Urteil des BGH vom 19.03.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 511/13
vom
19. März 2014
in der Familiensache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 580 Nr. 8; EGZPO § 35; FamFG § 48 Abs. 2; BGB § 1685 Abs. 2;
MRK Art. 46
Auf ein Umgangsrechtsverfahren, das vor dem 31. Dezember 2006 formell rechts-
kräftig abgeschlossen worden ist, ist § 580 Nr. 8 ZPO in Verbindung mit § 48 Abs. 2
FamFG nicht anzuwenden (§ 35 EGZPO), so dass eine später ergangene Entschei-
dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Wiederaufnahme eines
solchen Verfahrens nicht zu begründen vermag (im Anschluss an BAG MDR 2013,
726).
BGH, Beschluss vom 19. März 2014 - XII ZB 511/13 - OLG Frankfurt am Main
AG Fulda
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. März 2014 durch den
Vorsitzenden Richter Dose, die Richterin Weber-Monecke und die Richter
Schilling, Dr. Nedden-Boeger und Guhling
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegner wird der Beschluss
des 2. Familiensenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt
am Main vom 22. August 2013 aufgehoben.
Der Antrag auf Wiederaufnahme des Umgangsrechtsverfahrens
wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens werden dem An-
tragsteller auferlegt.
Beschwerdewert: 3.000
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt Umgang mit dem im Jahr 2004 geborenen
Sohn der Antragsgegner.
Der Antragsteller und die verheiratete Antragsgegnerin unterhielten von
Mai 2002 bis Oktober 2003 eine außereheliche Beziehung. Im Juni 2003 wurde
die Antragsgegnerin schwanger; im Dezember 2003 zog sie nach England zu
ihrem Ehemann (im Folgenden: Beteiligter zu 3). Im März 2004 wurde ihr Sohn
Francis in England geboren.
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Der Antragsteller hat mit der Behauptung, er sei der biologische Vater
des Kindes, im August 2004 in Deutschland ein Umgangsrechtsverfahren an-
hängig gemacht. Nachdem die Beteiligten keine Einwände gegen die internati-
onale Zuständigkeit der deutschen Gerichte erhoben hatten, hat das Amtsge-
richt u.a. den Antrag auf Regelung des Umgangs mit dem - die deutsche
Staatsangehörigkeit innehabenden - Kind zurückgewiesen. Die Beschwerde
des Antragstellers hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 9. Februar
2006 zurückgewiesen und auf die damalige Gesetzeslage (§ 1685 Abs. 2 BGB)
verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat die hiergegen gerichtete Verfas-
sungsbeschwerde mit Beschluss vom 20. September 2006 nicht zur Entschei-
dung angenommen (BVerfG FamRZ 2006, 1661). Auf die Individualbeschwerde
des Antragstellers hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Ur-
teil vom 15. September 2011 festgestellt, dass Art. 8 EMRK verletzt sei. Er hat
Deutschland zur Zahlung von 5.000
€ für immateriellen Schaden zuzüglich
10.000
€ für Kosten und Auslagen an den Antragsteller verurteilt (EGMR
FamRZ 2011, 1715). Das Beschwerdegericht hat dem hierauf vom Antragsteller
gestellten Restitutionsantrag mit einem Zwischenbeschluss stattgegeben, sei-
nen Beschluss vom 9. Februar 2006 aufgehoben und das Verfahren wieder
aufgenommen. Hiergegen wenden sich die Antragsgegner mit der zugelasse-
nen Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefoch-
tenen Entscheidung und zur Zurückweisung des Restitutionsantrags des An-
tragstellers.
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1. Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung, die in juris veröffent-
licht ist, wie folgt begründet:
Der zulässige Restitutionsantrag sei statthaft, weil der Antragsteller das
Vorliegen eines Restitutionsgrundes nach § 580 Nr. 8 ZPO schlüssig behauptet
habe. Zwar sei diese Norm gemäß § 35 EGZPO auf Verfahren, die vor dem
31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden seien, seinem Wort-
laut nach nicht anzuwenden. Das Gesetz stelle insoweit - jedenfalls im unmit-
telbaren Anwendungsbereich der Zivilprozessordnung - auf den Zeitpunkt ab,
zu dem die Entscheidung im Ausgangsverfahren formelle Rechtskraft erlangt
habe. Dies gelte jedoch nicht für Kindschaftssachen, wenn und soweit Deutsch-
land ansonsten seiner völkerrechtlichen Verpflichtung, die Konventionsbestim-
mungen in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden, nicht nachkommen
könne. So liege der Fall hier, weshalb der Anwendungsbereich des § 35 EG-
ZPO im Rahmen der Gesetzesauslegung nach Sinn und Zweck der Vorschrift
im Wege der teleologischen Reduktion einzuschränken sei.
Allerdings führe die Wortlautauslegung zu der Annahme, dass der ge-
nannte Stichtag (31. Dezember 2006) auf das inländische Ausgangsverfahren
zu beziehen sei und nicht auf das sich gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK erst nach
Eintritt der Rechtskraft anschließende Verfahren der Individualbeschwerde vor
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch eine systematische
Auslegung des § 35 EGZPO spreche dafür, hinsichtlich des Stichtags auf das
wiederaufzunehmende Ausgangsverfahren abzustellen. Entsprechendes gelte
für den Willen des Gesetzgebers. Nach den Gesetzesmaterialien sei klar, dass
der Gesetzgeber mit dem "Verfahren" im Sinne des § 35 EGZPO das Aus-
gangsverfahren gemeint habe. Ein anderes Auslegungsergebnis lasse sich
auch nicht daraus herleiten, dass § 580 Nr. 8 ZPO vorliegend nicht unmittelbar
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gelte, sondern nur über die Verweisung in § 48 Abs. 2 FamFG zur Anwendung
gelange.
Diese Auslegung entspreche jedoch in Kindschaftssachen nicht Sinn und
Zweck des Gesetzes, die darin bestünden, einerseits mit der Ergänzung des
§ 580 ZPO im Interesse derjenigen Parteien, deren Rechte aus der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention nach den Feststellungen des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt worden seien, einen spezifischen
Wiederaufnahmegrund vorzusehen, andererseits aber auch das grundsätzlich
schutzwürdige Interesse derjenigen Partei im Auge zu behalten, die als Gegner
im Ausgangsverfahren in die Rechtskraft der nationalen Entscheidung vertraue.
Denn Beschlüsse in Kindschaftssachen mit Dauerwirkung erwüchsen nicht in
materielle Rechtskraft, sondern seien unter den Voraussetzungen der §§ 166
Abs. 1 FamFG, 1696 BGB abänderbar. Daher sei in Kindschaftssachen für den
Einwand der Rechtskraft grundsätzlich kein Raum. Vielmehr habe die Fürsorge
gegenüber den Minderjährigen stets Vorrang vor der Endgültigkeit einer einmal
getroffenen Entscheidung. Aus diesem Grund erscheine im vorliegenden Fall
lediglich der durch die Entscheidung vom 9. Februar 2006 in seinen Rechten
verletzte Antragsteller schutzbedürftig, der allerdings ohne Wiederaufnahme
des Ausgangsverfahrens mangels internationaler Zuständigkeit der deutschen
Gerichte im Inland kein neues erstinstanzliches Abänderungsverfahren an-
strengen könne, während die Antragsgegner durch die genannte Entscheidung
nach dem System des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in
den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ohnehin keine schutzwür-
dige Rechtsposition erlangt hätten, zumal Änderungen der Rechtsprechung und
der Gesetzeslage Abänderungsgründe im Sinne des § 1696 BGB seien. Für
diese Sachlage liege demnach, ausgehend von der in der Gesetzesbegründung
niedergelegten gesetzgeberischen Absicht, eine planwidrige Regelungslücke
vor, die eine teleologische Reduktion des § 35 EGZPO rechtfertige.
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Diese sei erforderlich, weil Deutschland völkerrechtlich gemäß Art. 46
Abs. 1 EMRK verpflichtet sei, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befol-
gen. Die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs erstrecke sich
auf alle staatlichen Organe und verpflichte diese grundsätzlich, im Rahmen ih-
rer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht
einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventions-
gemäßen Zustand herzustellen. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stün-
den die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle im
Rang eines Bundesgesetzes, was dazu führe, dass deutsche Gerichte die Kon-
vention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch ver-
tretbarer Auslegung des nationalen Rechts zu beachten und anzuwenden hät-
ten.
2. Dies hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
a) Im Ansatz zutreffend hat das Beschwerdegericht darauf abgestellt,
dass § 35 EGZPO nach seiner auf den Wortlaut, die systematische Stellung
und den Willen des Gesetzgebers bezogenen Auslegung die Wiederaufnahme
eines bereits vor Ablauf des Jahres 2006 formell rechtskräftig abgeschlossenen
Verfahrens ausschließt (im Ergebnis ebenso BAG MDR 2013, 726; BVerwG
NVwZ 2010, 652 Rn. 17; Thomas/Putzo/Reichold ZPO 34. Aufl. § 580 Rn. 23
und Thomas/Putzo/Hüßtege ZPO 34. Aufl. § 35 EGZPO Rn. 1; Zöller/Heßler
ZPO 30. Aufl. § 35 EGZPO Rn. 2).
aa) Gemäß § 580 Nr. 8 ZPO in der seit dem 31. Dezember 2006 gelten-
den Fassung (vom 22. Dezember 2006, BGBl. I S. 3416) findet die Restituti-
onsklage statt, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine
Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser
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Verletzung beruht. Nach § 35 EGZPO ist § 580 Nr. 8 ZPO auf Verfahren, die
vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, nicht
anzuwenden. Gemäß § 48 Abs. 2 FamFG gilt § 580 Nr. 8 ZPO in Verbindung
mit § 35 EGZPO ebenso für Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, mithin
auch für Umgangsrechtsverfahren (s. auch BT-Drucks. 16/3038 S. 39). Auch
wenn Umgangsrechtsentscheidungen wegen der jederzeitigen Abänderbarkeit
nicht in materielle Rechtskraft erwachsen (vgl. Senatsbeschluss vom 1. Februar
2012 - XII ZB 188/11 - FamRZ 2012, 533 Rn. 22), sind sie gleichwohl der for-
mellen Rechtskraft fähig.
bb) Die in § 35 EGZPO enthaltene Stichtagsregelung stellt nach ihrem
Wortlaut auf den Zeitpunkt ab, zu dem das Verfahren "rechtskräftig" abge-
schlossen ist. Mangels entgegenstehender Hinweise ist davon auszugehen,
dass der Begriff der "Rechtskraft" im Einführungsgesetz zur Zivilprozessord-
nung einheitlich gebraucht wird, weshalb § 19 EGZPO gilt. "Ordentliche
Rechtsmittel" im Sinne dieser Norm stellen weder die Verfassungsbeschwerde
noch die Individualbeschwerde im Sinne des Art. 34 EMRK dar. Durch diese
besonderen Rechtsbehelfe zum Schutz der Grundrechte und individueller Men-
schenrechte wird die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung nicht ge-
hemmt, der rechtskräftige Abschluss des Verfahrens also nicht verzögert. Die
Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung ist vielmehr grundsätzlich Zuläs-
sigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde und der Individualbe-
schwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (BAG MDR
2013, 726 Rn. 22 mwN). Das Verfahren vor dem Gerichtshof stellt sich zudem
nicht als Fortsetzung des innerstaatlichen Verfahrens dar; die Individualbe-
schwerde richtet sich nicht gegen die im Zivilprozess obsiegende Partei, son-
dern gegen die Bundesrepublik Deutschland. Schließlich verwendet die Europä-
ische Menschenrechtskonvention nicht den Begriff der "Rechtskraft", sondern
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spricht von der "endgültigen" Entscheidung, wenn es um den Abschluss des
Verfahrens vor dem Gerichtshof geht (BAG MDR 2013, 726 Rn. 22 mwN).
cc) Für die Anknüpfung an die formelle Rechtskraft des Ausgangsrechts-
streits sprechen überdies systematische Erwägungen. Der Begriff "Verfahren"
wird sowohl in der Überschrift des 4. Buchs der Zivilprozessordnung als auch in
der Grundnorm des § 578 Abs. 1 ZPO verwandt, nach der die Wiederaufnahme
eines durch "rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahrens" durch Nich-
tigkeitsklage oder durch Restitutionsklage erfolgen kann. Beide Klagen sind auf
die Überwindung der Rechtskraft des Ausgangsverfahrens gerichtet (BAG MDR
2013, 726 Rn. 23).
dd) Zu Recht hat das Beschwerdegericht insoweit auch auf den Willen
des Gesetzgebers verwiesen. In der Gesetzesbegründung zu § 35 EGZPO
heißt es unter Hinweis auf § 578 Abs. 1 ZPO ausdrücklich, die Übergangsrege-
lung stelle sicher, dass eine Anwendung des neuen Restitutionsgrundes nach
§ 580 Nr. 8 ZPO erst für diejenigen Entscheidungen in Betracht komme, die
nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung rechtskräftig abgeschlossen
würden. Ohne diese Regelung bestünde die Gefahr einer unzulässigen rückwir-
kenden Anwendung der Neuregelung. Ein Gesetz, das rückwirkend einen neu-
en Restitutionsgrund normiere, greife in einen abgeschlossenen Sachverhalt
ein. Eine solche echte Rückwirkung sei aber grundsätzlich unzulässig (BT-
Drucks. 16/3038 S. 36). Mit dem Verweis auf § 578 ZPO in der Gesetzesbe-
gründung hat der Gesetzgeber mithin erkennbar den Willen zum Ausdruck ge-
bracht, mit der Stichtagsregelung an die Rechtskraft des Ausgangsrechtsstreits
und nicht an die Beendigung des Beschwerdeverfahrens vor dem Gerichtshof
anzuknüpfen (BAG MDR 2013, 726 Rn. 23).
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b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts steht dem vorste-
hend gefundenen Auslegungsergebnis für Kindschaftssachen Sinn und Zweck
der Norm nicht entgegen; einer teleologischen Reduktion des § 35 EGZPO be-
darf es daher nicht.
Weder die Europäische Menschenrechtskonvention und die hierzu er-
gangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
noch die Besonderheiten des vorliegenden Umgangsrechtsverfahrens als ein
"Kindschaftsverfahren mit Dauerwirkung" gebieten es, den Restitutionsgrund
des § 580 Nr. 8 ZPO auch auf Verfahren anzuwenden, die im Zeitpunkt seiner
Einführung bereits formell rechtskräftig abgeschlossen waren.
aa) Der Gesetzgeber war schon im Ausgangspunkt weder durch die Vor-
gaben der Europäischen Konvention für Menschenrechte noch durch die hierzu
ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrech-
te zur Einführung des Restitutionsgrundes des § 580 Nr. 8 ZPO verpflichtet
(BVerfG NJW 2013, 3714, 3715; BT-Drucks. 16/3038 S. 39). Ist die Möglichkeit
zur Restitution aber nicht zwingend, ist es dem deutschen Gesetzgeber nicht
verwehrt, den Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 ZPO nur für solche Verfahren
zu eröffnen, die nach Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung, also nach dem
31. Dezember 2006, rechtskräftig abgeschlossen werden.
Auch wenn sich die Vertragsparteien der Europäischen Menschen-
rechtskonvention nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichten, in allen Rechtssa-
chen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Europäischen Ge-
richtshof für Menschenrechte zu befolgen, ändert dies nichts daran, dass die
Beseitigung einer Konventionsverletzung grundsätzlich den Vertragsparteien
überlassen bleibt, die dieser Pflicht im Rahmen des nach der innerstaatlichen
Rechtsordnung Möglichen nachzukommen haben.
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Demgemäß haben die Gerichte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, nur
insoweit zu berücksichtigen, als sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise er-
neut über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne Gesetzesverstoß
Rechnung tragen können (BVerfG FamRZ 2004, 1857, 1858 f.; vgl. auch OLG
Bremen OLGR 2006, 464, 465). Folgerichtig hat die Rechtsbeschwerde gegen
die angefochtene Entscheidung eingewandt, dass das geltende Verfahrens-
recht, hier der § 35 EGZPO, der vom Antragsteller begehrten Restitution entge-
genstehe.
bb) Zu Recht wendet die Rechtsbeschwerde zudem ein, dass auch die
Besonderheiten des hier gegenständlichen Umgangsrechtsverfahrens als Kind-
schaftssache mit Dauerwirkung keine von den vorstehenden Grundsätzen ab-
weichende Beurteilung erfordert.
In Umgangsrechts- ebenso wie in Sorgerechtsverfahren ist für den Ein-
wand der rechtskräftig entschiedenen Sache kein Raum. § 1696 Abs. 1 BGB
enthält eine materiell-rechtliche Änderungsbefugnis, die nicht nur der Anpas-
sung der getroffenen Regelung an eine Änderung der für die Entscheidung
maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse dient, sondern auch eine Berücksich-
tigung solcher Tatsachen erlaubt, die bei der Entscheidungsfindung zwar schon
vorlagen, dem Gericht aber nicht bekannt waren (BVerfG FamRZ 2005, 783,
784 f.; siehe auch OLG Bremen OLGR 2006, 464, 466).
Der hieraus vom Beschwerdegericht gezogene Schluss, wonach der in
einer Kindschaftssache obsiegende Beteiligte wegen der möglichen Abänder-
barkeit der Entscheidung mangels eines entsprechenden Vertrauens in die ma-
terielle Rechtskraft nicht schutzbedürftig sei, wohingegen der Antragsteller we-
gen des mittlerweile eingetretenen Verlustes der internationalen Zuständigkeit
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besonders schutzbedürftig sei, geht fehl. Dieses Argument zeigt vielmehr, dass
in solchen Fällen der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
obsiegende Beteiligte an sich einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne
des § 580 ZPO iVm § 48 Abs. 2 FamFG gar nicht bedarf, um eine menschen-
rechtskonforme Entscheidung für die Zukunft zu erreichen.
(1) Zwar vermag der Antragsteller vor den deutschen Gerichten auf
Grund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls keine Änderung
der Ausgangsentscheidung zu erlangen. Der Grund hierfür liegt indes nicht im
materiellen Recht, sondern allein im Verfahrensrecht. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der
Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zu-
ständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in
Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur
Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (Brüssel II a-VO = EuEheVO)
sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, wozu
gemäß Art. 2 Nr. 7 Brüssel II a-VO auch das Umgangsrecht gehört, die Gerich-
te des Mitgliedstaates zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstel-
lung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, hier also die Gerichte Großbritanni-
ens. Hinsichtlich der Zuständigkeit geht die Brüssel II a-VO nach ihrem Art. 61
dem Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die
Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterli-
chen Verantwortung und Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom
19. Oktober 1996 (ABl. 2003 Nr. L 48 S. 3; BGBl. II 2009 S. 602, 603; 2010,
1527 - Kinderschutzübereinkommen/KSÜ) vor (Senatsbeschluss vom 16. März
2011 - XII ZB 407/10 - FamRZ 2011, 796 Rn. 12). Dass die deutschen Gerichte
demgegenüber in dem rechtskräftig abgeschlossenen Umgangsrechtsverfahren
zuständig waren, obgleich das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt von An-
fang an in England hatte, liegt an einer entsprechenden Vereinbarung der Be-
teiligten i.S.v. Art. 12 Abs. 3 Brüssel II a-VO (vgl. dazu OLG Düsseldorf FamRZ
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2010, 915). Diese Zuständigkeitsvereinbarung beschränkt sich indes auf das
rechtskräftig abgeschlossene Verfahren (vgl. Art. 12 Abs. 2 Buchst. b Brüssel
II a-VO), gilt also nicht auch für ein sich anschließendes Abänderungsverfahren.
(2) Die fehlende Zuständigkeit deutscher Gerichte macht den Antragstel-
ler entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts jedoch nicht besonders
schutzwürdig, zumindest nicht in einem Maße, das eine Auslegung des § 35
EGZPO entgegen dem klaren Wortlaut, seiner systematischen Stellung und
dem Willen des Gesetzgebers rechtfertigen könnte. Die Zuständigkeitsvorschrif-
ten der Brüssel II a-VO, wonach für die Zuständigkeit der gewöhnliche Aufent-
halt des Kindes maßgeblich ist, dienen vor allem der Wahrung des Kindes-
wohls. Dem Kind soll nicht zugemutet werden, in ein anderes Land zu reisen,
um an einer - regelmäßig erforderlichen - gerichtlichen Anhörung teilzunehmen.
Auch im Übrigen erscheint es sachgerecht, alle weiteren Ermittlungen - wie et-
wa die Einholung eines Sachverständigengutachtens - am Aufenthaltsort des
Kindes durchzuführen.
cc) Schließlich wird der Antragsteller durch die Verweisung auf die nun-
mehr zuständigen Gerichte des Vereinigten Königreichs auch nicht rechtlos ge-
stellt. Es bleibt ihm unbenommen, in England einen Umgangsrechtsantrag zu
stellen. Zwar unterliegt das nach Art. 15 Abs. 1 iVm Art. 5 Abs. 1 KSÜ anzu-
wendende englische Recht hinsichtlich des Umgangsrechts des biologischen
Vaters ähnlichen Beschränkungen wie das deutsche (vgl. dazu das Gutachten
des deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht vom 11. März 2010
S. 63 f. - http://www.dijuf.de/tl_files/downloads/2011/DIJuF-Gutachten_Rechts-
vergleich_Umgang_biologischer_Vater_03_2010.pdf - Stand 12. März 2014).
Da aber auch das Vereinigte Königreich Vertragsstaat der Europäischen Men-
schenrechtskonvention ist, wird das angerufene Gericht bei seiner Entschei-
dung Art. 8 EMRK in der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
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gefundenen Auslegung gemäß Art. 46 EMRK ebenso zu berücksichtigen haben
wie ein deutsches Gericht.
3. Gemäß § 74 Abs. 5 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuhe-
ben. Da die Sache zur Endentscheidung reif ist, konnte der Senat selbst ab-
schließend entscheiden, § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG.
Dose Weber-Monecke Schilling
Nedden-Boeger Guhling
Vorinstanzen:
AG Fulda, Entscheidung vom 20.10.2005 - 42 F 141/04 UG -
OLG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 22.08.2013 - 2 UF 23/12 -
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