Urteil des BGH vom 13.03.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IX ZR 43/12
Verkündet am:
13. März 2014
Kluckow
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
InsO § 35 Abs. 2, § 295 Abs. 2
a) Der Schuldner ist nach Freigabe seiner selbständigen Tätigkeit im eröffneten
Insolvenzverfahren verpflichtet, aus einem tatsächlich erwirtschafteten Gewinn
dem Insolvenzverwalter den pfändbaren Betrag nach dem fiktiven Maßstab des
§ 295 Abs. 2 InsO abzuführen (Fortführung von BGH, Beschluss vom 13. Juni
2013 - IX ZB 38/10, WM 2013, 1612).
b) Der wegen der Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldners von die-
sem an die Masse abzuführende Betrag ist vom Insolvenzverwalter auf dem
Prozessweg geltend zu machen.
c) Zur Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Voraussetzungen für die Fest-
stellung der Höhe des an die Masse abzuführenden Betrags.
BGH, Urteil vom 13. März 2014 - IX ZR 43/12 - OLG Koblenz
LG Koblenz
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 13. März 2014 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kayser, die
Richter Prof. Dr. Gehrlein, Vill, die Richterin Lohmann und den Richter
Dr. Fischer
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 10. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Koblenz vom 17. Februar 2012 aufgeho-
ben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Mit Beschluss des Amtsgerichts vom 12. September 2008 wurde über
das Vermögen des Beklagten, eines Zahnarztes (künftig auch: Schuldner), das
Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt. Mit
Schreiben vom 30. März 2009 gab der Kläger gegenüber dem Beklagten des-
sen Vermögen aus seiner selbständigen Tätigkeit als Zahnarzt ab dem
30. März 2009, 24.00 Uhr, frei und forderte den Beklagten auf, nach § 295
Abs. 2 InsO Zahlungen zu leisten. Mit Schreiben vom 1. April 2009 stellte der
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Kläger klar, dass die Freigabe ab 31. März 2009, 24.00 Uhr, habe erfolgen sol-
len.
Der Kläger verlangt vom Beklagten für die Zeit ab 1. April 2009 bis
30. Juni 2010 Zahlung von 1.638,01
€ monatlich, zusammen 24.570,15 €. Der
selbständig tätige Beklagte habe als angestellter Zahnarzt einen monatlichen
Bruttoverdienst von 6.005,57
€ erzielen können, was einem Nettogehalt von
3.233,69
€ entspreche. Hiervon sei ein Betrag von 1.638,01 € pfändbar. Den
pfändbaren Betrag müsse der Schuldner an die Masse abführen. Der Beklagte
meint, dass der Kläger keinen Anspruch auf Abführung fiktiver Einkünfte besit-
ze. Mit seiner selbständigen Tätigkeit als Zahnarzt erziele er keine Einnahmen
in der genannten Höhe.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat
die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen
Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und
zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat gemeint, der geltend gemachte Anspruch er-
gebe sich nicht aus §§ 148, 80 InsO. Der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis
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des Insolvenzverwalters unterlägen nur reale, nicht fiktive Vermögensgegen-
stände. Dass der Beklagte aufgrund der frei gegebenen Tätigkeit tatsächlich
Einkünfte erzielt habe, gar in der vom Kläger genannten Höhe, habe dieser
nicht vorgetragen.
Soweit der Kläger Herausgabe von Gegenständen der Masse begehre,
fehle hierfür schon das Rechtsschutzbedürfnis, weil er diese ohnehin nach
§ 148 InsO in Besitz und Verwaltung zu nehmen habe. Soweit der Schuldner
die Herausgabe verweigere, könne der Verwalter aus dem Eröffnungsbeschluss
vollstrecken, der gemäß § 148 Abs. 2 InsO selbst Titel sei. Allerdings gehe es
hier gerade nicht um die Herausgabe von Gegenständen der Masse. Vielmehr
wolle der Verwalter Zugriff nehmen auf Einkünfte, die er freigegeben habe und
die deshalb nicht in die Masse fielen.
Der geltend gemachte Anspruch finde seine Grundlage auch nicht in
§ 35 Abs. 2, § 295 InsO. Aus diesen Bestimmungen folge kein Zahlungsan-
spruch. Ein solcher könne sich ohnehin nur aus konkret erzielten, nicht aus fik-
tiven Einkünften ergeben. § 295 Abs. 2 InsO begründet zudem keinen klagba-
ren Anspruch, vielmehr werde dort lediglich eine Obliegenheit normiert, die der
Schuldner bis zum Ende der Wohlverhaltensperiode vor der Entscheidung über
die Restschuldbefreiung erfüllt haben müsse. Diese Obliegenheit treffe den
Schuldner zudem erst von der Aufhebung des Insolvenzverfahrens an. Die Ob-
liegenheiten des § 295 InsO beanspruchten Geltung nicht bereits im eröffneten
Verfahren, sondern erst in der Wohlverhaltensperiode, die noch nicht begonnen
habe.
Im Übrigen erscheine fraglich, ob der Kläger die vom Beklagten möglich-
erweise erzielbaren Einkünfte hinreichend dargelegt habe. Dazu genüge nicht
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die Darlegung des tarifvertraglichen Entgelts. Erforderlich sei auch, dass der im
fortgeschrittenen Alter befindliche Schuldner derartige Einkünfte tatsächlich ha-
be erzielen können.
Da die Insolvenzordnung kein Verfahren zur Festlegung der nach § 295
Abs. 2 InsO zu zahlenden Leistungen vorsehe, könne hierüber erst bei der Ent-
scheidung über die Erteilung der Restschuldbefreiung befunden werden.
II.
Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Die Klage ist zulässig. Dem Kläger fehlt nicht das Rechtsschutzbe-
dürfnis. Ein einfacherer Weg, sein Rechtsschutzziel zu erreichen, steht ihm
nicht zur Verfügung.
a) Nach § 148 Abs. 1 InsO ist es die Pflicht des Insolvenzverwalters,
nach Eröffnung des Verfahrens das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende
Vermögen in Besitz und Verwaltung zu nehmen. Soweit der Schuldner seinen
hierauf bezogenen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt, bildet gemäß § 148
Abs. 2 Satz 1 InsO die vollstreckbare Ausfertigung des Eröffnungsbeschlusses
zugleich einen Vollstreckungstitel im Sinne des § 794 Abs. 1 Nr. 3 ZPO gegen
den Schuldner (BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2008 - IX ZB 77/08, ZVI
2009, 74 Rn. 18; Urteil vom 3. November 2011 - IX ZR 46/11, NZI 2011, 979
Rn. 6).
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Die vom Schuldner begehrte Zahlung bezieht sich jedoch nicht auf einen
vom Insolvenzbeschlag erfassten Gegenstand. Infolge der Freigabe fiel der
Neuerwerb des Schuldners aus der freiberuflichen Tätigkeit ab dem 1. April
2009 nicht mehr in die Masse (BGH, Urteil vom 18. April 2013, aaO mwN). Die
von dem Schuldner ab Wirksamwerden der Freigabeerklärung aus der selb-
ständigen Tätigkeit erzielten Einkünfte stehen deshalb als ihm gehörendes
Vermögen grundsätzlich nur den Neugläubigern, deren Forderungen nach
Wirksamwerden der Freigabeerklärung entstanden sind, als Haftungsmasse zur
Verfügung (BGH, Beschluss vom 9. Juni 2011 - IX ZB 175/10, WM 2011, 1344
Rn. 11; Urteil vom 9. Februar 2012 - IX ZR 75/11, BGHZ 192, 322 Rn. 28; vom
18. April 2013, aaO). Der Kläger muss deshalb seinen Anspruch gegen den
Beklagten im Klageweg verfolgen.
b) Der einfachere Weg der Entscheidung durch das Insolvenzgericht
nach § 36 Abs. 4 InsO ist ihm verwehrt. Schon der Streit zwischen Insolvenz-
verwalter und Schuldner über die Massezugehörigkeit von Gegenständen kann
nur im Wege des Rechtsstreits vor dem Prozessgericht entschieden werden,
wenn er keine Vollstreckungshandlung und keine Anordnung des Vollstre-
ckungsgerichts betrifft (BGH, Beschluss vom 5. Juni 2012 - IX ZB 31/10, ZIP
2012, 1371 Rn. 6 mwN). Ob das Insolvenzgericht als Vollstreckungsgericht ge-
mäß § 36 Abs. 4 InsO oder das Prozessgericht in einem Rechtsstreit entschei-
det, hängt davon ab, ob die Auseinandersetzung um die Massezugehörigkeit
als solche geführt wird - dann gehört der Rechtsstreit vor das Prozessgericht -
oder ob über die Zulässigkeit der Vollstreckung gestritten wird - dann entschei-
det das Insolvenzgericht - im Rahmen des § 36 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 InsO
(BGH, Beschluss vom 5. Juni 2012, aaO mwN). Zuständig wäre danach das
Prozessgericht.
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Erst recht ist die Frage, ob und in welcher Höhe sich ein Anspruch des
Verwalters gegen den Schuldner aus der gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 InsO ent-
sprechenden Anwendung des § 295 Abs. 2 InsO ergibt, von dem Prozessge-
richt zu entscheiden.
2. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen Anspruch des
Klägers aus § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO abgelehnt hat, hält rechtli-
cher Prüfung nicht stand.
Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, gehört
es zu den vom Schuldner nach einer Freigabe gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 InsO
zu beachtenden Pflichten, dass er die nach § 295 Abs. 2 InsO maßgeblichen
Beträge schon im Laufe des Insolvenzverfahrens an den Insolvenzverwalter
abführt. Hierbei handele es sich nicht lediglich um eine Obliegenheit, die eine
Versagung der Restschuldbefreiung zur Folge haben kann, sondern um eine
eigenständige Abführungspflicht, auf deren Einhaltung der Insolvenzverwalter
einen unmittelbaren Anspruch hat (BGH, Beschluss vom 13. Juni 2013 - IX ZB
28/10, WM 2013, 1612 Rn. 20).
Sie gebietet im Regelfall eine jährliche Zahlung (vgl. BGH, Beschluss
vom 19. Juli 2012 - IX ZB 188/09, ZInsO 2012, 1488 Rn. 14; vom 13. Juni 2013,
aaO). Der Kläger kann deshalb 15 Monate nach Wirksamwerden der Frei-
gabeerklärung für diesen Zeitraum im laufenden Insolvenzverfahren den Zah-
lungsanspruch der Masse gegen den Schuldner geltend machen.
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III.
Das angefochtene Urteil kann folglich keinen Bestand haben. Es ist auf-
zuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist,
wird sie an das Berufungsgericht zurückverwiesen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Den
Parteien wird Gelegenheit zu geben sein, ergänzend vorzutragen. Hierfür und
für die erneute Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf folgendes
hin:
Die Frage, ob und in welcher Höhe den Schuldner eine Abführungspflicht
trifft, hat der Senat nach Erlass der aufgehobenen Entscheidung des Beru-
fungsgerichts im Einzelnen geklärt. Danach gilt folgendes:
1. Der Schuldner ist nur dann verpflichtet, nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295
Abs. 2 InsO etwas an die Insolvenzmasse abzuführen, wenn er tatsächlich ei-
nen Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit erzielt hat, der den unpfändbaren
Betrag bei unselbständiger Tätigkeit übersteigt. Die Abführungspflicht ist zudem
nach dem Maßstab des § 295 Abs. 2 InsO der Höhe nach beschränkt auf den
pfändbaren Betrag, den er bei unselbständiger Tätigkeit erzielen würde.
Den Schuldner trifft im laufenden Insolvenzverfahren nach derzeit gel-
tendem Recht nicht die Pflicht, ein abhängiges Dienstverhältnis oder eine selb-
ständige Tätigkeit auszuüben, weil seine Arbeitskraft nicht in die Masse fällt
(BGH, Urteil vom 11. Mai 2006 - IX ZR 247/03, BGHZ 167, 363 Rn. 16; Be-
schluss vom 18. Dezember 2008 - IX ZB 249/07, WM 2009, 361 Rn. 11; vom
13. Juni 2013, aaO Rn. 6 ff, 15). Übt er eine unselbständige Tätigkeit aus, fällt
gleichwohl der pfändbare Teil seines Arbeitseinkommens als Neuerwerb gemäß
§ 35 Abs. 1 InsO in die Masse; geht er einer selbständigen Tätigkeit nach, wer-
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den alle Einkünfte aus dieser Tätigkeit vom Insolvenzbeschlag erfasst (BGH,
Beschluss vom 9. Juni 2011, aaO Rn. 6). Ist die selbständige Tätigkeit vom In-
solvenzverwalter jedoch gemäß § 35 Abs. 2 InsO freigegeben, besteht gegen-
über der Masse lediglich die Abführungspflicht entsprechend § 295 Abs. 2 InsO.
Maßstab für die Höhe der Abführungspflicht ist das nach § 295 Abs. 2 InsO zu
bestimmende pfändbare fiktive Nettoeinkommen (BGH, Beschluss vom 13. Juni
2013, aaO Rn. 16 ff mwN).
2. Der Schuldner ist dem Insolvenzverwalter gegenüber umfassend aus-
kunftspflichtig hinsichtlich der Umstände, die für die Ermittlung des fiktiven
Maßstabs erforderlich sind, aus denen sich die ihm mögliche abhängige Tätig-
keit und das anzunehmende fiktive (Netto-)Einkommen ableiten lassen (BGH,
Beschluss vom 14. Mai 2009 - IX ZB 116/08, ZInsO 2009, 1268 Rn. 9; vom
26. Februar 2013, aaO Rn. 9; vom 13. Juni 2013, aaO Rn. 20).
Im vorliegenden Prozess hat der Kläger für seine Leistungsanträge die
hierfür erforderlichen Voraussetzungen, insbesondere die dem Schuldner mög-
liche Tätigkeit in abhängiger Stellung, darzulegen und zu beweisen. Das
schließt auch die Frage ein, ob entsprechende Stellen auf dem Arbeitsmarkt
verfügbar sind. Hinsichtlich seiner Qualifikation und Leistungsfähigkeit trifft den
Beklagten jedoch im Umfang seiner im Insolvenzverfahren bestehenden Aus-
kunftspflicht eine sekundäre Darlegungslast.
3. Liegt der tatsächliche Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit im frag-
lichen Zeitraum unterhalb des pfändbaren Betrages bei abhängiger Tätigkeit,
besteht, wie dargelegt, keine Abführungspflicht. Außerhalb des Rechtsstreits ist
der Schuldner in diesem Falle hinsichtlich seiner Gewinnermittlung dem Verwal-
ter umfassend auskunftspflichtig (BGH, Beschluss vom 13. Juni 2013, aaO
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Rn. 21). Im Streitverfahren trifft ihn die Darlegungs- und Beweislast, dass sein
Gewinn unterhalb des ermittelten pfändbaren Betrages bei abhängiger Tätigkeit
bleibt und er deshalb von der Abführungspflicht entsprechend § 295 Abs. 2 In-
sO befreit ist.
Kayser Gehrlein Vill
Lohmann Fischer
Vorinstanzen:
LG Koblenz, Entscheidung vom 31.03.2011 - 9 O 239/10 -
OLG Koblenz, Entscheidung vom 17.02.2012 - 10 U 444/11 -