Urteil des BGH vom 26.11.2003

BGH (stpo, geschlechtsverkehr, freispruch, sommer, gutachten, funktion, anfang, einlassung, verhandlung, sache)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 5/08
vom
20. März 2008
in der Strafsache
gegen
wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. März
2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Prof. Dr. Kuckein,
Richterinnen am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des
Landgerichts Detmold vom 7. September 2007 mit den
Feststellungen aufgehoben.
2.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Anklagevorwurf, "in der
Zeit von Anfang April 2005 bis zum 1. Dezember 2005 in elf Fällen sexuelle
Handlungen an der am 7. Mai 1991 geborenen Selina F., die ihm zur Erziehung
und zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut war, vorgenommen zu ha-
ben", wobei es "auch zum vaginalen Geschlechtsverkehr gekommen" sei, aus
tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Nebenkläge-
rin mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das
Rechtsmittel hat Erfolg.
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1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen war der Ange-
klagte seit dem erfolgreichen Abschluss des Sozialpädagogik-Studiums im April
1999 Erzieher im -Kinderheim in P. . Ab Sommer 2005
wurde er mit der Funktion eines sog. Bezugserziehers für die seinerzeit
14jährige Nebenklägerin Selina F. betraut, die sich bereits seit ihrem 7. Lebens-
jahr in Kinderheimen befand und wegen ihrer Unbeherrschtheit ein "nicht einfa-
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ches" Kind war. Selina F. reagierte auf die Übernahme der Funktion ihres Be-
zugserziehers durch den sehr beliebten Angeklagten mit Freude. Der Angeklag-
te seinerseits empfand diese Aufgabe als echte Herausforderung und investier-
te in die Betreuung von Selina F. derart auffällig viel Zeit, dass sich seine Kolle-
gen veranlasst sahen, ihm gegenüber mehr professionelle Distanz zu seinem
Schützling anzumahnen. Des Weiteren teilt das Urteil in tatsächlicher Hinsicht
im Wesentlichen lediglich die Entstehung der von der Nebenklägerin gegenüber
dem Angeklagten erhobenen Anschuldigung, sie "vergewaltigt" zu haben, mit.
Zum Tatvorwurf selbst beschränkt sich das Landgericht vielmehr auf die pau-
schale Mitteilung, der Angeklagte habe von Anfang an abgestritten, die ihm zur
Last gelegten Taten begangen zu haben. Objektive Beweise lägen nicht vor. Er
werde allein durch die Aussage Selinas belastet, die angegeben habe, der An-
geklagte habe ca. 15-mal den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr ausgeführt,
immer in ihrem Hochbett, immer während seines Nachtdienstes - meist am Wo-
chenende; in drei bis vier Fällen habe sie ihn manuell befriedigt. Sodann erör-
tert das Urteil einige Widersprüche in den Aussagen der Nebenklägerin, die die
Jugendschutzkammer als derart gravierend erachtet, dass demgegenüber das
Gutachten der Sachverständigen Dr. U. nicht zu überzeugen vermöge, die zu
dem Ergebnis gelangt sei, dass die Aussage Selinas mit hoher Wahrscheinlich-
keit nur durch die Annahme eines realen Erlebnishintergrundes zu erklären sei.
2. Das angefochtene Urteil wird bereits den formellen Anforderungen, die
nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an ein freisprechendes Urteil
zu stellen sind, nicht gerecht und unterliegt schon deshalb der Aufhebung.
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Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss der Tatrichter zu-
nächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen feststellen, die
er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen
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Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen - zusätzlichen Feststellun-
gen nicht getroffen werden können (st. Rspr.; vgl. BGH NJW 1980, 2423; NStZ
1985, 184; BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 4, 10; BGH, Urteil vom
26. November 2003 - 2 StR 293/03).
Diese gebotene Darstellung der festgestellten Tatsachen enthält das an-
gefochtene Urteil nicht. Schon der Tatvorwurf lässt sich dem Urteil nicht hinrei-
chend deutlich entnehmen, zumal es keinerlei zusammenfassende Darstellung
der Bekundungen der Nebenklägerin und der Einlassung des Angeklagten ent-
hält. Diese war hier umso mehr erforderlich, als Selina bei ihrer ersten Offenba-
rung behauptet hatte, von dem Angeklagten "vergewaltigt" worden zu sein,
während in ihrer jetzigen Aussage ersichtlich von einer Vergewaltigung nicht
mehr die Rede ist. Auch bleibt unklar, worauf die - zudem in der Anklage und
der jetzigen Aussage der Nebenklägerin unterschiedliche - Anzahl der dem An-
geklagten angelasteten sexuellen Übergriffe beruht. Schließlich fällt auch auf,
dass die Anklage von einem Tatzeitraum von April 2005 ausgeht, während nach
den Feststellungen der Angeklagte erst seit dem Sommer 2005 Bezugserzieher
der Nebenklägerin wurde.
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Der Pflicht zur gebotenen geschlossenen Darstellung sowohl der Opfer-
aussage als auch der Einlassung des Angeklagten zu den Tatvorwürfen konnte
sich der Tatrichter auch nicht dadurch entziehen, dass er einige Argumente ge-
gen die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin angeführt hat. Denn die
Widersprüche stellen nur einen Ausschnitt aus der gebotenen, aber fehlenden
Gesamtwürdigung dar. In diesem Zusammenhang hätte es insbesondere auch
einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Sachverständigengutachten
bedurft. Die knappen Ausführungen im angefochtenen Urteil dazu genügen
nicht. Vielmehr muss der Tatrichter, der in einer schwierigen Frage den Rat ei-
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nes Sachverständigen in Anspruch genommen hat und der diese Frage in Wi-
derspruch zu dem Gutachten lösen will, die Darlegungen des Sachverständigen
im Einzelnen wiedergeben, insbesondere dessen Stellungnahme zu den Ge-
sichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (st.
Rspr.; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5 und 9 m.w.N.).
Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer tatrichterlicher Verhandlung
und Entscheidung.
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Tepperwien Maatz Kuckein
Solin-Stojanović Sost-Scheible