Urteil des BGH vom 09.02.2006

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 218/04
vom
9. Februar 2006
in dem Verbraucherinsolvenzverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
InsO § 290 Abs. 1 Nr. 5
Zur Annahme grober Fahrlässigkeit im Falle der Aushändigung eines Merkblatts zur
Wohlverhaltensperiode.
BGH, Beschluss vom 9. Februar 2006 - IX ZB 218/04 - LG Göttingen
AG Göttingen
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Gero Fischer, die Richter Dr. Ganter, Cierniak, die Richterin Lohmann und
den Richter Dr. Detlev Fischer
am 9. Februar 2006
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners wird der Beschluss der
10. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen vom 24. August 2004
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten
der Rechtsbeschwerde - an das Beschwerdegericht zurückverwie-
sen.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes beträgt 22.000 €.
Gründe:
I.
Am 3. März 2003 eröffnete das Insolvenzgericht das Verbraucherinsol-
venzverfahren über das Vermögen des Schuldners; zugleich stundete es ihm
die Verfahrenskosten. Am 17. Juli 2003 verstarb der Vater des Schuldners.
Nach dessen Vortrag berief sich der Sohn der vorverstorbenen Lebensgefährtin
des Vaters bald danach auf das Eigentum seiner Mutter an der Wohnungsein-
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richtung und forderte erfolgreich deren Herausgabe. Den weiteren Ausführun-
gen des Schuldners zufolge erfuhr er erst am 26. August 2003 bei einem Ge-
spräch mit Vertretern der Sparkasse G. von einem Kontoguthaben sei-
nes Vaters in Höhe von knapp 44.000 €; dies habe er dem Treuhänder mit
Schreiben vom 28. August 2003 mitgeteilt.
Die (weitere) Beteiligte zu 1 hat im schriftlichen Verfahren rechtzeitig die
Versagung der Restschuldbefreiung beantragt. Mit Beschluss vom 5. Juli 2004
hat das Insolvenzgericht die Restschuldbefreiung gemäß § 290 Abs. 1 Nr. 5
InsO versagt und die Stundung aufgehoben. Die sofortige Beschwerde des
Schuldners gegen diesen Beschluss ist zurückgewiesen worden. Hiergegen
richtet sich die Rechtsbeschwerde des Schuldners.
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II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 7, 6 Abs. 1, § 289 Abs. 2 Satz 1,
§ 4d Abs. 1 InsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen
zulässig. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zu-
rückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
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1. Das Landgericht hat ausgeführt: Der Schuldner habe die Pflicht ge-
habt, den Treuhänder darüber zu informieren, dass ihm durch eine Erbschaft
Vermögen zugefallen sei. Ob die Benachrichtigung des Treuhänders rechtzeitig
gewesen sei, könne dahinstehen. Maßgeblich sei, dass der Schuldner grob
fahrlässig gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen habe, indem er aus dem
Nachlass 8.000 Euro entnommen und für eigene Zwecke verbraucht habe. Im
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Blick auf die Versagung der Restschuldbefreiung sei auch die Entscheidung des
Amtsgerichts, die Stundung aufzuheben, nicht zu beanstanden.
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
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a) Gemäß § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO ist die Restschuldbefreiung zu versa-
gen, wenn der Schuldner während des Insolvenzverfahrens Auskunfts- oder
Mitwirkungspflichten nach diesem Gesetz vorsätzlich oder grob fahrlässig ver-
letzt hat.
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b) Ob der Schuldner objektiv gegen eine Mitwirkungspflicht verstoßen
hat, indem er als Erbe vom Konto seines verstorbenen Vaters 8.000 Euro ab-
gehoben und für eigene Zwecke verbraucht hat, kann dahinstehen. Der
Schuldner beruft sich insoweit darauf, gemäß § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO nur ver-
pflichtet gewesen zu sein, die Erbschaft zur Hälfte ihres Wertes an den Treu-
händer herauszugeben. Jedenfalls hat der Schuldner den subjektiven Tatbe-
stand des Versagungsgrundes in § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO insoweit nicht erfüllt.
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aa) Für eine vorsätzliche Pflichtwidrigkeit des Schuldners bieten die
Feststellungen des Landgerichts keinen Anhaltpunkt. Dessen Annahme, der
Schuldner habe grob fahrlässig gehandelt, ist rechtsfehlerhaft.
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Der Begriff der groben Fahrlässigkeit ist ein Rechtsbegriff. Die Feststel-
lung der Voraussetzungen ist zwar tatrichterliche Würdigung und mit der
Rechtsbeschwerde nur beschränkt angreifbar. Der Nachprüfung unterliegt aber,
ob der Tatrichter den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt oder bei
der Beurteilung des Grades der Fahrlässigkeit wesentliche Umstände außer
Betracht gelassen hat (vgl. BGH, Urt. v. 8. Oktober 1991 - XI ZR 238/90, WM
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1991, 1946, 1948; v. 29. September 1992 - IX ZR 265/91, NJW 1992, 3235,
3236). So liegt es hier.
bb) Der Verschuldensgrad der groben Fahrlässigkeit ist in § 290 InsO
nicht definiert. Die Rechtsprechung versteht unter grober Fahrlässigkeit ein
Handeln, bei dem die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem
Maße verletzt wurde, wenn ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt
oder beiseite geschoben wurden und dasjenige unbeachtet geblieben ist, was
im gegebenen Fall sich jedem aufgedrängt hätte. Bei der groben Fahrlässigkeit
handelt es sich um eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtver-
letzung (BGHZ 10, 12, 16; 89, 153, 161; BGH, Urt. v. 8. Oktober 1991, aaO; v.
29. September 1992, aaO; v. 13. Dezember 2004 - II ZR 17/03, NJW 2005,
981, 982; ebenso etwa MünchKomm-InsO/Stephan, § 290 Rn. 45).
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Dem Schuldner ist mit dem Eröffnungsbeschluss ein - nicht bei den Ak-
ten befindliches - "Merkblatt zur Wohlverhaltensperiode" zugestellt worden. Zum
Inhalt des Merkblatts stellt das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 5. Juli
2004 fest:
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"Darin wird der Schuldner darauf hingewiesen, dass er über einen
Zeitraum von sechs Jahren gerechnet ab dem Zeitpunkt der Eröff-
nung des Insolvenzverfahrens bestimmte Pflichten (Obliegenhei-
ten) zu erfüllen hat. Danach werden die in § 295 InsO geregelten
Pflichten aufgeführt, u.a. die Verpflichtung, von Todes wegen er-
worbenes Vermögen zur Hälfte des Wertes an den Treuhänder
herauszugeben."
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Nach dem eindeutigen Inhalt des Merkblatts sollen die in § 295 InsO ge-
nannten Obliegenheiten des Schuldners mit dem Zeitpunkt der Eröffnung des
Insolvenzverfahrens einsetzen. Die Verpflichtung, Vermögen, das der Schuld-
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ner von Todes wegen erwirbt, (nur) zur Hälfte des Werts an den Treuhänder
herauszugeben, wird ausdrücklich mit Bezug auf diesen Zeitpunkt erwähnt. Aus
den weiteren Ausführungen des Amtsgerichts ergibt sich zudem, dass das
Merkblatt zu § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO mit dem Hinweis schließt, der Schuldner
könne die andere Hälfte (der Erbschaft) behalten. Wenn der Schuldner danach
-wie er unwiderlegt geltend macht - der Auffassung war, er könne einen Betrag,
der weit unter der Hälfte des Werts der im Erbgang erworbenen Guthabenforde-
rung liegt, abheben und für sich verbrauchen, dann rechtfertigt dies nicht den
Schluss, er habe hierbei schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen
nicht angestellt und das nicht beachtet, was im gegebenen Fall Jedermann ein-
leuchten müsste.
Entgegen der Auffassung des Landgerichts war der Schuldner auch nicht
verpflichtet, bei dem Treuhänder oder dem Insolvenzgericht nachzufragen. Er
durfte vielmehr davon ausgehen, dass das ihm vom Insolvenzgericht zugestell-
te Merkblatt die für ihn maßgebliche Rechtslage in einer für nicht juristisch vor-
gebildete Personen klaren und eindeutigen Weise erläutert. Allein dies ent-
spricht dem Zweck eines die Gesetzeslage erklärenden, dem Bürger als Verhal-
tensmaßregel an die Hand gegebenen Merkblattes. Das Landgericht stellt nicht
fest, dass dessen Fassung beim Schuldner Zweifel an "seiner irrigen
Rechtsauffassung" hätte wecken müssen.
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3. Weitere Umstände, die die Anwendung des vom Landgericht ange-
nommenen Versagungsgrundes nach § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO tragen könnten,
sind dem angefochtenen Beschluss nicht zu entnehmen. Die Vorinstanz lässt
ausdrücklich dahinstehen, ob eine Benachrichtigung des Treuhänders mit
Schreiben vom 28. August 2003 noch rechtzeitig war. Dies kann auf der Grund-
lage des bisherigen Sach- und Streitstandes nicht verneint werden: Die Be-
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hauptung des Schuldners, dieses Schreiben an den Treuhänder, der den Zu-
gang bestreitet, gesandt zu haben, ist in den Tatsacheninstanzen nicht wider-
legt worden. In seiner Beschwerdebegründung hat sich der Schuldner darauf
berufen, die Wohnungseinrichtung, deren Wert er auf ca. 40.000 € geschätzt
habe, alsbald nach dem Tod des Vaters an den Sohn der vorverstorbenen Le-
bensgefährtin herausgegeben zu haben. Mit der sofortigen Beschwerde hat er
weiter geltend gemacht, erst am 26. August 2003 bei einem Gespräch mit der
Sparkasse G. von dem Guthaben erfahren zu haben. Die materielle
Feststellungslast für das Vorliegen des von ihm behaupteten Versagungsgrun-
des trägt der Gläubiger, hier also die Beteiligte zu 1 (vgl. BGHZ 156, 139, 147;
BGH, Beschl. v. 21. Juli 2005 - IX ZB 80/04, WM 2005, 1858, 1859). Danach
könnte von einer verspäteten Benachrichtigung des Treuhänders nicht ausge-
gangen werden. Allerdings ist die Gläubigerin zu dem Beschwerdevorbringen
des Schuldners, soweit ersichtlich, nicht angehört worden.
4. Weitere, in § 290 Abs. 1 InsO aufgeführte Versagungsgründe hat die
Beteiligte zu 1 nicht ausdrücklich geltend gemacht. Soweit ihr Vorbringen auch
nach § 290 Abs. 1 Nr. 4 InsO zu würdigen sein sollte, fehlte es jedenfalls am
subjektiven Tatbestand.
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5. Mit der Aufhebung der Versagung der Restschuldbefreiung entfällt
zugleich die Grundlage für die Aufhebung der Stundung der Verfahrenskosten
gemäß § 4c Nr. 5 InsO.
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6. Da die Sache mangels einer Anhörung der Gläubigerin zu dem Be-
schwerdevorbringen des Schuldners noch nicht zur Endentscheidung reif ist, ist
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sie gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Be-
schwerdegericht zurückzuverweisen.
Dr. Gero Fischer
Dr. Ganter
Cierniak
Lohmann
Dr. Detlev Fischer
Vorinstanzen:
AG Göttingen, Entscheidung vom 05.07.2004 - 74 IK 36/03 -
LG Göttingen, Entscheidung vom 24.08.2004 - 10 T 94/04 -