schwerde der Beklagten ist begründet. Mit der vom Berufungsgericht gegebe-
nen Begründung kann die Berufung der Beklagten nicht gemäß § 522 Abs. 1
ZPO als unzulässig verworfen werden.
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a) Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen,
dass die Sachbehandlung des Vorsitzenden des zunächst von der Beklagten
angerufenen, nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG unzuständigen Landge-
richts im Hinblick auf eine im Rechtsstaatsprinzip verankerte faire Verfahrens-
gestaltung nicht zu beanstanden ist.
Eine faire Verfahrensgestaltung, insbesondere die prozessuale Fürsor-
gepflicht gebietet es nicht, den Vorsitzenden einer Berufungskammer als ver-
pflichtet anzusehen, bei einer noch innerhalb der Berufungsfrist an ihn erfolgten
Vorlage einer Berufungs- oder Berufungsbegründungsschrift, aus denen sich
gewichtige Anhaltspunkte für einen Auslandsbezug ergeben, der eine Beru-
fungszuständigkeit des Oberlandesgerichts nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b
GVG begründen kann, die abschließende Prüfung der Zuständigkeit so zu be-
schleunigen, dass die Berufungsschrift noch vor Fristablauf an das Oberlan-
desgericht weitergeleitet werden kann. Denn da es nach § 119 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. b GVG auf den allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der
Rechtshängigkeit in erster Instanz, also regelmäßig den Zeitpunkt der Zustel-
lung der Klageschrift nach § 253 Abs. 1, § 261 Abs. 1, 2 ZPO ankommt, der von
der aktuellen Anschrift einer Partei im Zeitpunkt des Urteilserlasses und der
Berufungseinlegung durchaus abweichen kann, reicht die Kenntnis der Beru-
fungs- und Berufungsbegründungsschrift sowie des angefochtenen Urteils in
vielen Fällen zur endgültigen Beurteilung der Zuständigkeit nicht aus, sondern
bedarf es einer Kenntnis der Akten, insbesondere der Angabe des Wohnsitzes
in der Klageschrift. Eine Verpflichtung des Vorsitzenden, sich diese Akten
schneller, als dies im ordentlichen Geschäftsgang zu erwarten wäre, vorlegen
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zu lassen oder sich bei dem Berufungsführer oder dem Gericht erster Instanz
nach dem Wohnsitz bei Zustellung der Klage zu erkundigen, würde die Verfah-
rensbeteiligten ihrer primären Verantwortung für die Bestimmung des zuständi-
gen Rechtsmittelgerichts entheben (Senatsbeschluss vom 18. März 2008
- VIII ZB 4/06, NJW 2008, 1890, 1891, Tz. 12).
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Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde war der Vorsitzende
der Berufungskammer beim Landgericht auch nicht verpflichtet, wenigstens ei-
ne "Grobprüfung der Zuständigkeit" vorzunehmen. Eine derartige "Grobprüfung"
hätte allein anhand der Berufungsschrift und des beigefügten erstinstanzlichen
Urteils erfolgen können. Dass in den dortigen Rubra die Klägerin mit ihrem aus-
ländischen Geschäftssitz angeführt war, musste den Vorsitzenden jedoch nicht
zu dem von der Rechtsbeschwerde vermissten Hinweis auf die möglicherweise
fehlende Zuständigkeit des Landgerichts veranlassen, denn es kommt auf den
allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit an
und nicht auf den Wohnsitz im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
oder des Urteilserlasses (Senat, aaO). Zu einem Hinweis ist das Gericht indes
nur dann verpflichtet, wenn ein rechtlich erheblicher Gesichtspunkt erkennbar
übersehen wurde (§ 139 Abs. 2 ZPO). Dies konnte der Kammervorsitzende je-
doch erst nach Einsicht in die Gerichtsakten beurteilen.
b) Das Berufungsgericht hat jedoch übersehen, dass die beim Oberlan-
desgericht verspätet eingelegte Berufung nicht als unzulässig verworfen werden
darf, weil die Beklagte mit Schriftsatz vom 30. Januar 2008 neben einer Haupt-
berufung vorsorglich auch Anschlussberufung eingelegt hat, die derzeit unter
keinem rechtlichen Gesichtspunkt als unzulässig angesehen werden kann.
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Legt eine Partei gegen eine bestimmte Entscheidung mehrfach Berufung
ein, handelt es sich um dasselbe Rechtsmittel; ihr Begehren richtet sich im Er-
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gebnis nur auf eine sachliche Überprüfung des angefochtenen Urteils. Daher ist
nach ständiger Rechtsprechung über die Berufung einheitlich zu entscheiden.
Dies gilt auch dann, wenn der Berufungsbeklagte sowohl eine selbständige Be-
rufung einlegt als auch eine Anschlusserklärung nach § 524 ZPO abgibt. Ent-
spricht - wie hier - die zunächst eingelegte Berufung nicht den förmlichen An-
forderungen des Gesetzes, darf sie daher auch nicht gesondert als unzulässig
verworfen werden (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2004 - IV ZB 9/04, NJW-RR
2004, 1502 unter II 2 m.w.N.).
Die Sache ist daher unter Aufhebung der Berufungsverwerfung zur Fort-
setzung des Berufungsverfahrens an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
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Ball
Dr. Hessel
Dr. Achilles
Dr. Schneider
Dr. Bünger
Vorinstanzen:
AG Braunschweig, Entscheidung vom 12.12.2007 - 114 C 4093/06 -
OLG Braunschweig, Entscheidung vom 15.05.2008 - 3 U 42/09 -