Urteil des BGH vom 19.01.2005

BGH (bundesverfassungsgericht, satzung, rente, berechnung, ehemann, rentner, stichtag, zeitpunkt, zukunft, ergebnis)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 312/02
Verkündet am:
19. Januar 2005
Heinekamp
Justizhauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsit-
zenden Richter Terno, die Richter Dr. Schlichting, Seiffert, Wendt und
die Richterin Dr. Kessal-Wulf auf die mündliche Verhandlung vom
19. Januar 2005
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 12. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 22. Juli 2002 wird
auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt im W ege der Feststellungsklage von der Be-
klagten mit Wirkung ab 1. Januar 2001 eine höhere Witwenrente, bei der
die Vordienstzeiten ihres verstorbenen Ehemannes voll angerechnet
werden.
Der am 27. Januar 1927 geborene Ehemann der Klägerin war vom
1. Januar 1973 bis zum Rentenbeginn im Jahre 1984 bei der Beklagten
pflichtversichert. Seit seinem Tod erhält die Klägerin deshalb von der
Beklagten eine Witwenrente. Diese hat vor Ende des Jahres 2000 zu lau-
fen begonnen. Nach § 42 Abs. 2 Satz 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa ihrer
Satzung (im folgenden: VBLS) in der für die Berechnung der Rentenhöhe
maßgebenden Fassung berücksichtigte die Beklagte für den Faktor der
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gesamtversorgungsfähigen Zeit, von dem die Höhe ihrer Zusatzrente ab-
hängt, außer den Umlagemonaten, in denen ein Arbeitgeber des öffentli-
chen Dienstes aufgrund der Beschäftigung des Ehemannes der Klägerin
Umlagezahlungen an die Beklagte geleistet hat, darüber hinaus andere
Zeiten, die (über die Umlagemonate hinaus) der gesetzlichen Rente des
Ehemannes der Klägerin zugrunde zu legen wären, nur zur Hälfte (sog.
Halbanrechnungsgrundsatz). Andererseits war nach der seinerzeit gel-
tenden Satzung bei der Berechnung der Versorgungsrente grundsätzlich
von der vollen Höhe der dem Ehemann der Klägerin zustehenden ge-
setzlichen Rente auszugehen; diese wurde durch die von der Beklagten
gewährte Zusatzversorgung lediglich insoweit aufgestockt, wie die ge-
setzliche Rente hinter der nach der Satzung berechneten Gesamtversor-
gung zurückblieb (§ 40 Abs. 1 VBLS a.F.). Das Bundesverfassungsge-
richt hat in der Halbanrechnung von Vordienstzeiten bei voller Berück-
sichtigung der gesetzlichen Rente einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG
gesehen, der nur bis zum Ablauf des Jahres 2000 hingenommen werden
könne (VersR 2000, 835 = NJW 2000, 3341). Die Klägerin hat daher be-
antragt festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihr ab 1. Januar
2001 eine Witwenrente auf der Grundlage einer auch sämtliche Vor-
dienstzeiten ihres verstorbenen Ehemannes voll berücksichtigenden ge-
samtversorgungsfähigen Zeit zu gewähren, bis eine neue, die Regelung
der Vordienstzeiten ändernde Satzung in Kraft trete.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben; das Oberlandesge-
richt hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Mit der Revisi-
on erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Ur-
teils.
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Entscheidungsgründe:
Die Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Nach Auffassung des Berufungsgerichts gehören Berechtigte,
die - wie die Klägerin - am 31. Dezember 2000 schon Renten von der
Beklagten bezogen haben, nicht zu dem Personenkreis, für den das
Bundesverfassungsgericht die streitige Regelung beanstandet hat.
Selbst wenn man aber annehme, daß auch für diese Gruppe von Renten-
berechtigten die Halbanrechnung unzulässig und die Satzung insoweit
unwirksam sei, könne die Klage keinen Erfolg haben. Denn es stehe eine
Grundentscheidung der beteiligten Sozialpartner in Frage, die jedenfalls
hier nicht vom Gericht im W ege ergänzender Auslegung eines lückenhaft
gewordenen Vertrages geschlossen werden könne. Die Beklagte könne
ihr Grundleistungsangebot nicht selbst gestalten, sondern müsse ein von
den Sozialpartnern ausgehandeltes Ergebnis umsetzen, das notwendig
kompromißhafte Züge trage und deshalb einer Auslegung unter dem Ge-
sichtspunkt der Systemgerechtigkeit kaum zugänglich sei. Die mit der
Klage geforderte zusätzliche Leistung sei, wenn man ihre finanziellen
Auswirkungen auf die Beklagte abschätze, nicht etwa nur als Abrundung
ihres Angebots zu werten, sondern erschüttere die Beklagte in ihrer wirt-
schaftlichen Substanz. Deshalb müsse als mögliche Neuregelung auch in
Betracht gezogen werden, daß Vordienstzeiten bei der Berechnung der
von der Beklagten gezahlten Zusatzrente überhaupt nicht mehr berück-
sichtigt werden könnten.
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Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Beru-
fungsgericht lag der Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung
der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vom 1. März 2002 vor, der
das bisherige Gesamtversorgungssystem der Beklagten durch ein an den
Grundsatz der Betriebstreue anknüpfendes Punktemodell ersetzt; Vor-
dienstzeiten werden - abgesehen vom Bestandsschutz - nicht mehr be-
rücksichtigt (vgl. Gilbert/Hesse, Die Versorgung der Angestellten und Ar-
beiter des öffentlichen Dienstes, 37. Ergl. August 2002 Teil C Anl. 5). Im
Hinblick darauf hat das Berufungsgericht keinen Anlaß gesehen, die Sat-
zung etwa wegen Untätigkeit der Sozialpartner ergänzend auszulegen.
2. Dem ist jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen, wie der Senat be-
reits in seinem Urteil vom 26. November 2003 (IV ZR 186/02 - VersR
2004, 183) entschieden hat.
a) Am 19. September 2002 hat die Beklagte ihre Satzung mit Wir-
kung ab 1. Januar 2001 geändert. Nach der Übergangsregelung in § 75
Abs. 1 und 2 der Neufassung werden - auch für versorgungsrentenbe-
rechtigte Hinterbliebene - die nach bisherigem Satzungsrecht gezahlten
Versorgungsrenten grundsätzlich als Besitzstandsrenten weitergezahlt
und entsprechend § 39 der Neufassung vom Jahr 2002 an jährlich zum
1. Juli um 1% erhöht. Die von der Klägerin geforderte volle Anrechnung
der Vordienstzeiten ist nach wie vor nicht vorgesehen.
b) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom
22. März 2000, auf den sich die Klägerin stützt, die Verfassungsbe-
schwerde einer 1921 geborenen Rentnerin, die seit Anfang 1983 Lei-
stungen von der Beklagten erhielt und im Ausgangsverfahren erfolglos
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deren Erhöhung wegen Unwirksamkeit von Satzungsbestimmungen ver-
langt hatte, nicht zur Entscheidung angenommen. Soweit sich die Be-
schwerdeführerin gegen die volle Berücksichtigung ihrer Sozialversiche-
rungsrente bei der Bestimmung der Höhe der Zusatzversorgung einer-
seits, aber die nur halbe Berücksichtigung von Zeiten vor Aufnahme ihrer
Tätigkeit im öffentlichen Dienst bei der Bemessung der gesamtversor-
gungsfähigen Zeit andererseits gewandt hatte, hat das Bundesverfas-
sungsgericht die Regelung in § 42 Abs. 2 Satz 1 Buchst. a Doppel-
buchst. aa VBLS a.F. zwar im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG beanstandet,
eine Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführerin aber "(noch)
nicht" festgestellt. Die Ungleichbehandlung sei zwar gravierend, halte
sich derzeit jedoch noch im Rahmen einer zulässigen Generalisierung.
Der Satzungsgeber sei wegen der hochkomplizierten Materie zu gewis-
sen Vereinfachungen gezwungen. Dabei dürfe er Ungleichbehandlungen
in Kauf nehmen, solange davon nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von
Personen betroffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht
sehr intensiv sei. Das treffe auf die Rentnergeneration der Beschwerde-
führerin zu, wie das Bundesverfassungsgericht feststellt. Für die jünge-
ren Versichertengenerationen sei ein bruchloser Verlauf der Erwerbsbio-
graphie im öffentlichen Dienst angesichts stark gestiegener Teilzeitarbeit
und einer stärkeren Diskontinuität des Erwerbslebens allerdings nicht
mehr in hinreichender Weise typisch. Angesichts dieser Entwicklung
könne die Benachteiligung der Rentner durch volle Anrechnung der in
Vordienstzeiten erworbenen Rentenansprüche bei nur hälftiger Berück-
sichtigung dieses Teils ihrer Lebensarbeitszeit im Rahmen der Berech-
nung der gesamtversorgungsfähigen Dienstzeit nicht länger als bis zum
Ablauf des Jahres 2000 hingenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt sei
die Beklagte durch die Entscheidung BVerfGE 98, 365 = VersR 1999,
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600 ohnehin zu einer grundlegenden Änderung ihrer Satzung gezwun-
gen.
c) Dieser Beschluß des Bundesverfassungsgerichts mag bei den
Rentenempfängern der Beklagten die Erwartung geweckt haben, ihnen
stehe vom Jahr 2001 an eine höhere Rente zu, wie sie sich bei voller Be-
rücksichtigung der Vordienstzeiten aus der früher geltenden Fassung der
VBLS ergeben würde. Der verstorbene Ehemann der Klägerin gehörte
jedoch nicht zu jenen jüngeren Versichertengenerationen, für die die an-
gegriffene Halbanrechnung nach Auffassung des Bundesverfassungsge-
richts nicht mehr hinnehmbar ist (vgl. dazu Senat, Urteil vom 26. Novem-
ber 2003 - IV ZR 186/02 - VersR 2004, 183 ff.).
Das Bundesverfassungsgericht hat die Halbanrechnung trotz ver-
fassungsrechtlicher Bedenken noch als zulässige Typisierung und Gene-
ralisierung im Rahmen einer komplizierten Materie angesehen, weil ein
bruchloser Verlauf der Erwerbsbiographie im öffentlichen Dienst erst für
die jüngeren Versichertengenerationen nicht mehr hinreichend typisch
sei. Bis zum Ablauf des Jahres 2000 könne die Halbanrechnung aber
noch hingenommen werden. Mithin ist das Bundesverfassungsgericht
davon ausgegangen, daß alle Versicherten, die vor Ablauf des Jahres
2000 Rentner bei der Beklagten geworden sind, noch zu denjenigen Ge-
nerationen zählen, für die ein bruchloser Verlauf der (bei Rentenbeginn
abgeschlossenen) Erwerbsbiographie als typisch angesehen werden
kann. Soweit die Versicherten bzw. deren Hinterbliebene im Revisions-
verfahren diese Annahme des Bundesverfassungsgerichts mittels stati-
stischen Materials und unter Berufung auf ein einzuholendes Sachver-
ständigengutachten in Zweifel gezogen haben, ist dies in bezug auf die
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rein wertende Abgrenzung der Versichertengenerationen durch das Bun-
desverfassungsgericht unerheblich. Der Ehemann der Klägerin bezog
bereits seit einem vor Ablauf des Jahres 2000 liegenden Zeitpunkt Rente
von der Beklagten. Die Halbanrechnung der Vordienstzeiten ist also noch
hinzunehmen.
Die Unterscheidung, die das Bundesverfassungsgericht zwischen
der Rentnergeneration der dortigen Beschwerdeführerin einerseits und
den jüngeren Versichertengenerationen andererseits trifft, verlöre ihren
Sinn, wenn auch Personen, die vor dem Stichtag schon Rentner bei der
Beklagten waren, nach dem Stichtag als Angehörige der jüngeren Versi-
chertengeneration hätten gelten sollen. Daß auch die Beschwerdeführe-
rin (und nicht nur die am Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
nicht beteiligten jüngeren Versichertengenerationen) vom Stichtag an ei-
nen Anspruch auf Änderung der sie benachteiligenden, gegen Art. 3
Abs. 1 GG verstoßenden Satzungsbestimmungen gehabt hätte, ist nicht
ersichtlich.
d) Der Senat folgt dem Bundesverfassungsgericht darin, daß die
Anwendung des § 42 Abs. 2 Satz 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa VBLS
a.F. bei der Berechnung der Versorgungsrente für solche Personen, die
bis zum 31. Dezember 2000 rentenberechtigt geworden sind, nicht gegen
Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Auch ein Verstoß gegen die §§ 9 AGBG, 307
BGB liegt nicht vor. Dabei kann auf sich beruhen, ob den Erwägungen
des Bundesverfassungsgerichts zur Ungleichbehandlung der von der
Halbanrechnung betroffenen Versichertengruppe trotz der Kritik der Be-
klagten in jedem Punkte zu folgen ist (vgl. auch Hebler, ZTR 2000,
337 ff. und Schantl, VersR 2004, 1226, 1230 ff.). Denn mit dem Bundes-
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verfassungsgericht ist der Senat der Auffassung, daß - ist mit der Halb-
anrechnung eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Versicher-
ten verbunden, die ihr ganzes Berufsleben im öffentlichen Dienst ver-
bracht haben - sich die Ungleichbehandlung jedenfalls im Rahmen einer
zulässigen Typisierung und Generalisierung einer komplizierten, eine
sehr große Gruppe von Versicherten betreffenden Materie hielt. Diese
Ungleichbehandlung haben Personen, die bis zum Ablauf des Jahres
2000 Zusatzrentenempfänger geworden sind, nicht zuletzt auch im Inter-
esse der Erhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Versorgungs-
trägers hinzunehmen, selbst wenn für die Zukunft eine andere, eine die
Ungleichbehandlung für zukünftige Rentenempfänger vermeidende Re-
gelung zu treffen ist.
e) Die Klägerin wird auch gegenüber Versicherten, deren Rente
sich nach der ab 1. Januar 2001 geltenden Neufassung der VBLS richtet,
nicht in rechtlich erheblicher Weise benachteiligt. Das Niveau der von
der Beklagten in Zukunft aufgrund ihrer neuen Satzung zu leistenden
Renten ist generell niedriger als bisher; den Berechtigten wird daneben
eine ergänzende Altersvorsorge angeboten, die aus eigenen Beiträgen
aufgebaut werden muß. Daß die Klägerin trotz der dynamisierten Besitz-
standsrente, die sie nach § 75 Abs. 2 VBLS n.F. erhält, wirtschaftlich im
Ergebnis schlechter stehe als Berechtigte, deren Rente nach neuem
Satzungsrecht ohne Rücksicht auf Vordienstzeiten außerhalb des öffent-
lichen Dienstes berechnet wird, ist weder dargetan noch ersichtlich. Der
in der Halbanrechnung von Vordienstzeiten vom Bundesverfassungsge-
richt gesehene Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist für die Zukunft
ausgeräumt. Im Hinblick darauf stehen Rentenempfängern alten Rechts
wie der Klägerin über die Wahrung ihres Besitzstandes hinaus auch nach
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dem 31. Dezember 2000 keine weitergehenden Ansprüche aus Gründen
der Gleichbehandlung zu.
f) Schließlich haben sich die Tarifvertragsparteien auch nicht durch
die Vereinbarung, eine bundesgerichtliche Entscheidung zugunsten einer
höheren als der in der Übergangsregelung der neuen Satzung vorgese-
henen Rente zugunsten aller davon Betroffenen umzusetzen, darauf ver-
ständigt, die Entscheidung über Halb- oder Vollanrechnung den Gerich-
ten vorzubehalten. Damit wird lediglich zum Ausdruck gebracht, daß ei-
ner solchen Entscheidung sogar rückwirkend Folge geleistet werden soll.
Terno Dr. Schlichting Seiffert
Wendt Dr. Kessal-Wulf