Urteil des BGH vom 09.11.2006

BGH (neue tatsache, stgb, unterbringung, sicherungsverwahrung, anordnung, staatsanwaltschaft, strafkammer, sicherheit, vergewaltigung, strafe)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 360/06
vom
9. November 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. November
2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Winkler,
Pfister,
von Lienen,
Hubert
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof in der Verhandlung,
Staatsanwalt bei der Verkündung
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Hannover vom 29. März 2006 im Maßregelaus-
spruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückver-
wiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer
Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, seine Unterbrin-
gung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und die Unterbringung in der Si-
cherungsverwahrung abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft
mit ihrer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten, auf die Rüge der Ver-
letzung sachlichen Rechts gestützten Revision, mit der sie die Verhängung ei-
ner höheren Strafe und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung errei-
chen will. Das Rechtsmittel hat zum Maßregelausspruch Erfolg, zum Strafaus-
spruch ist es unbegründet.
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I. Die Begründung, mit der die Strafkammer eine Unterbringung des An-
geklagten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB abgelehnt
hat, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
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1. Das Landgericht hat die formellen Voraussetzungen dieser Vorschrift
bejaht und ausgeführt, der Erfolg der angeordneten Unterbringung in einer Ent-
ziehungsanstalt zur Behandlung der Alkoholkrankheit des Angeklagten sei hin-
reichend wahrscheinlich, um seinem Hang zur Begehung gefährlicher Straftaten
ausreichend zu begegnen. Das insoweit erforderliche hohe Maß an prognosti-
scher Sicherheit sei eingeschränkt durch die Möglichkeit, zum Schutz der All-
gemeinheit die Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b StGB nachträglich anzu-
ordnen, weil eine Therapieunwilligkeit als "neue Tatsache" im Sinne dieser Vor-
schrift zu bewerten sei. Wenn die Wahrscheinlichkeit bestehe, dass eine Unter-
bringung in einer Entziehungsanstalt Erfolg haben könne, sei es unverhältnis-
mäßig (§ 72 StGB), die Sicherungsverwahrung zusätzlich anzuordnen.
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2. Diesen Erwägungen liegt ein rechtlich nicht zutreffendes Verständnis
von dem Verhältnis zwischen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
(§ 64 StGB) und der Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB) zugrunde. Die
nachträgliche Sicherungsverwahrung ist solchen Fällen vorbehalten, in denen
erstmalig nach der Verurteilung und vor Ende des Strafvollzugs "neue Tatsa-
chen" erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten
hinweisen (vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 10, 12). Tatsachen sind nur dann neu,
wenn sie das Ausgangsgericht auch bei pflichtgemäßer Wahrnehmung seiner
Aufklärungspflicht nicht hätte erkennen können (vgl. BGHSt 50, 121, 125 f.,
180, 187; 275, 278). Eine "neue Tatsache" liegt demgegenüber nicht vor, wenn
sich die Gefährlichkeit des Betroffenen ausschließlich als Folge der - zum Zeit-
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punkt der Verurteilung bereits bekannten - unbewältigten Suchtproblematik dar-
stellt. In einem solchen Fall muss bereits das über die Anlasstat befindende Ge-
richt geeignete Maßnahmen zum Schutz der Allgemeinheit ergreifen, etwa ne-
ben der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die Sicherungsverwahrung
vorbehalten (§ 66 a StGB) oder sogar anordnen (§ 66, § 72 Abs. 2 StGB). Das
Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung im Hinblick auf die Un-
terbringung in einer Entziehungsanstalt setzt ein hohes Maß an prognostischer
Sicherheit voraus, dass mit der Unterbringung die vom Angeklagten ausgehen-
de Gefahr beseitigt werden kann. Wird die Erwartung des Gerichts durch in der
Suchterkrankung begründete und damit dem Gericht grundsätzlich erkennbare
Umstände enttäuscht, so kann das Instrument der nachträglichen Anordnung
der Sicherungsverwahrung nicht als Korrektiv der unrichtigen Prognose heran-
gezogen werden (vgl. BVerfG StV 2006, 574, 577). So liegt es hier.
II. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen der Unterbringung in
einer Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung führt der dargestell-
te Rechtsfehler zur Aufhebung des gesamten Maßregelausspruchs. Der Straf-
ausspruch kann bestehen bleiben. Unter den hier gegebenen Umständen ist
auszuschließen, dass ihn die noch zu treffenden Entscheidungen über die
Maßregeln beeinflussen können. Der Strafausspruch weist weder zu Gunsten
noch zu Lasten des Angeklagten einen durchgreifenden Rechtsfehler auf.
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Entgegen der Meinung der Staatsanwaltschaft musste sich das Landge-
richt bei der gebotenen Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Umstände
nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob eine Milderung des in § 177 Abs. 2
StGB vorgegebenen Strafrahmens gemäß § 21, § 49 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB
deshalb zu versagen ist, weil die erhebliche Verminderung seiner Steuerungs-
fähigkeit auf verschuldeter Trunkenheit beruht (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrah-
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menverschiebung 31). Denn nach den Feststellungen leidet er an einer Alko-
holkrankheit, die aufgrund eines ihn weitgehend beherrschenden Hanges seine
Fähigkeit erheblich einschränkt, der Versuchung zum übermäßigen Alkoholkon-
sum zu widerstehen. Unter diesen Umständen kann ihm die Alkoholisierung
nicht als ein die Schuld erhöhender Umstand angelastet werden (vgl. BGHR
StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 31, 33 und 38).
Bei der konkreten Strafzumessung hat die Strafkammer zwar rechtsfeh-
lerhaft berücksichtigt, dass der seit 1996 in Deutschland lebende Angeklagte als
Ausländer besonders strafempfindlich sei. Die Ausländereigenschaft als solche
führt nicht bereits zu einer strafmildernd zu berücksichtigenden besonderen
Strafempfindlichkeit; dies ist allenfalls beim Vorliegen - hier nicht festgestellter -
besonderer Umstände wie mangelnder Vertrautheit mit der deutschen Sprache
und Kultur oder fehlenden familiären Kontaktmöglichkeiten der Fall (vgl. BGHSt
43, 233, 234; Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 46 Rdn. 43). Der Senat kann
jedoch ausschließen, dass das Landgericht ohne diese rechtsfehlerhafte Erwä-
gung eine höhere Freiheitsstrafe ausgesprochen hätte. Es hat die Ausländerei-
genschaft des Angeklagten nach einer ausführlichen Begründung der tat- und
schuldangemessenen Strafe nur beiläufig und ergänzend erwähnt und ihr im
Hinblick auf die zuvor erörterten Strafzumessungsgründe ersichtlich keine we-
sentliche Bedeutung beigemessen.
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III. Der neue Tatrichter wird genauer als bisher darzulegen haben, ob der
Angeklagte einen Hang hat, erhebliche Straftaten zu begehen, und er deshalb
für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 66 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB). Die knap-
pen Ausführungen in dem angefochtenen Urteil lassen die erforderliche Ge-
samtwürdigung des Angeklagten und seiner Taten vermissen und belegen die
materiellen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung
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nicht. Weiterhin sind zusätzliche Feststellungen zur Persönlichkeit und den Le-
bensumständen des Angeklagten erforderlich, um eine ausreichende Tatsa-
chengrundlage für die Beurteilung zu haben, ob die Unterbringung in einer Ent-
ziehungsanstalt Aussicht auf Erfolg hat.
Tolksdorf Winkler Pfister
von Lienen Hubert