Urteil des BGH vom 19.06.2007

BGH (in dubio pro reo, mehrerlös, marktpreis, überwiegende wahrscheinlichkeit, bundesrepublik deutschland, schätzung, stpo, staatsanwaltschaft, höhe, markt)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
KRB 12/07
vom
19. Juni 2007
in der Kartellbußgeldsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
BGHR: ja
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GWB 1999 § 81 Abs. 2 (vgl. GWB 2005 § 81 Abs. 5)
Der kartellbedingte Mehrerlös ist vorrangig anhand der Preisentwicklung auf
vergleichbaren Märkten zu bestimmen; nur soweit dies nicht möglich erscheint,
kommen abstrakte Berechnungsmethoden in Betracht.
BGH, Beschluss vom 19. Juni 2007 – KRB 12/07 – OLG Düsseldorf
wegen Kartellordnungswidrigkeiten
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Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Juni 2007 ohne mündliche
Verhandlung durch den Präsidenten des Bundesgerichtshofs
Prof. Dr. Hirsch, den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter
Dr. Raum, Prof. Dr. Meier-Beck und Dr. Strohn beschlossen:
1. Auf die Rechtsbeschwerden der Nebenbetroffenen und der
Staatsanwaltschaft wird das Urteil des 1. Kartellsenats des
Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. März 2006 im Rechts-
folgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen nach § 79
Abs. 5 OWiG aufgehoben, soweit es sich gegen die Nebenbe-
troffenen richtet.
2. Die weitergehenden Rechtsbeschwerden der Nebenbetroffenen
werden nach § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO ver-
worfen.
3. Die Rechtsbeschwerden der Betroffenen zu 1, 4, 6, 8, 9 und 10
gegen das vorgenannte Urteil werden nach § 79 Abs. 3 OWiG
i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Die Betroffenen tragen
die Kosten ihrer Rechtsmittel.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die verbliebenen Kosten der
Rechtsmittel, an einen anderen Kartellsenat des Oberlandesge-
richts Düsseldorf zurückverwiesen.
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Gründe:
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Das Oberlandesgericht hat die Betroffenen zu 2 bis 10 wegen vorsätzli-
chen Zuwiderhandelns gegen das Verbot des § 1 GWB, den Betroffenen zu 1
wegen vorsätzlicher Verletzung seiner Aufsichtspflicht schuldig gesprochen.
Gegen die Betroffenen hat es Geldbußen zwischen 250.000 Euro (Betroffener
zu 1) und 6.000 Euro festgesetzt. Gegen die beiden Nebenbetroffenen, die Un-
ternehmen, für welche die Betroffenen tätig wurden, hat das Oberlandesgericht
im Fall der Nebenbetroffenen zu 1 eine aus den Einzelgeldbußen addierte Ge-
samtgeldbuße in Höhe von 5,65 Mio. Euro und gegen die Nebenbetroffene zu 2
eine solche in Höhe von 430.000 Euro verhängt. Das Urteil fechten die Betrof-
fenen zu 1, 4, 6, 8, 9 und 10 sowie die beiden Nebenbetroffenen mit ihren
Rechtsbeschwerden an. Die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht greift
mit ihren zu Ungunsten der beiden Nebenbetroffenen eingelegten Rechtsbe-
schwerden, die vom Generalbundesanwalt vertreten werden, lediglich den
Rechtsfolgenausspruch an. Die Rechtsbeschwerden der Betroffenen sind aus
den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im
Sinne des § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO. Während die Rechts-
beschwerden der Nebenbetroffenen zum Schuldspruch erfolglos bleiben, führen
sie ebenso wie die Rechtsbeschwerden der Staatsanwaltschaft im Rechtsfol-
genausspruch bei den Nebenbetroffenen zu einer Aufhebung der angefochte-
nen Entscheidung.
I.
Die Betroffenen waren in ein flächendeckendes Kartell im Papiergroß-
handel eingebunden, das Mindestpreisabsprachen getroffen hat. Es umfasste
mit Ausnahme der Länder Bayern und Baden-Württemberg das Gebiet der ge-
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samten Bundesrepublik Deutschland. Der Betroffene zu 1 ist Geschäftsführer
der Nebenbetroffenen zu 1. Die Betroffenen zu 2 bis 10 sind Repräsentanten
der Nebenbetroffenen und waren für diese in den Regionalbezirken tätig. Von
den Preisabsprachen betroffen war nur das sogenannte Lagergeschäft, be-
schränkt auf Liefermengen bis drei Tonnen. Nicht erfasst waren dagegen die
Preisabsprachen im Hinblick auf das Streckengeschäft. Im Streckengeschäft
werden von den Papiergroßhändlern in der Regel große Abnahmemengen ver-
äußert, die direkt durch die Papierindustrie an die Abnehmer wie Druckereien
ausgeliefert werden.
Abgesprochen wurde der Mindestverkaufspreis für Bilderdruckpapier zu
100 bis 200 Gramm. Höhere oder niedrigere Mengen sollten mit entsprechen-
den in der Papierindustrie üblichen Zu- und Abschlägen versehen werden. Die
Mindestverkaufspreise galten nicht für freie Kunden, die sich meist als Großab-
nehmer im Streckengeschäft eindeckten und allenfalls Nachfragespitzen über
das Lagergeschäft abwickelten. Eine Sonderstellung nahmen schließlich noch
die geregelten Kunden ein. Darunter ist eine zahlenmäßig sehr kleine Kunden-
gruppe zu verstehen, die sich gegenüber den „normalen“ Kunden durch eine
größere Abnahmemenge, besondere persönliche Beziehungen oder besonders
gute Zahlungsmoral abhoben. Ihnen wurde ein niedrigerer Mindestverkaufs-
preis, der zwischen den Kartellmitgliedern kundenabhängig abgesprochen wur-
de, eingeräumt.
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Die Preisabsprachen wurden in den einzelnen Kartellkreisen in unter-
schiedlichem Maße eingehalten, wobei das Oberlandesgericht keine überregio-
nale Koordination der festgelegten Preise festgestellt hat.
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Nicht einheitlich war auch die Praxis hinsichtlich des Offsetpapiers. Wäh-
rend dieses – ebenso wie Preprint, eine höherwertige Offsetpapiersorte – in
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einigen Regionalkartellen von der Preisabsprache umfasst war, wurde es in
anderen von der Preisabsprache ausgenommen. Hinsichtlich des Selbstdurch-
schreibepapiers (SD-Papier) kam es zwar zu keinen Mindestpreisabsprachen.
In allen Regionalkartellen bestand aber insoweit ein „Nichtangriffspakt“, was
bedeutete, dass die Kartellteilnehmer ihren eigenen Marktanteil hinsichtlich des
SD-Papiers nicht mit Mitteln des Preiswettbewerbs zu Lasten eines kartellge-
bundenen Konkurrenten vergrößern wollten.
Das Oberlandesgericht hat für sämtliche Regionalkartelle kartellbedingte
Mehrerlöse festgestellt. Kartellfreie Vergleichsmärkte hat das Oberlandesgericht
mit der Begründung nicht festgestellt, dass auch hinsichtlich der Märkte Bayern
und Baden-Württemberg der Verdacht von Regionalkartellen bestehe, auch
wenn sie nicht vom Bundeskartellamt in die Bußgeldbescheide einbezogen
worden seien.
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Das Oberlandesgericht hat den Marktpreis, der sich ohne kartellbedingte
Beeinflussung ergeben hätte, auf der Grundlage der Preisunterbietungen ge-
schätzt, die es innerhalb eines jeden Regionalkartells in mehr oder minder star-
ker Ausprägung gegeben hat. Die Preisunterbietungen zeigen nach Auffassung
des Oberlandesgerichts den Rahmen auf, innerhalb dessen sich der Wettbe-
werbspreis mit hoher Wahrscheinlichkeit gebildet hätte. Innerhalb des Preiskor-
ridors der durch Zeugenvernehmungen festgestellten Unterbietungen hat das
Oberlandesgericht einen „gewichteten Mittelwert“ als den Betrag festgelegt, der
den Marktpreis darstellen soll, der ohne kartellrechtswidrige Beeinflussung
durchschnittlich entstanden wäre. Es hat weiter die Quote des im Lagergeschäft
veräußerten Bilderdruckpapiers bzw. Offsetdruckpapiers festgestellt, bei der die
Mindestpreisvereinbarung eingehalten worden ist. Diese Quote hat das Ober-
landesgericht in Bezug zu der Gesamtmenge gesetzt und so die Teilmenge er-
mittelt, die unter die Preisvereinbarung fällt. Diese Menge hat es dann mit ei-
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nem vorher ermittelten Marktpreis multipliziert. Von dem sich so ergebenden
Wert hat es einen Sicherheitsabschlag in Höhe von 5% vorgenommen und da-
mit den kartellbedingten Mehrerlös festgestellt. Das Oberlandesgericht hat auch
die Mengen einbezogen, bei denen der Verkaufspreis oberhalb des Mindest-
verkaufspreises lag, weil diese ebenfalls absprachebeeinflusst seien.
II.
Während die Angriffe der Nebenbetroffenen gegen die Schuldsprüche
ohne Erfolg bleiben, führt die von ihnen wie auch die von der Staatsanwalt-
schaft erhobene Sachrüge zur Aufhebung des Urteils im gesamten Rechtsfol-
genausspruch im Hinblick auf die beiden Nebenbetroffenen.
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1. Das Oberlandesgericht hat den Mehrerlös nicht rechtsfehlerfrei be-
stimmt.
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a) Unter Mehrerlös ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
der Differenzbetrag zwischen den tatsächlichen Einnahmen, die aufgrund des
Wettbewerbsverstoßes erzielt werden, und den Einnahmen zu verstehen, die
das durch die Kartellabsprachen bevorzugte Unternehmen ohne den Wettbe-
werbsverstoß erzielt hätte (BGH, Beschl. v. 25.4.2005 – KRB 22/04, WuW/E
DE-R 1487, 1488 – steuerfreier Mehrerlös; Beschl. v. 24.4.1991 – KRB 5/90,
WuW/E 2718, 2719 – Bußgeldbemessung).
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Der Mehrerlös kann nach § 81 Abs. 2 Satz 2 GWB 1999 geschätzt wer-
den. Eine Schätzung setzt aber voraus, dass tatsächlich ein Mehrerlös entstan-
den ist (BGH, Beschl. v. 28.6.2005 – KRB 2/05, WuW/E DE-R 1567, 1569 –
Berliner Transportbeton I). Dies hat das Oberlandesgericht für sämtliche Regio-
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nalkartelle ohne Rechtsverstoß bejaht. Es hat dies jeweils dem Umstand ent-
nommen, dass in allen Regionalkartellen die Preisabsprachen über einen er-
heblichen Zeitraum praktiziert worden seien. Da keine Anhaltspunkte dafür be-
ständen, dass die Preiskartelle gänzlich wirkungslos gewesen seien, bestehe
im vorliegenden Fall Gewissheit über die Entstehung eines Mehrerlöses. Diese
Beweiswürdigung, die dem vom Bundesgerichtshof aufgestellten beweisrechtli-
chen Grundsätzen (BGH WuW/E DE-R 1567, 1569 ff. – Berliner Transportbe-
ton I) Rechnung trägt, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
b) Die nach § 81 Abs. 2 Satz 2 GWB 1999 eröffnete Schätzungsbefugnis
räumt dem Tatrichter einen erheblichen Ermessensspielraum ein. Er hat selbst
zu entscheiden, welche Schätzungsmethode dem vorgegebenen Ziel, der Wirk-
lichkeit durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen möglichst nahe zu kommen,
am besten gerecht wird. Die Schätzung muss den strafprozessualen Vorgaben
– wie etwa dem Zweifelssatz – genügen. Sie muss schlüssig sein, und ihre Er-
gebnisse müssen darüber hinaus wirtschaftlich vernünftig und möglich sein
(BGH, Beschl. v. 4.2.1992 – 5 StR 655/91, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Steu-
erschätzung 5). Dem wird das Urteil des Beschwerdegerichts nicht gerecht.
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aa) Allerdings ist entgegen der Auffassung des Bundeskartellamts nicht
zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht für die Preisbestimmung die auf
anderen Märkten und mit bestimmten Marktteilnehmern erzielten Preise seiner
Berechnung nicht zugrunde gelegt hat. Im Ansatz zutreffend führt das Bundes-
kartellamt aus, dass die Ermittlung des Mehrerlöses grundsätzlich im Vergleich
zu funktionierenden Märkten erfolgen sollte. Dieser aus § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB
entnommene Rechtsgedanke beruht auf der Erkenntnis, dass sich der unter
realen Marktbedingungen gebildete Preis für die Mehrerlösberechnung jeden-
falls dann als die optimale Berechnungsgrundlage darstellt, wenn die Märkte
ihrer Struktur nach vergleichbar sind. Von dieser Berechnungsmethode ist im
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Übrigen auch der Bundesgerichtshof in zwei früheren Entscheidungen ausge-
gangen (BGH WuW/E DE-R 1487, 1488 – steuerfreier Mehrerlös; BGH WuW/E
DE-R 1567, 1571 – Berliner Transportbeton I).
Das Oberlandesgericht hat eine solche Vergleichbarkeit hier allerdings
rechtsfehlerfrei abgelehnt. Hinsichtlich der Länder Bayern und Baden-
Württemberg ergibt sich dies daraus, dass sich das Oberlandesgericht nicht hat
davon überzeugen können, dass diese Märkte kartellfrei waren. Es hat sich in-
soweit auf die Angaben des Zeugen S. gestützt, der von entsprechen-
den Absprachen auch dort berichtet hat. Selbst wenn – was für einen funktio-
nierenden Markt spricht – dort ein insgesamt niedrigeres Preisniveau ge-
herrscht haben sollte, brauchte das Oberlandesgericht das dortige Preisniveau
nicht als Marktpreis zugrunde zu legen, wenn aus seiner Sicht erhebliche An-
haltspunkte für Preisabsprachen auch in diesen Märkten vorhanden waren.
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Die Nichtberücksichtigung der freien und geregelten Kunden begegnet
aus Rechtsgründen gleichfalls keinen Bedenken. Beide Gruppen weisen Be-
sonderheiten auf, die gegen eine Verallgemeinerungsfähigkeit der dort erzielten
Preise im Sinne eines für die Mehrerlösbestimmung geeigneten hypothetischen
Marktpreises sprechen. Während die freien Kunden große Mengen hauptsäch-
lich im Streckengeschäft abnehmen und nur Nachfragespitzen im Lagerge-
schäft decken, zeichnen sich die geregelten Kunden durch Spezifika wie be-
sondere Bonität oder Zahlungsmoral oder persönliche Beziehungen aus. Beide
weisen damit bedeutsame Unterschiede zu den von der Preisvereinbarung er-
fassten Kunden auf. Ihre Zahl ist überdies nach den Feststellungen des Ober-
landesgerichts gering. Wenn sich das Oberlandesgericht aufgrund dieser Um-
stände gehindert gesehen hat, die zwischen diesen Kundengruppen erzielten
Preise als Vergleichsmaßstab zugrunde zu legen, ist dies vom Rechtsbe-
schwerdegericht hinzunehmen. Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdi-
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gung (§ 261 StPO) ergibt sich nämlich, dass die Schlüsse des Tatrichters nur
möglich, aber keineswegs zwingend zu sein brauchen. Auf eine größere oder
überwiegende Wahrscheinlichkeit kommt es dabei nicht an (BGHSt 26, 56,
62 f.; 29, 18, 20). Dieses vom Oberlandesgericht eingehend begründete Ergeb-
nis ist deshalb vom Rechtsbeschwerdegericht nicht zu beanstanden.
bb) Dagegen begegnet der vom Oberlandesgericht gewählte Begrün-
dungsansatz – entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts – durch-
greifenden Bedenken, weil er wirtschaftlich zu nicht nachvollziehbaren Ergeb-
nissen führt. Das Oberlandesgericht hat die jeweils festgestellten Unterschrei-
tungen des abgesprochenen Kartellpreises als Maßstab für die Bestimmung
eines hypothetischen Marktpreises angenommen, wobei es im Hinblick auf die
jeweiligen Preisunterschreitungen einen durchschnittlichen Unterbietungspreis
gebildet hat. Diesen durchschnittlichen Unterbietungspreis als Marktpreis
zugrunde zu legen, ist schon deshalb unzulässig, weil sich auf einem durch ei-
ne Preisabsprache kartellierten Markt kein Marktpreis entwickeln kann. Durch
die Preisabsprache sind die Marktmechanismen außer Kraft gesetzt worden.
Selbst wenn es zu Unterbietungen des abgesprochenen Preises kommt, ist dies
kein Ausdruck eines marktkonformen Wechselspiels zwischen Angebot und
Nachfrage; vielmehr orientieren sich auch die davon abweichenden Preise letzt-
lich an dem ausgehandelten Kartellpreis. Die die Preisbildung bestimmende
Überlegung wird immer nur sein, ob und inwieweit der Konkurrent die abge-
sprochene Preisbindung seinerseits unterbieten wird. Dabei kann aber eine
Preisunterbietung im Einzelfall in ihrer Größenordnung umgekehrt auch darauf
zurückzuführen sein, dass sie aus einem hohen Kartellpreis quasi subventio-
niert wird, um Kunden langfristig an sich zu binden.
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Die Schwäche dieses Preisunterbietungsansatzes liegt darin, dass der
abgesprochene Preis kein Marktpreis ist, sondern einen von den Beteiligten
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festgelegten – im Regelfall sehr auskömmlichen – Preis darstellt. Ebenso wenig
lässt sich nachvollziehen, nach welchen Maßstäben das Oberlandesgericht den
hypothetischen Marktpreis als „gewichteten Durchschnittspreis“ ermittelt hat.
Eine Mittelung der Abweichung hätte nur dann eine Aussagekraft, wenn die
Streuung der Preisabweichungen einem typischen Marktgeschehen entsprä-
che. Da jedoch keine Vergleichsmärkte bestehen, kann auch einer solchen
Durchschnittsbetrachtung keine Aussagekraft im Hinblick auf einen fiktiven
Marktpreis beigemessen werden. Die Abweichungen von den abgesprochenen
Preisen sind – unabhängig, ob es sich um Einzel- oder Durchschnittsabwei-
chungen handelt –, nicht Ausdruck eines markttypischen Geschehens, sondern
allenfalls des Grades an Kartelldisziplin, die auf dem Markt herrscht.
Die wirtschaftliche Fragwürdigkeit dieses Berechnungsansatzes zeigt
auch folgende, von der Staatsanwaltschaft vorgetragene Überlegung. Der kar-
tellbedingte Mehrerlös wäre desto geringer, je höher die Kartelldisziplin ausge-
prägt wäre. Bei hoher Kartelldisziplin weichen die Kartellmitglieder allenfalls
geringfügig von den abgesprochenen Mindestverkaufspreisen ab. Die Folge
wäre, dass nach dem Berechnungsansatz des Oberlandesgerichts der Mehrer-
lös auch sehr niedrig zu berechnen wäre. Tatsächlich dürfte das Gegenteil aber
richtig sein. Wenn der ausgehandelte Mindestverkaufspreis auskömmlich ist,
was nach der Lebenserfahrung naheliegt (vgl. BGH WuW/E DE-R 1567, 1569
– Berliner Transportbeton I), dann spricht zugleich eine hohe Wahrscheinlich-
keit dafür, dass es besonders gewinnbringend ist, das Kartell durchzuhalten.
Die kartellbedingten Mehrerlöse sind deshalb in diesen Fällen nicht besonders
niedrig, sondern tatsächlich eher besonders hoch.
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cc) Bei der Ermittlung eines fiktiven Marktpreises ist die Vergleichs-
marktbetrachtung grundsätzlich die überlegene Schätzungsmethode. Der Tat-
richter wird deshalb nach geeigneten Vergleichsmärkten suchen müssen. Sol-
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che können auch im benachbarten Ausland liegen. Erst wenn sich keine kartell-
freien Vergleichsmärkte feststellen lassen, muss der hypothetische Marktpreis,
der Bezugspunkt für die Berechnung des Mehrerlöses ist, im Wege einer ge-
samtwirtschaftlichen Analyse bestimmt werden. Hierbei wird der Tatrichter –
worauf die Nebenbetroffenen zutreffend hingewiesen haben – regelmäßig
sachverständiger Hilfe bedürfen. Speziell für einen Markt wie den hier betroffe-
nen bietet sich eine solche Form der Berechnung an. Bei den Kartellbeteiligten
handelt es sich um Großhändler. Die vom Hersteller berechneten Preise lassen
sich ebenso feststellen wie die jeweiligen Kostenstrukturen der Nebenbetroffe-
nen. Anhand einer empirisch zu ermittelnden allgemeinen Umsatzrendite, die in
vergleichbaren Branchen mit ähnlichen Marktbedingungen durchschnittlich er-
zielt wird, kann auf einen durchschnittlichen zu erwartenden Marktpreis zurück-
geschlossen werden. Dieser so eher abstrakt gewonnene Marktpreis kann dann
noch dadurch weiter realitätsbezogen bestimmt werden, dass markttypische
Elemente für den Papiergroßhandel einbezogen werden. Solche können neben
besonderen konjunkturellen Einflüssen auch Besonderheiten in der Wettbewer-
berdichte oder in der Struktur der Nachfrager sein.
Dieses Ergebnis kann dann weiter optimiert und gegebenenfalls angegli-
chen werden, indem die so ermittelten Preise mit den intakten Teilmärkten in
Beziehung gesetzt werden. In diesem Sinne können – zumindest in Form einer
Kontrollüberlegung – die mit den geregelten oder freien Kunden erzielten
Durchschnittspreise in die Schätzung einbezogen werden. Dabei müssen frei-
lich die spezifischen Merkmale dieser Kundengruppen berücksichtigt werden.
Auch wenn die Märkte nicht kartellfrei gewesen sein sollten, können signifikant
unterschiedliche Preisstrukturen in Bayern und Baden-Württemberg bei der Be-
stimmung des Marktpreises Beachtung finden. Schließlich können, sofern hier-
über mittlerweile entsprechende Informationen vorliegen sollten, die Preisbe-
wegungen auf den verfahrensgegenständlichen – nach Aufdeckung durch das
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Bundeskartellamt kartellfreien – Märkten trotz des mittlerweile eingetretenen
Zeitablaufs Aussagekraft haben. Sie sind gegebenenfalls in Beziehung zu set-
zen zu einem im Wege der gesamtwirtschaftlichen Analyse abstrakt ermittelten
Marktpreis.
dd) Näherer Aufklärung bedarf in diesem Zusammenhang auch die Fra-
ge, ob hinsichtlich des SD-Papiers ein Mehrerlös entstanden sein kann. Das
Oberlandesgericht hat einen solchen Mehrerlös nicht festzustellen vermocht,
weil diese Papiersorte im Wesentlichen exklusiv vertreten werde, ein Wechsel
des Händlers mit einem Wechsel der Papiersorte verbunden sei und deshalb
Restmengen nicht mehr aufgebraucht werden könnten. Zudem seien auch die
Mengen so gering, dass dieser Gesichtspunkt eine Wechselbereitschaft zusätz-
lich mindere. Diese Erwägungen sind nicht ohne weiteres geeignet, für den Be-
reich des SD-Papiers die Wahrscheinlichkeitsaussage zu entkräften, dass eine
Kartellabsprache deshalb getroffen und aufrecht erhalten wird, weil sie höhere
als am Markt sonst erzielbare Preise erbringt (BGH WuW/E DE-R 1567, 1569
– Berliner Transportbeton I). Unter diesem Gesichtspunkt hätte deshalb der
„Nichtangriffspakt“ hinsichtlich des SD-Papiers überprüft werden müssen. Ob
eine Wechselbereitschaft der Abnehmer bestanden hätte, wenn insoweit ein
Preiswettbewerb geherrscht hätte, hängt entscheidend davon ab, in welchem
Umfang der Preis für das SD-Papier hätte gesenkt werden können. Auch bei
geringen Mengen würde der Abnehmer nämlich dann den Lieferanten wech-
seln, wenn das ihm angebotene Papier deutlich billiger ist, selbst wenn er ge-
wisse Restmengen nicht mehr verwerten kann. Mit sachverständiger Hilfe könn-
te deshalb auch der Frage nachgegangen werden, ob es angesichts der ver-
triebenen Mengen und des spezifischen Nachfrageverhaltens der Abnehmer
vor dem Hintergrund des tatsächlichen Preisniveaus einen nennenswerten
Spielraum für einen Preiswettbewerb gab. Lassen sich solche Spielräume für
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einen Preiswettbewerb feststellen, bilden diese Preisdifferenzen die Grundlage
für die Bestimmung des kartellbedingten Mehrerlöses.
ee) Der Tatrichter wird bei der nochmals umfassend neu vorzunehmen-
den Bestimmung des Mehrerlöses zu beachten haben, dass der auch im Ord-
nungswidrigkeitenrecht anzuwendende Zweifelssatz nicht auf jede Bemes-
sungsgrundlage jeweils gesondert anzuwenden ist. Der Grundsatz „in dubio pro
reo“ ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst
dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht
die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgen-
ausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen ver-
mag (BGH, Urt. v. 27.6.2001 – 3 StR 136/01, NStZ 2001, 609; Urt. v. 29.3.1983
– 1 StR 50/83, NJW 1983, 1865). Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung
ist der Zweifelssatz prinzipiell nicht anzuwenden (BVerfG MDR 1975, 468, 469).
Dies gilt auch für Indiztatsachen, aus denen lediglich ein Schluss auf eine un-
mittelbar entscheidungsrelevante Tatsache gezogen werden kann (vgl. BGHSt
25, 285, 286 f.; 35, 308, 313; 36, 286, 289 ff.). Hierzu zählen die Anknüpfungs-
tatsachen für eine Schätzung, die mit der ihnen zukommenden Ungewissheit in
die Gesamtwürdigung einzustellen sind.
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Der Tatrichter hat deshalb die Schätzungsgrundlagen aufgrund einer
Wahrscheinlichkeitsbetrachtung zu ermitteln und dabei den nach seiner freien
Überzeugung der wirtschaftlichen Situation am nächsten kommenden Ansatz
zu wählen. Dabei ist er aufgrund des Zweifelssatzes nicht gehalten, hinsichtlich
jeder Schätzungsgrundlage jeweils die für den Betroffenen günstigste Variante
zu unterstellen (vgl. BGH, Urt. v. 26.10.1998 – 5 StR 446/97, BGHR AO § 370
Abs. 1 Steuerschätzung 1; Urt. v. 25.2.1987 – 3 StR 552/86, BGHR AO § 370
Abs. 1 Nr. 2 Steuerschätzung 2; Raum in Wabnitz/Janovsky, Handbuch des
Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl., S. 236). Verbliebene Berechnungs-
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unsicherheiten muss der Tatrichter jedoch in einem Sicherheitsabschlag zum
Ausdruck bringen. Dieser hat freilich umso höher auszufallen, je mehr – was
der Tatrichter zu bewerten hat – die einzelnen Berechnungsgrundlagen in ihrer
Gesamtschau mit Unsicherheiten behaftet sind. Durch diesen Sicherheitsab-
schlag wird der Zweifelssatz gewahrt (vgl. BGH WuW/E DE-R 1487, 1488 f.
– steuerfreier Mehrerlös).
2. Die zutreffende Bestimmung des Mehrerlöses ist Voraussetzung für
die Wahl des Bußgeldrahmens. Durch die 7. GWB-Novelle hat der Gesetzgeber
die Bußgeldrahmen geändert. Nach dem nunmehr geltenden Bußgeldrahmen
des § 81 Abs. 4 GWB 2005 kann die Geldbuße über die allgemeine Grenze von
1 Mio. Euro nach Satz 1 hinaus nach Satz 2 auf 10 vom Hundert des Gesamt-
umsatzes des jeweiligen Unternehmens festgesetzt werden. Da nach § 4 Abs. 3
OWiG das mildeste Gesetz anzuwenden ist, sind jeweils die möglichen Buß-
geldhöchstbeträge miteinander zu vergleichen (vgl. Lemke/Mosbacher, OWiG,
2. Aufl., § 4 Rdn. 20). Nach Tatzeitrecht bildet der dreifache Mehrerlös die Buß-
geldobergrenze. Ist dieser Betrag niedriger als 10% des Gesamtumsatzes des
vorausgegangenen Geschäftsjahres, verbleibt es bei dem auch vom Oberlan-
desgericht angewendeten Tatzeitrecht des § 81 Abs. 2 GWB 1999.
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Wendet der neue Tatrichter wiederum den Bußgeldrahmen nach der al-
ten Gesetzesfassung an, wird er zu bedenken haben, dass grundsätzlich der
Mehrerlös auch tatsächlich abzuschöpfen ist. Eine Ausnahme kann allenfalls
dann gelten, wenn eine Abschöpfung durch die Geschädigten bereits erfolgt
oder unmittelbar eingeleitet ist. Ohne eingehende Begründung hierzu hätte das
Oberlandesgericht jedenfalls kein bloßes „Ahndungsbußgeld“ verhängen dürfen
(vgl. BGH WuW/E DE-R 1487, 1489 f. – steuerfreier Mehrerlös).
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Gleiches gilt im Übrigen, falls der neue Tatrichter das Bußgeld aus dem
Rahmen der Neufassung des § 81 Abs. 4 GWB 2005 entnehmen sollte. Auch
hier muss darüber befunden werden, ob der Vorteil (vgl. hierzu Raum in Lan-
gen/Bunte, Kartellrecht, 10. Aufl., § 81 GWB Rdn. 140 ff.) abzuschöpfen ist.
Dies ist im Rahmen der Bußgeldbestimmung durch den Tatrichter zu begrün-
den (Raum in Langen/Bunte aaO; Achenbach in Frankfurter Kommentar zum
GWB, Lfg. 61, § 81 GWB 2005 Rdn. 314 ff.).
3. Die aufgezeigten Mängel in der Bestimmung des Mehrerlöses führen
sowohl auf die Rechtsbeschwerden der Staatsanwaltschaft als auch der Ne-
benbetroffenen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im Rechtsfol-
genausspruch hinsichtlich der beiden Nebenbetroffenen. Es lässt sich nämlich
nicht feststellen, ob sich der unzutreffende Berechnungsansatz zum Vor- oder
Nachteil der Nebenbetroffenen ausgewirkt hat. Da die Rechtsbeschwerden je-
weils mit der Sachrüge Erfolg haben, kommt es auf die Verfahrensbeanstan-
dungen, soweit sie sich lediglich auf die Höhe der Geldbußen auswirken, nicht
mehr an. Die Rechtsbeschwerdeangriffe der Nebenbetroffenen sind im Übrigen
aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet
im Sinne des § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO.
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III.
Die Rechtsbeschwerden der Betroffenen zu 1, 4, 6, 8, 9 und 10 sind
gleichfalls unbegründet im Sinne des § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2
StPO. Ergänzend bemerkt der Senat hierzu lediglich Folgendes:
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Zwar hat das Oberlandesgericht bei der Bemessung der Bußgelder auf
den entstandenen beträchtlichen Schaden der Kunden verwiesen und insoweit
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auf seine Schätzung des Mehrerlöses Bezug genommen. Der Senat schließt
jedoch nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe aus, dass damit
bestimmend auf die rechnerische Höhe des jeweils entstandenen Mehrerlöses
abgestellt werden sollte. Vielmehr wollte das Oberlandesgericht lediglich den
erheblichen Unrechtsgehalt würdigen, der in einem solchen Verhalten zu sehen
ist, das sich zu Lasten der nachgelagerten Wirtschaftsstufen auswirkt. Der
Rechtsfehler bei der Schätzung der Mehrerlöse wirkt sich deshalb nicht auf die
Zumessung der Bußgelder gegen die Betroffenen aus.
Hirsch Bornkamm Raum
Meier-Beck Strohn
Vorinstanz:
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 27.03.2006 - VI-Kart 3/05 (OWi) -