Urteil des BGH vom 22.06.2006

BGH (anklage, anklageschrift, wohnung, stpo, gegenstand, staatsanwaltschaft, hauptverhandlung, strafkammer, aufhebung, verurteilung)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 79/06
vom
22. Juni 2006
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 22. Juni 2006,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Winkler,
Pfister,
von Lienen,
Hubert
als beisitzende Richter,
Richter am Landgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Land-
gerichts Lübeck vom 13. September 2005 mit den zugehörigen
Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte im Fall 44 der
Anklage freigesprochen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und
die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Aus-
lagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückver-
wiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und
sechs Monaten verurteilt und ihn wegen weiterer 33 Sexualstraftaten zum
Nachteil der Nebenklägerin W. aus tatsächlichen Gründen frei-
gesprochen. Mit ihrer auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision
erstrebt die Staatsanwaltschaft im Fall 44 der Anklage die Aufhebung des Frei-
spruchs. Das wirksam beschränkte Rechtsmittel hat Erfolg.
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1. Mit der - unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen - Anklage-
schrift vom 21. April 2004 hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten unter
anderem vorgeworfen, im Zeitraum von April bis 14. September 1998
- zunächst in der Wohnung M. straße in S. und ab Juli
1998 in der Wohnung T. weg in L. - in zumindest zwei Fällen (Fälle
44 und 45 der Anklage) die am 15. September 1984 geborene Nebenklägerin,
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seine spätere Adoptivtochter, zum Oralverkehr gezwungen zu haben, indem er
den Kopf der sich widerstrebenden Geschädigten mit Gewalt festgehalten habe.
2. Die Strafkammer hat für den Tatort M. straße in S.
neben zwei weiteren sexuellen Übergriffen einen erzwungenen Oralverkehr
festgestellt.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen dieser Tat freigesprochen
und dazu ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der An-
geklagte zwar den Oralverkehr und zwei weitere sexuelle Übergriffe in der
Wohnung M. straße in S. begangen. Da die Geschädigte bei
der Einordnung von Ereignissen in Zeiträume Schwierigkeiten gezeigt habe,
habe aber mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit nicht festge-
stellt werden können, ob diese Taten während des in der Anklageschrift ge-
nannten Tatzeitraums vom 10. April 1998 (Übersiedlung der Nebenklägerin zum
Angeklagten) bis zum 15. Juni 1998 (Auszug aus der Wohnung) oder bereits im
Jahre 1997 während eines Ferienaufenthalts der Nebenklägerin in der Woh-
nung geschehen seien. Die im Jahre 1997 begangenen sexuellen Übergriffe
seien nicht Gegenstand der Anklage, so dass der Angeklagte keiner der am
Tatort M. straße angeklagten Taten überführt sei.
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3. Das Landgericht hat den Angeklagten zu Unrecht freigesprochen, weil
der festgestellte Oralverkehr identisch ist mit der Tat, die in der Anklageschrift
unter Ziffer 44 beschrieben ist.
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a) Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der
Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhand-
lung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher
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Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und
innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll
(vgl. Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 264 Rdn. 2 m. w. N.). Verändert sich im
Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, auf das die Anklage hin-
weist, so kommt es darauf an, ob die "Nämlichkeit der Tat" trotz der Abwei-
chung noch gewahrt ist. Dies ist - ungeachtet der Differenzen - dann der Fall,
wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares
Geschehen kennzeichnen, selbst wenn die Beweisaufnahme im Vergleich zur
Anklageschrift eine andere Tatzeit ergibt (vgl. BGHSt 46, 130, 133; BGH NStZ
2002, 659; BGH NStZ-RR 1998, 304). Beim sexuellen Missbrauch von Kindern
im häuslich-familiären Bereich ist für die Frage, ob festgestellte einzelne Taten
von der Anklage umfasst sind, die zeitliche Einordnung des Geschehens vor
allem dann von besonderer Bedeutung, wenn ein gleichförmiges Handlungs-
muster vorliegt (vgl. BGHSt aaO; BGH NStZ 1999, 520).
b) Nach diesen Maßstäben ist der in der M. straße in S.
erzwungene Oralverkehr Gegenstand der Anklage. Das festgestellte
Geschehen entspricht hinsichtlich der Geschädigten, dem Tatort und der Bege-
hungsweise einer der in der Anklageschrift unter den Ziffern 44 und 45 geschil-
derten Taten und lässt sich - unabhängig von der nicht genau bestimmbaren
Tatzeit - zuverlässig von den weiteren dem Angeklagten vorgeworfenen Sexu-
alstraftaten abgrenzen. Zum Oralverkehr mit einer gewaltsam erzwungenen
Ejakulation in den Mund der Nebenklägerin ist es nach der Anklageschrift in
zwei Fällen gekommen. Von einem dieser Fälle ist der Angeklagte zu Recht
freigesprochen worden, weil das Landgericht nur einen derartigen Fall festzu-
stellen vermochte. Unter diesen Umständen berührt allein die Unsicherheit,
dass der Oralverkehr möglicherweise nicht während des in der Anklage ge-
nannten Zeitraums von April bis Juni 1998 begangen worden ist, sondern be-
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reits im Jahre 1997 begangen worden sein kann, die "Tatidentität" nicht, zumal
sexuelle Übergriffe des Angeklagten auf die Geschädigte im Jahre 1997 über-
haupt nicht angeklagt wurden.
c) Da der Angeklagte wegen des festgestellten Sachverhalts nach einem
verfahrensrechtlich gebotenen Hinweis nach § 265 StPO auf den veränderten
Tatzeitraum hätte verurteilt werden können und müssen (vgl. BGHSt 19, 88;
Meyer-Goßner aaO § 265 Rdn. 23 m. w. N.), war wegen der Tat 44 der Ankla-
geschrift der Freispruch aufzuheben. Die getroffenen Feststellungen können als
Grundlage einer möglichen Verurteilung nicht bestehen bleiben, weil der die Tat
bestreitende Angeklagte deren rechtsfehlerfreies Zustandekommen mangels
Beschwer nicht überprüfen lassen konnte (vgl. Kuckein in KK 5. Aufl. § 353
Rdn. 24 m. w. N.).
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Tolksdorf Winkler Pfister
von Lienen Hubert