Urteil des BGH vom 08.06.2010

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 147/09 Verkündet
am:
8. Juni 2010
Holmes,
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
SGB VII § 106 Abs. 3 Alt. 3
Erleidet ein bei einem Drittunternehmen angestellter Testfahrer vor Beginn sei-
ner Tätigkeit auf dem Versuchsgelände eines Automobilherstellers einen Glatt-
eisunfall, ist eine Haftung nicht wegen des Vorliegens einer gemeinsamen Be-
triebsstätte zwischen dem Geschädigten und Mitarbeitern des Automobilherstel-
lers oder des von ihm beauftragten Winterdienstes ausgeschlossen.
BGH, Urteil vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09 - LG Braunschweig
AG
Wolfsburg
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 8. Juni 2010 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll und
Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der 9. Zivilkammer
des Landgerichts Braunschweig vom 1. April 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger verlangt von der beklagten Aktiengesellschaft, einem Auto-
mobilhersteller, Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz wegen eines
Unfalls, den er auf dem Versuchsgelände der Beklagten erlitten hat.
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Der Kläger ist bei der Firma T. GmbH & Co. KG (im Folgenden T.) ange-
stellt, die durch ihre Mitarbeiter seit etwa 15 Jahren auf dem Versuchsgelände
der Beklagten Testfahrten mit von der Beklagten hergestellten Fahrzeugen
durchführen lässt. Die Testfahrten dienen dazu, die Fahrzeuge technisch zu
überprüfen und zu verbessern und die weitere Entwicklung der Technik zukünf-
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tig herzustellender Fahrzeuge auf der Grundlage der von der Firma T. festge-
stellten Testergebnisse voranzutreiben.
Am 19. Januar 2006 hatte der Kläger seinen PKW vor dem Gelände ab-
gestellt und sich zu Fuß auf das Testgelände begeben, um den Einsatzraum
seiner Arbeitgeberin aufzusuchen. Auf dem Wege dorthin kam er infolge Glatt-
eises zu Fall, wodurch sein rechtes Knie erheblich verletzt wurde. Die für seinen
Beschäftigungsbetrieb zuständige Berufsgenossenschaft hat den Unfall als ei-
nen nach § 8 Abs. 1 SGB VII versicherten Arbeitsunfall anerkannt.
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Die Beklagte hatte den ihr obliegenden Winterdienst (Räum- und Streu-
pflichten) in dem Bereich, in dem der Kläger zu Fall gekommen ist, vertraglich
an die Streithelferin zu 1 delegiert, die ihrerseits den Streithelfer zu 2 mit der
Erfüllung dieser Verpflichtungen beauftragt hatte.
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Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers
wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zuge-
lassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
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Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil in juris veröffent-
licht ist, ist eine Haftung der Beklagten sowohl hinsichtlich eines eigenen Tuns
bzw. Unterlassens als auch hinsichtlich einer Haftung für die Streithelfer als
Verrichtungsgehilfen ausgeschlossen.
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Eine Haftung für eigenes Tun oder Unterlassen sei gemäß § 106 Abs. 3
Alt. 3 SGB VII ausgeschlossen, weil es sich bei dem Versuchsgelände um eine
gemeinsame Betriebsstätte zwischen der Beklagten und dem Kläger handele
und das Haftungsprivileg nicht nur für die Mitarbeiter des Unternehmers, son-
dern auch für den Unternehmer selbst gelte. Die Beklagte träfen als Betreiberin
des Testgeländes bestimmte Verkehrssicherungspflichten, wozu auch die
Streupflicht gehöre. Sie entfalte auf dem Betriebsgelände entsprechende Aktivi-
täten jedenfalls dadurch, dass sie das Gelände kontrolliere und ggf. Subunter-
nehmer zur Beseitigung von Eis und Schnee einsetze. Diese Maßnahmen grif-
fen mit der Tätigkeit des Klägers bewusst und gewollt ineinander.
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Eine Haftung der Beklagten für die mit dem Winterdienst beauftragten
Streithelfer als Verrichtungsgehilfen sei nach den Grundsätzen des gestörten
Gesamtschuldnerausgleichs ausgeschlossen. Die Voraussetzungen des § 106
Abs. 3 Alt. 3 SGB VII seien im Verhältnis zwischen den Streithelfern und dem
Kläger gegeben. Die Streithelfer würden tätig, um dem Kläger ein gefahrloses
Betreten des Betriebsgeländes zu ermöglichen. Auch die Tätigkeit des Klägers
weise einen Bezug zur Tätigkeit der Streithelfer auf, weil der Kläger beim Betre-
ten des Geländes auf Räumarbeiten Rücksicht nehmen müsse und diese nicht
gefährden dürfe. Das dadurch gegebene Haftungsprivileg der Streithelfer kom-
me der Beklagten zu Gute.
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II.
Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand, weil eine - aus seiner Sicht mit Recht nicht näher geprüfte - Haftung der
Beklagten aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht weder wegen des Be-
stehens einer gemeinsamen Betriebsstätte zwischen der Beklagten und dem
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Kläger noch nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses
ausgeschlossen ist.
1. Soweit das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten für eigenes
Tun oder Unterlassen gemäß § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII als ausgeschlossen
ansieht, weil das Haftungsprivileg nicht nur für die Mitarbeiter des Unterneh-
mers, sondern auch für den Unternehmer selbst gelte, entspricht dies bereits im
Ansatz nicht der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Nach gefestigter
Rechtsprechung kommt dieses Haftungsprivileg nur dem versicherten Unter-
nehmer zu Gute, der selbst auf einer gemeinsamen Betriebsstätte eine vorü-
bergehende betriebliche Tätigkeit verrichtet und dabei den Versicherten eines
anderen Unternehmens verletzt (vgl. Senatsurteile BGHZ 148, 209, 212 f.; 148,
214, 216 ff.; 155, 205, 209; 157, 9, 14; 157, 213, 216; 177, 97 Rn. 11; vom
14. Juni 2005 - VI ZR 25/04 - VersR 2005, 1397, 1398). Demnach besteht eine
Haftungsprivilegierung der Beklagten schon deswegen nicht, weil nach dem
festgestellten Sachverhalt die Schädigung des Klägers nicht durch ein selbst
auf der Betriebsstätte tätiges Organ der Beklagten erfolgt ist.
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2. Mithin kommt nur eine Haftungsbefreiung der Beklagten nach den
Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses in Betracht. Eine solche
ist schon deswegen nicht gegeben, weil weder eine gemeinsame Betriebsstätte
zwischen dem Kläger und den mit dem Winterdienst beauftragten Mitarbeitern
der Streithelfer noch eine solche zwischen dem Kläger und Mitarbeitern der Be-
klagten bestanden hat, die möglicherweise den Streithelfer nicht rechtzeitig be-
auftragt haben.
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a) Nach den vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätzen können
in den Fällen, in denen zwischen mehreren Schädigern ein Gesamtschuldver-
hältnis besteht, Ansprüche des Geschädigten gegen einen Gesamtschuldner
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(Zweitschädiger) auf den Betrag beschränkt sein, der auf diesen im Innenver-
hältnis zu dem anderen Gesamtschuldner (Erstschädiger) endgültig entfiele,
wenn die Schadensverteilung nach § 426 BGB nicht durch eine sozialversiche-
rungsrechtliche Haftungsprivilegierung des Erstschädigers gestört wäre (st.
Rspr.: vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 61, 51, 55; 94, 173, 176; 155, 205, 212 ff.;
157, 9, 14; vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05 - VersR 2007, 948 Rn. 19; vom
22. Januar 2008 - VI ZR 17/07 - VersR 2008, 642 Rn. 11). In solchen Fällen hat
der Senat den Zweitschädiger in Höhe des Verantwortungsteils freigestellt, der
auf den Erstschädiger im Innenverhältnis entfiele, wenn man seine Haftungspri-
vilegierung hinweg denkt, wobei unter "Verantwortungsteil" die Zuständigkeit für
die Schadensverhütung und damit der Eigenanteil des betreffenden Schädigers
an der Schadensentstehung zu verstehen ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 110,
114, 119; 155, 205, 213; 157, 9, 14 f.; vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05 - aaO;
vom 22. Januar 2008 - VI ZR 17/07 - aaO). In Anwendung dieser Grundsätze
könnte eine Haftung aus dem Gesichtspunkt des gestörten Gesamtschuldver-
hältnisses nur entfallen, wenn zwischen dem Kläger und den Mitarbeitern der
mit dem Winterdienst beauftragten Firma oder Mitarbeitern der Beklagten eine
gemeinsame Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII bestan-
den hätte.
b) Dies ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht der Fall.
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aa) Der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte erfasst betriebliche Akti-
vitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei
einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich er-
gänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verstän-
digung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgte. Erforderlich ist ein bewusstes
Miteinander im Betriebsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinan-
der bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt.
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Die Tätigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten
aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung
oder Unterstützung ausgerichtet sein (vgl. Senatsurteile BGHZ 145, 331, 336;
155, 205, 207 f.; 157, 213, 216 f.; 177, 97 Rn. 19 m.w.N.). § 106 Abs. 3 Alt. 3
SGB VII ist nicht schon dann anwendbar, wenn zwei Unternehmen auf dersel-
ben Betriebsstätte aufeinander treffen. Eine "gemeinsame" Betriebsstätte ist
nach allgemeinem Verständnis mehr als "dieselbe" Betriebsstätte; das bloße
Zusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen erfüllt den Tatbe-
stand der Norm nicht. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebenein-
ander vollziehen, genügen ebenso wenig wie eine bloße Arbeitsberührung. Er-
forderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten des
Schädigers und des Geschädigten in der konkreten Unfallsituation, die eine
Bewertung als "gemeinsame" Betriebsstätte rechtfertigt (vgl. Senatsurteile vom
23. Januar 2001 - VI ZR 70/00 - VersR 2001, 372, 373; vom 14. September
2004 - VI ZR 32/04 - VersR 2004, 1604 f.).
bb) Nach diesen Grundsätzen haben der Kläger und die Mitarbeiter der
mit dem Winterdienst beauftragten Firma bzw. der Beklagten keine vorüberge-
hende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ausgeübt.
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Im Streitfall lagen in der konkreten Unfallsituation keine betrieblichen Ak-
tivitäten vor, die im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen
oder miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstüt-
zung ausgerichtet waren. Die notwendige Arbeitsverknüpfung kann im Einzelfall
zwar auch dann bestehen, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Un-
ternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich nicht sachlich ergänzen oder
unterstützen, die gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der
räumlichen Nähe aber eine Verständigung über den Arbeitsablauf erfordert und
hierzu konkrete Absprachen getroffen werden, etwa wenn ein zeitliches und
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örtliches Nebeneinander dieser Tätigkeiten nur bei Einhaltung von besonderen
beiderseitigen Vorsichtsmaßnahmen möglich ist und die Beteiligten solche ver-
einbaren (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 152, 7, 9; Senatsurteile BGHZ 177, 97
Rn. 19; vom 8. April 2003 - VI ZR 251/02 - VersR 2003, 904, 905; vom 13. März
2007 - VI ZR 178/05 - aaO Rn. 22). Eine solche Verständigung über ein be-
wusstes Nebeneinander im Arbeitsablauf hat es aber nach den getroffenen
Feststellungen nicht gegeben. Diese war auch bei dem Weg des Klägers zum
Einsatzraum vor Aufnahme der Testfahrten nicht erforderlich, weil hier nicht die
Gefahr bestand, dass sich beide Seiten gegenseitig schädigten. Jedenfalls in
diesem Stadium verrichteten die Mitarbeiter der Streithelfer bzw. der Beklagten
die ihnen im Zusammenhang mit dem Winterdienst obliegenden Tätigkeiten,
ohne dass der Kläger in irgendeiner Weise in den Arbeitsablauf eingebunden,
daran beteiligt oder auch nur davon berührt worden wäre. Er benutzte die Wege
vielmehr nur so, wie jeder betroffene Bürger, der auf den Winterdienst vertraut.
Insofern bestand nicht die für eine gemeinsame Betriebsstätte typische Gefahr,
dass sich die Beteiligten bei den versicherten Tätigkeiten "ablaufbedingt in die
Quere kommen" (vgl. Senatsurteil BGHZ 157, 213, 217 m.w.N.). Zudem fehlte
es an dem erforderlichen wechselseitigen Bezug der betrieblichen Aktivitäten
des Klägers einerseits und der am Winterdienst beteiligten Mitarbeiter anderer-
seits. Zwar erleichterte der Winterdienst das sichere Begehen des Betriebsge-
ländes und diente mithin auch der Sicherheit des Klägers. Dagegen war der
Weg des Klägers zu seinem Arbeitsraum in keiner Weise auf die Tätigkeit des
Winterdienstes bezogen. Es bestand keine so genannte Gefahrengemeinschaft,
auf der der Haftungsausschluss des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ausschließlich
beruht (vgl. Senatsurteil BGHZ 157, 213, 218 m.w.N.). Allein der Kläger war
dem Risiko ausgesetzt, durch einen unzureichenden Winterdienst zu Schaden
zu kommen. Die Gefahr, dass er seinerseits den Mitarbeitern des Winterdiens-
tes einen Schaden zufügte, war wegen des fehlenden Miteinanders im Arbeits-
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ablauf rein theoretischer Natur. Dies reicht nicht aus, um die für eine gemein-
same Betriebsstätte typische Gefahrengemeinschaft anzunehmen.
3. Nach allem ist eine Haftung der Beklagten weder nach § 106 Abs. 3
Alt. 3 SGB VII noch nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldver-
hältnisses ausgeschlossen. Die Sache ist mithin an das Berufungsgericht zu-
rückzuverweisen, um diesem die Prüfung zu ermöglichen, ob und ggf. in wel-
cher Höhe ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte be-
steht. Dabei wird das Berufungsgericht gegebenenfalls auch das Senatsurteil
vom 22. Januar 2008 - VI ZR 126/07 - VersR 2008, 505 zu berücksichtigen ha-
ben.
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Galke Zoll Wellner
Diederichsen Stöhr
Vorinstanzen:
AG Wolfsburg, Entscheidung vom 05.12.2007 - 12 C 336/06 -
LG Braunschweig, Entscheidung vom 01.04.2009 - 9 S 30/08 (22) -