Urteil des BGH vom 21.05.2003
BGH (hauptverhandlung, stpo, beweisaufnahme, verteidiger, abwesenheit, grund, fortsetzung, vergewaltigung, sache, annahme)
5 StR 51/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 21. Mai 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Mai 2003
beschlossen:
Auf  die  Revision  des  Angeklagten  wird  das  Urteil  des
Landgerichts  Hamburg  vom  5. August 2002  nach  § 349
Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die  Sache  wird  zu  neuer  Verhandlung  und  Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Ju-
gendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G  r  ü  n  d  e
Das  Landgericht  hat  den  Angeklagten  wegen  Vergewaltigung  in  Tat-
einheit mit schwerem sexuellen Mißbrauch eines Kindes und versuchter Nö-
tigung  zu  einer Freiheitsstrafe  von  drei Jahren  und  neun Monaten  verurteilt.
Die  Revision  des  Angeklagten  hat  mit  einer  Verfahrensrüge  Erfolg.  Hierzu
hat der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt:
„Die  Rüge  der  Verletzung  von  § 338 Nr. 5  i. V. m.  § 230 StPO  greift
durch.  Das  Landgericht  hat  am  17. Hauptverhandlungstag  ohne  den  Ange-
klagten  weiterverhandelt  und ist  erneut  in  die  Beweisaufnahme  eingetreten,
obwohl die Voraussetzungen von § 231 Abs. 2 StPO nicht vorlagen.
Folgender  Verfahrensablauf  liegt  dem  zu  Grunde:  Bis  zum
16. Hauptverhandlungstag  einschließlich  war  der  auf  freiem  Fuß  befindliche
Angeklagte  jeweils  pünktlich  auf  Ladung  zur  Hauptverhandlung  erschienen.
In  der  Hauptverhandlung  vom  10. Juni 2002  (16. Hauptverhandlungstag)
wurde die Beweisaufnahme geschlossen, die Sitzungsvertreterin der Staats-
anwaltschaft und der Verteidiger des Beschwerdeführers hielten ihre Schluß-
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vorträge.  Daraufhin  hatte  der  Angeklagte  das  letzte  Wort.  Der  Vorsitzende
wies daraufhin alle Prozeßbeteiligten vor dem Protokoll auf den bereits anbe-
raumten  nächsten  Hauptverhandlungstag,  den  21.  Juni  2002,  9.00 Uhr,  hin
(Protokollband Bl. 99). Wegen Terminschwierigkeiten des Verteidigers wurde
der Beginn der Sitzung vom 21. Juni 2002 auf 8.30 Uhr vorverlegt; der Ange-
klagte  erhielt  hiervon  Mitteilung.  Bei  Aufruf  der  Sache  um  8.50 Uhr  war  der
Angeklagte  nicht  erschienen  (Protokollband  Bl. 100).  Infolge  einer  Zugver-
spätung von etwa 30 Minuten war es ihm nicht möglich gewesen, den Ort der
Hauptverhandlung  rechtzeitig  zu  erreichen.  Über  sein  Mobiltelefon  unter-
richtete der Angeklagte das Büro seines Verteidigers, indem er auf den  ein-
geschalteten  Anrufbeantworter  sprach.  Der  Vorsitzende  ordnete  daraufhin
an,  daß  die  Hauptverhandlung  gemäß  § 231 Abs. 2 StPO  in  Abwesenheit
des  Angeklagten  fortzusetzen  sei.  Nach Wiedereintritt  in  die  Beweisaufnah-
me wurde ein Schreiben des Angeklagten an den Vorsitzenden gemäß § 249
Abs. 1 StPO  zu  Beweiszwecken  verlesen.  Der  Verteidiger  stellte  daraufhin
zwei  Beweisanträge  und  machte  hierzu  Ausführungen  (Protokollband
Bl. 101). Um 8.57 Uhr erschien der Angeklagte in der Hauptverhandlung und
erklärte den Grund seiner Verspätung. Die Hauptverhandlung wurde darauf-
hin fortgesetzt,  ohne  diejenigen  Teile  der  Beweisaufnahme  zu  wiederholen,
die in Abwesenheit des Beschwerdeführers stattgefunden hatten.
Danach  hat  die  Hauptverhandlung  vom  21. Juni 2002  in  der  Zeit  von
8.50 Uhr  bis  8.57 Uhr  entgegen  § 338 Nr. 5  i. V. m.  § 230 StPO  ohne  den
Angeklagten stattgefunden. Zu Unrecht hat der Vorsitzende auf der Grundla-
ge  von  § 231 Abs. 2 StPO  die  Fortsetzung  der  Hauptverhandlung  ohne  den
Angeklagten  angeordnet.  Die  Voraussetzungen  dieser  Bestimmung  lagen
nicht vor. Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus setzt eine Fortsetzung ei-
ner unterbrochenen Hauptverhandlung in Fällen des Ausbleibens des Ange-
klagten voraus, daß eine Eigenmächtigkeit des Angeklagten vorliegt und die-
se  ihm  nachgewiesen  werden  kann.  Eigenmächtiges  Fernbleiben  liegt  nur
vor, wenn der Angeklagte wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht nach-
kommt,  ohne  dafür  hinreichende  Rechtfertigungs-  oder  Entschuldigungs-
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gründe  zu  haben  (BGHSt 37,  249;  LR-Gollwitzer,  StPO  25. Aufl.  § 231
Rdn. 14 m. w. N.). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gericht Grund zu
der Annahme hatte, der Angeklagte sei eigenmächtig ferngeblieben, sondern
nur  darauf,  ob  nach  den  objektiven  Gegebenheiten  diese  Eigenmächtigkeit
tatsächlich vorlag und erwiesen ist. Mit Recht ist deshalb zu verlangen,  daß
das  Gericht  dies  so  sorgfältig  zu  prüfen  hat,  daß  eine  nachträgliche  Ent-
schuldigung  ausgeschlossen  erscheint  (LR-Gollwitzer,  aaO  Rdn. 15).  Da-
nach  fehlt es im  vorliegenden  Fall in  der  Person  des  ordnungsgemäß  gela-
denen (vgl. insoweit BGHSt 38, 271, 273) Angeklagten an der Eigenmächtig-
keit des Fernbleibens im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO. Obwohl der Verteidi-
ger des Angeklagten – nach dem insoweit auch durch die dienstliche Äuße-
rung des Vorsitzenden nicht bestrittenen Vortrag – das Gericht darauf hinge-
wiesen hatte, der Angeklagte sei bisher zu allen Hauptverhandlungsterminen
pünktlich erschienen und man müsse bedenken, daß er für seine Anreise auf
öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sei, stellte das Gericht keine weiteren
Nachforschungen  an,  sondern  verhandelte  auf  Grund  der  Anordnung  des
Vorsitzenden gemäß § 231 Abs. 2 StPO ohne den Angeklagten weiter. Nach
Entgegennahme der Erklärung des Angeklagten für seine Verspätung wurde
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der  in  Abwesenheit  des  Angeklagten  durchgeführte  Teil  der  Hauptverhand-
lung  auch  nicht  wiederholt.  Der  von  der  Revision geltend  gemachte  Verfah-
rensverstoß  ist  jedenfalls  auf  dem  Hintergrund  der  dienstlichen  Äußerung
des  Vorsitzenden  der  Strafkammer,  der  dem  Revisionsantrag  insoweit  nicht
entgegengetreten ist, auch bewiesen.“
Schließlich weist der Senat auf die weiteren Ausführungen des Gene-
ralbundesanwalts hin.
Harms          Häger          Gerhardt
Brause          Schaal