Urteil des BGH vom 10.06.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 182/08
vom
10. Juni 2009
in dem Verfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Brüssel IIa-VO (EuEheVO) Artt. 2 Nr. 4, 20 Abs. 1, 21 ff.
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird folgende Frage zur
Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 234 EGV zur Vorabentschei-
dung vorgelegt:
Sind die Vorschriften der Artt. 21 ff. der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des
Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Ent-
scheidungen in Ehesachen und im Verfahren betreffend die elterliche Verant-
wortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (Brüssel IIa-
Verordnung = EuEheVO) über die Anerkennung und Vollstreckung von Ent-
scheidungen anderer Mitgliedstaaten nach Art. 2 Nr. 4 EuEheVO auch auf voll-
streckbare einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts i.S. von Art.
20 der Brüssel IIa-Verordnung anwendbar?
BGH, Beschluss vom 10. Juni 2009 - XII ZB 182/08 - OLG Stuttgart
AG Stuttgart
- 2 -
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 10. Juni 2009 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Hahne, die Richter Prof. Dr. Wagenitz und Fuchs, die
Richterin Dr. Vézina und den Richter Dose
beschlossen:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird fol-
gende Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß
Art. 234 EGV zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Vorschriften der Artt. 21 ff. der Verordnung (EG)
Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Aner-
kennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen
und im Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und
zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (EuEheVO
= Brüssel IIa-Verordnung) über die Anerkennung und Voll-
streckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten nach
Art. 2 Nr. 4 EuEheVO auch auf vollstreckbare einstweilige
Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts i.S. von Art. 20
Brüssel IIa-Verordnung anwendbar?
- 3 -
Gründe:
I.
1
Die Parteien streiten um die Vollstreckbarkeit einer einstweiligen Maß-
nahme eines spanischen Gerichts zum Aufenthaltsbestimmungsrecht und zur
Kindesherausgabe in Deutschland.
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Mitte 2005 zog die Antragsgegnerin zu dem Antragsteller nach Spanien,
wo beide dann in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebten. Nach einer kom-
plizierten Schwangerschaft wurden am 31. Mai 2006 die Zwillingskinder der
Parteien als Frühgeburten geboren. Der Sohn Merlin konnte das Krankenhaus
im September 2006 verlassen. Die Tochter Samira konnte nach zwischenzeit-
lich eingetretenen Komplikationen erst im März 2007 entlassen werden.
Zuvor hatte sich das Verhältnis der Parteien deutlich verschlechtert. Die
Antragsgegnerin wollte mit ihren Kindern nach Deutschland zurückkehren, wäh-
rend der Antragsteller damit zunächst nicht einverstanden war. Am 30. Januar
2007 schlossen die Parteien eine notarielle Vereinbarung, wonach die Antrags-
gegnerin mit den Kindern nach Deutschland zurückkehren durfte und dem An-
tragsteller ein Umgangsrecht mit den Kindern zustehen sollte. Die Antragsgeg-
nerin beabsichtigte sodann gemeinsam mit ihrem (aus einer früheren Bezie-
hung hervorgegangen) Sohn D. und den beiden gemeinsamen Kindern nach
Deutschland zurückzukehren. Als notwendige Begleitpersonen für den Flug der
Kleinkinder waren die Antragsgegnerin einerseits und der Bruder des An-
tragstellers andererseits vorgesehen.
3
Als die gemeinsame Tochter Samira wegen eingetretener Komplikatio-
nen und eines notwendigen chirurgischen Eingriffs nicht aus dem Krankenhaus
entlassen werden konnte, reiste die Antragsgegnerin am 2. Februar 2007 mit
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- 4 -
dem gemeinsamen Sohn Merlin nach Deutschland. Nach ihrem Vortrag sollte
die Tochter Samira nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ebenfalls nach
Deutschland gebracht werden.
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Der Antragssteller, der sich in der Folgezeit nicht mehr an die notarielle
Vereinbarung gebunden fühlte, leitete im Juni 2007 in Spanien ein einstweiliges
Sorgerechtsverfahren ein. In diesem Verfahren erließ das spanische Gericht
erster Instanz in San Lorenzo De El Escorial am 8. November 2007 die hier re-
levante einstweilige Maßnahme mit folgendem Inhalt:
"Als dringende und sofortige einstweilige Maßnahme wird in Ent-
scheidung des Antrags von G. V. P. gegen Frau
B. P. vorsorglich beschlossen:
1. Die Übertragung des gemeinsamen Sorgerechts für die beiden
Kinder Samira und Merlin V. P. an den Vater G.
V. P. ; die elterliche Gewalt verbleibt bei beiden El-
ternteilen.
Zur Ausführung dieser Verfügung muss die Mutter den minder-
jährigen Sohn Merlin seinem in Spanien ansässigen Vater zu-
rückgeben. Es sind geeignete Maßnahmen zu treffen, die es der
Mutter ermöglichen, mit dem Jungen zu reisen und Samira und
Merlin zu besuchen, wann immer sie es wünscht, bzw. ist ihr ei-
ne Wohnung zur Verfügung zu stellen, die der familiäre Treff-
punkt sein kann oder von dem Verwandten oder der dritten Ver-
trauensperson gestellt werden kann, die bei den Besuchen wäh-
rend der ganzen Zeit, die die Mutter mit den Kindern verbringt,
anwesend sein muss, oder die väterliche Wohnung sein kann,
falls beide Parteien dies vereinbaren sollten.
2. Verbot, ohne vorherige gerichtliche Genehmigung mit den bei-
den Kindern das spanische Hoheitsgebiet zu verlassen.
3. Verbleib der Reisepässe der beiden Kinder in der Gewalt des
Elternteils, der das Sorgerecht ausübt.
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4. Unterstellung sämtlicher Wohnungswechsel der beiden Kinder
Samira und Merlin unter vorheriger richterlicher Genehmigung.
5. Die Festsetzung einer Unterhaltspflicht zu Lasten der Mutter er-
folgt nicht.
Es erfolgt keine Kostenverurteilung.
Dieser Beschluss ist bei Eröffnung eines Hauptverfahrens in die
entsprechende Verfahrensakte aufzunehmen.
Dieser Beschluss ist in der gesetzlichen Form und unter Hinweis
auf seine Unanfechtbarkeit den Parteien und der Staatsanwalt-
schaft zuzustellen."
Nach der Bescheinigung des spanischen Gerichts gemäß Art. 39 Abs. 1
der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und im Ver-
fahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verord-
nung (EG) Nr. 1347/2000 (EuEheVO; im Folgenden Brüssel IIa-Verordnung) ist
die einstweilige Maßnahme nach spanischem Recht vollstreckbar.
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Schon vor der Entscheidung des spanischen Gerichts hatte die Antrags-
gegnerin am 20. September 2007 in einem Hauptsacheverfahren vor dem
Amtsgericht Albstadt beantragt, ihr das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen
Kinder zu übertragen. Das Sorgerechtsverfahren war vom 19. März bis zum
28. Mai 2008 nach Art. 16 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtli-
chen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (im Fol-
genden HKÜ) ausgesetzt und wurde sodann gemäß § 13 IntFamRVG an das
Amtsgericht Stuttgart abgegeben. Das Amtsgericht Stuttgart hat den Erlass ei-
ner neuen einstweiligen Anordnung über das Sorgerecht für die beiden gemein-
samen Kinder abgelehnt. In der Hauptsache hat es noch nicht entschieden,
sondern Bedenken gegen seine internationale Zuständigkeit geäußert. Es be-
7
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absichtigt eine Aussetzung des Sorgerechtsverfahrens nach Art. 19 Abs. 2
Brüssel IIa-Verordnung im Hinblick auf ein in Spanien anhängiges Hauptsache-
verfahren zur Übertragung der elterlichen Sorge.
8
Im vorliegenden Verfahren hatte der Antragsteller zunächst u.a. Heraus-
gabe des gemeinsamen Kindes Merlin verlangt und nur vorsorglich die Voll-
streckbarerklärung der spanischen Entscheidung beantragt. Später hat er die
Vollstreckbarkeitserklärung vorrangig weiterbetrieben. Entsprechend haben das
Amtsgericht und das Oberlandesgericht die Entscheidung des spanischen Ge-
richts mit der Vollstreckungsklausel versehen und ein Ordnungsgeld gegen die
Antragsgegnerin angedroht. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die
Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin, mit der sie nach wie vor Abweisung
des Antrags auf Vollstreckbarerklärung begehrt.
II.
1. Das Beschwerdegericht hat in der angefochtenen Entscheidung im
Wesentlichen ausgeführt:
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Gründe, die einer Vollstreckbarkeit der Entscheidung des spanischen
Gerichts entgegenstünden, seien nicht ersichtlich. Zwar handele es sich um
eine einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts. Die Brüssel IIa-
Verordnung unterscheide im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten in Art. 2 Nr. 4 aber nicht nach der Ent-
scheidungsform, sondern fordere lediglich eine "gerichtliche Entscheidung".
Auch wenn die gemeinsamen Kinder nicht von dem spanischen Gericht ange-
hört worden seien, verletze dies keine wesentlichen verfahrensrechtlichen
Grundsätze des deutschen Rechts, zumal die Kinder im Zeitpunkt der Ent-
10
- 7 -
scheidung erst eineinhalb Jahre alt gewesen seien. Soweit die Antragsgegnerin
wegen einer verspäteten Einleitung des Hauptsacheverfahrens die Vollstreck-
barkeit der spanischen Entscheidung in Zweifel stelle, stehe dem die Beschei-
nigung des spanischen Gerichts nach Art. 39 der Brüssel IIa-Verordnung ent-
gegen. Auch Versagungsgründe nach Art. 23 der Brüssel IIa-Verordnung lägen
nicht vor. Insbesondere sei kein Verstoß gegen den deutschen ordre public er-
sichtlich; das rechtliche Gehör der Antragsgegnerin sei durch ihre Ladung zum
Termin gewahrt gewesen. Dass sie den Termin nicht persönlich wahrgenom-
men, sondern sich lediglich anwaltlich habe vertreten lassen, beruhe auf ihrer
eigenen Entscheidung. Eine Sachprüfung des in Spanien entschiedenen Sorge-
rechtsverfahrens sei dem Gericht im Anerkennungs- und Vollstreckungsverfah-
ren verwehrt.
2. Die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin greift die Entscheidung
des Oberlandesgerichts mit der Begründung an, die Anerkennung und Vollstre-
ckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten erfasse nach Art. 2 Nr. 4
Brüssel IIa-Verordnung nicht einstweilige Maßnahmen i.S. von Art. 20 Brüssel
IIa-Verordnung, weil diese nicht als "Entscheidungen über die elterliche Ver-
antwortung" zu qualifizieren seien.
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Dafür spreche schon der Erwägungsgrund 16 der Verordnung, wonach
die vorliegende Verordnung die staatlichen Gerichte nicht an einstweiligen Maß-
nahmen hindere. Einstweilige Maßnahmen, die nach Art. 20 der Brüssel IIa-
Verordnung ungeachtet der Bestimmungen der Verordnung zulässig seien, sei-
en vom Regelungsumfang der Verordnung deswegen nicht umfasst.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Rs. 125/79 -
Denilauler = IPRax 1981, 95) seien die Vorschriften des Brüsseler EWG-
Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung ge-
13
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richtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September
1968 in der Fassung des 4. Beitrittsübereinkommens vom 29. November 1996
(im Folgenden EuGVÜ) zwar grundsätzlich auch auf einstweilige Maßnahmen
anwendbar; dies gelte aber nicht für einstweilige oder auf eine Sicherung ge-
richtete Maßnahmen, die ohne Ladung der Gegenpartei ergangen seien oder
die ohne vorherige Zustellung vollstreckt werden sollen. Dies gelte nach Auffas-
sung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 21. Dezember 2006 - IX ZB
150/05 - NJW-RR 2007, 1573) in gleicher Weise für die Artt. 32, 34 Abs. 2 der
Verordnung EG Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handels-
sachen (EuGVVO; im Folgenden Brüssel I-Verordnung).
Zwar könne diese Rechtsprechung nicht unmittelbar auf den vorliegen-
den Fall übertragen werden, weil die Brüssel I-Verordnung lediglich auf Zivil-
und Handelssachen anwendbar sei, während Ehe- und Kindschaftssachen al-
lein dem Anwendungsbereich der Brüssel IIa-Verordnung unterlägen. Der Beg-
riff "Entscheidung" in Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung sei im Hinblick auf die
Rechtsprechung des EuGH aber unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck
dieser Verordnung auszulegen. Die Zielsetzung der Verordnung bilde eine
Grenze für eine Auslegung, so dass eine teleologische Auslegung erforderlich
sei.
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Nach dem Erwägungsgrund Nr. 19 der Verordnung komme der Anhö-
rung des betroffenen Kindes eine wichtige Rolle zu, die durch die Anhörung der
Eltern nicht ersetzt werden könne. Es sei deswegen geboten, einstweilige Maß-
nahmen aufgrund ihrer Vorläufigkeit von der erleichterten Anerkennung und
Vollstreckung nach der Brüssel IIa-Verordnung auszunehmen und die Verord-
nung einer Vollstreckung von Hauptsacheentscheidungen vorzubehalten.
15
- 9 -
Schließlich verstoße die spanische Entscheidung auch gegen den deutschen
ordre public.
III.
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1. Die Rechtsbeschwerde ist nach Art. 34 Brüssel IIa-Verordnung i.V.m.
§ 28 IntFamRVG und § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch zulässig,
weil die Rechtsfrage, ob die Vorschriften der Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung
über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitglied-
staaten nach Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung auch für einstweilige Maß-
nahmen i.S. von Art. 20 Brüssel IIa-Verordnung oder nur für Entscheidungen in
der Hauptsache gelten, in der Literatur umstritten und in der Rechtsprechung
noch nicht abschließend geklärt ist.
2. Auch in der Sache ist die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde
von dieser Rechtsfrage abhängig. In der Literatur werden insoweit Rechtsauf-
fassungen vertreten, die vom vollständigen Ausschluss einstweiliger Maßnah-
men bis hin zur umfassenden Einbeziehung solcher Entscheidungen in den
Anwendungsbereich der Brüssel IIa-Verordnung reichen.
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a) Teilweise werden - gestützt auf den Wortlaut - einstweilige Maßnah-
men im Sinne des Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung grundsätzlich von dem
Anwendungsbereich der Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung
nach den Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung ausgenommen. Art. 20 der Brüssel
IIa-Verordnung, der in dringenden Fällen ungeachtet der weiteren Bestimmun-
gen der Verordnung einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnah-
men nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats zulässt, wird von den
Vertretern dieser Auffassung als reine Zuständigkeitsregelung eingestuft. Dafür
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könnte auch die Entscheidung des EuGH vom 2. April 2009 sprechen, wonach
einstweilige Maßnahmen im Sinne von Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung vorü-
bergehender Art sein müssen und sich deren Durchführung und Bindungswir-
kung nach nationalem Recht bestimmt (EuGH - Rs. C-523/07 - FamRZ 2009,
843 Tz. 46 ff.).
19
Zwar seien einstweilige Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung
des EuGH vom Regelungsgehalt des EuGVÜ (Art. 24 EuGVÜ) und der seit dem
1. März 2002 geltenden Brüssel I-Verordnung (Art. 31 Brüssel I-Verordnung)
erfasst, wobei lediglich die ungeschriebenen Einschränkungen zu beachten
seien, die der Europäische Gerichtshof für die Vollstreckung solcher einstweili-
ger Maßnahmen vorsehe. Nur Maßnahmen, die ohne vorherige Anhörung des
Verfahrensgegners - also nicht in einem kontradiktorischen Verfahren - erlassen
seien, blieben von der Anerkennung nach diesen Vorschriften ausgeklammert.
Auf den ersten Blick entspreche die Rechtslage für einstweilige Maßnahmen im
Rahmen der Brüssel IIa-Verordnung zwar derjenigen nach der Brüssel I-Verord-
nung. Indem Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-Verordnung einstweilige Maßnahmen
und Schutzmaßnahmen nach dem Recht eines Mitgliedstaats "in Bezug auf in
diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände" zulasse, er-
schöpfe sich der Wortlaut aber in einer Konkretisierung der realen Verknüpfung
zwischen dem Gegenstand der einstweiligen Maßnahme und der gebietsbezo-
genen Zuständigkeit des Erlassstaates, die der Europäische Gerichtshof auch
für Art. 24 der Brüssel I-Verordnung fordere. Aus dem Wortlaut der Artt. 2 Nr. 4
und 20 Abs. 1 der Brüssel IIa-Verordnung folge, dass der Geltungsbereich der
Verordnung - anders als der nach Art. 25 EuGVÜ und Art. 32 der Brüssel
I-Verordnung - expressis verbis auf Entscheidungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1
Brüssel IIa-Verordnung, mithin auf Entscheidungen in der Hauptsache, be-
schränkt sei (Dilger in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil-
und Handelssachen Nr. 545 Art. 20 Rdn. 23 f.; Dilger Die Regelung zur interna-
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tionalen Zuständigkeit in Ehesachen in der Verordnung [EG] Nr. 2201/2003
Rdn. 312 ff.; Wannenmacher Einstweilige Maßnahmen im Anwendungsbereich
von Art. 31 EuGVVO in Frankreich und Deutschland Seite 16 f.; Zöller/Geimer
ZPO 27. Aufl. Anh. II EG-VO Ehesachen, Verfahren betreffend elterliche Ver-
antwortung Art. 2 Rdn. 8 und Art. 20 Rdn. 13; zur Brüssel II-Verordnung vgl.
Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 63. Aufl. Anh. I § 606 a
[EheGVVO] Art. 13 Rdn. 4; für Österreich Fuchs/Tülk ZfRV 2002, 95, 101 f.).
b)
Teilweise wird der Geltungsbereich des Art.
2 Nr.
4 Brüssel
IIa-Verordnung auf solche vorläufigen Anordnungen ausgedehnt, die ein zu-
ständiges Gericht innerhalb eines Hauptsacheverfahrens erlässt, soweit das
rechtliche Gehör zumindest nachträglich gewährleistet ist. Anders als das
EuGVÜ und die Brüssel I-Verordnung sei die Brüssel IIa-Verordnung nicht auf
ein zweiseitiges Rechtsverhältnis ausgerichtet, sondern diene der Handhabung
von Dreiecksverhältnissen, bei denen einer dritten Person, nämlich dem Kind,
besondere Schutzbedürftigkeit zukomme. Es müsse deswegen sichergestellt
werden, dass rechtliches Gehör überhaupt, gegebenenfalls auch nach Erlass
einer einstweiligen Anordnung im Rahmen einer Rechtsbehelfsmöglichkeit, ge-
währleistet sei. Das entspreche der Rechtsprechung des EuGH (Rs. 166/80
- Klomps/Michel = RIW 1981, 781 f.), wonach auch eine nachträgliche Anhö-
rung zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreiche (Holzmann Brüssel
IIa-VO: Elterliche Verantwortung und internationale Kindesentführung S. 228 ff.;
AnwK-BGB/Andrae Anh. I zum III. Abschnitt EGBGB Art. 21 Rdn. 5; Hüßtege in:
Thomas/Putzo/Hüßtege ZPO 29.
Aufl. EuEheVO Art. 21 Rdn. 3; Saen-
ger/Dörner Hk-ZPO 2. Aufl. EheGVVO Art. 2 Rdn. 5 und Helms FamRZ 2001,
257, 260 zur Brüssel II-Verordnung).
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c) Wieder andere Stimmen beschränken die Geltung der Brüssel
IIa-Verordnung auf einstweilige Maßnahmen, die - ggf. in einem kontradiktori-
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schen Verfahren - nach Gewährung rechtlichen Gehörs erlassen worden sind.
Eine bloße Nachholung rechtlichen Gehörs könne einstweilige Maßnahmen
ohne vorherige Anhörung nicht dem Anerkennungssystem der Brüssel
IIa-Verordnung unterziehen. Der Grundfehler der Verordnung, die Übernahme
der für kontradiktorische Verfahren konzipierten Instrumente für Sorgerechtssa-
chen statt der Übernahme des ausgewogenen Systems des Haager Überein-
kommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung,
könne nicht zum Anlass genommen werden, den Anwendungsbereich der Ver-
ordnung zu Lasten des ausgewogenen Systems auszudehnen (Rauscher Eu-
ropäisches Zivilprozessrecht 2. Aufl. Brüssel IIa-VO Art. 2 Rdn. 15, Art. 20
Rdn. 18 und Art. 21 Rdn. 2; vgl. auch OLG Schleswig FamRZ 2008, 1761,
1762).
d) Schließlich wird auch eine umfassende Einbeziehung einstweiliger
Maßnahmen in das System der Brüssel IIa-Verordnung zur Anerkennung und
Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen befürwortet. Teilweise werden
einstweilige Maßnahmen nach Art. 20 Brüssel IIa-Verordnung als Entscheidun-
gen im Sinne des Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung angesehen, für die die
Vorschriften der Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung über die Anerkennung und
Vollstreckung gelten (Staudinger/ Spellenberg BGB IntVerfREhe [2005] EheG-
VO Art. 20 Rdn. 51 und Art. 21 Rdn. 32; AnwK/Gruber BGB Anh. I zum
III. Abschnitt EGBGB Art. 20 Rdn. 12). Teilweise wird von den Vertretern dieser
Auffassung sogar vorgebracht, dass einstweilige Maßnahmen im Sinne des
Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung zwar nicht von der Definition in Art. 2 Nr. 4
Brüssel IIa-Verordnung erfasst seien. Gleichwohl seien für solche Maßnahmen
die Vorschriften der Artt. 21 ff. über die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten anwendbar (MünchKomm/Gottwald
ZPO 3. Aufl. Bd. 3 EheGVO Art. 20 Rdn. 10).
22
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3. Der durch eine Auslegung der Art. 2 Nr. 4, 20, 21 ff. Brüssel
IIa-Verordnung zu ermittelnde Anwendungsbereich der Brüssel IIa-Verordnung
lässt sich danach nicht eindeutig bestimmen.
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24
Folgt man der unter III 2 a dargestellten Auffassung, könnte die einstwei-
lige Maßnahme des spanischen Gerichts nicht nach den Artt. 21 ff. Brüs-
sel IIa-Verordnung für vollstreckbar erklärt werden und die Rechtsbeschwerde
hätte Erfolg.
Folgt man hingegen den unter III 2 b und c dargestellten Auffassungen,
hängt der Erfolg der Rechtsbeschwerde davon ab, ob der Antragsgegnerin im
Verfahren der einstweiligen Maßnahme ausreichendes rechtliches Gehör ge-
währt worden ist. Dafür spricht allerdings, dass sie zu der mündlichen Verhand-
lung geladen war und die Kinder ein Alter hatten, in dem von einer Anhörung
keine weiteren Erkenntnisse erwartet werden konnten (vgl. unten 4 c).
25
Nur auf der Grundlage der unter III 2 d dargestellten Auffassung wären
die Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung zweifelsfrei auf die einstweilige Maßnah-
me des spanischen Gerichts anwendbar. Die Rechtsbeschwerde hätte dann
- vorbehaltlich der weiteren Ausführungen zur Erheblichkeit - keinen Erfolg.
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4. Die Auslegungsfrage ist für die Entscheidung des Rechtsstreits auch
erheblich. Wenn die Vorschriften der Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung auch für
einstweilige Maßnahmen im Sinne des Art. 20 dieser Verordnung gelten, haben
die Instanzgerichte den spanischen Sorgerechtsbeschluss zu Recht mit einer
Vollstreckungsklausel versehen. Denn die weiteren Einwände der Antragsgeg-
nerin gegen die angefochtene Entscheidung überzeugen nicht. Insbesondere
verletzt die einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts nicht den deut-
schen ordre public (Artt. 23, 31 Abs. 2 Brüssel IIa-Verordnung).
27
- 14 -
a) Wenngleich das deutsche materielle Recht eine Übertragung der elter-
lichen Sorge auf einen nichtehelichen Vater nur mit Zustimmung der Mutter vor-
sieht, widerspricht das spanische Recht, das auch für nichteheliche Kinder von
einem gemeinsamen Sorgerecht der Eltern ausgeht, nicht dem deutschen ordre
public. Auch das deutsche Recht sieht die Möglichkeit der Übertragung des
Sorgerechts auf den nichtehelichen Vater vor (§ 1626 a Abs. 1 BGB; vgl. auch
Senatsbeschluss vom 26. September 2007 - XII ZB 229/06 - FamRZ 2007,
1969). Zwar ist die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater von einer Zu-
stimmung der Mutter abhängig. Indem das Bundesverfassungsgericht diese
Regelung für verfassungsgemäß erachtet hat (BVerfG, FamRZ 2003, 285), hat
es sie jedoch nicht als einzige verfassungsrechtlich zulässige Regelungsmög-
lichkeit bezeichnet. Vielmehr hat es dem Gesetzgeber aufgegeben, die Entwick-
lung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Umstände zu beachten. Aus
diesem Grund hat das Bundesministerium der Justiz jüngst ein Forschungsvor-
haben zum Thema "gemeinsames Sorgerecht nicht miteinander verheirateter
Eltern" in Auftrag gegeben.
28
b) Auch soweit das spanische Gericht seiner einstweiligen Maßnahme
den Vortrag des Antragstellers zugrunde gelegt hat, kann dies keine Gründe
gegen eine Anerkennung der Entscheidung gemäß Art. 23 der Brüssel
IIa-Verordnung rechtfertigen. Denn die Antragsgegnerin war zu der Verhand-
lung geladen und dabei auch anwaltlich vertreten. Sie hätte rechtzeitig vor Er-
lass der einstweiligen Maßnahme abweichend vortragen können. Ihr neuer Vor-
trag im Vollstreckbarkeitsverfahren führt nicht zu einem Verfahrensverstoß
durch das spanische Gericht im Ausgangsverfahren i.S. von Art. 23 der Brüssel
IIa-Verordnung.
29
c) Zu Recht weist das Beschwerdegericht schließlich darauf hin, dass die
fehlende Anhörung des gemeinsamen Kindes nicht zu einem erheblichen Ver-
30
- 15 -
fahrensverstoß führt. Zwar liegt ein solcher Verstoß nach Art. 23 Ziff. b der
Brüssel IIa-Verordnung dann vor, wenn die Entscheidung - ausgenommen in
dringenden Fällen - ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte,
gehört zu werden, und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des
Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden. Das
Kind war hier im Zeitpunkt der Entscheidung allerdings erst knapp eineinhalb
Jahre alt und hätte sich zur Übertragung des Sorge- und Aufenthaltsbestim-
mungsrechts ohnehin noch nicht äußern können. Eine Anhörung des Kindes
wäre deswegen auch im Rahmen eines Sorgerechtsverfahrens in Deutschland
unterblieben.
5. Für die Beantwortung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage be-
darf es einer Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über
die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur
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Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, die nach Art. 234 EGV dem
Europäischen Gerichtshof obliegt.
Hahne Wagenitz Fuchs
Vézina Dose
Vorinstanzen:
AG Stuttgart, Entscheidung vom 03.07.2008 - 20 F 835/08 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 22.09.2008 - 17 WF 211/08 -