Urteil des BGH vom 01.04.2009

BGH (annahme, stgb, bar, schuldfähigkeit, strafkammer, heirat, zustand, gutachten, staatsanwaltschaft, arg)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 601/08
vom
1. April 2009
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
- 2 -
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 1. April 2009,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan,
Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Prof. Dr. Fischer,
Dr. Appl,
Cierniak,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Nebenklägervertreterin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger
wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 1. Juli 2008 mit den
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurge-
richt zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Frei-
heitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verurteilt.
1
Mit ihren Revisionen beanstanden die Staatsanwaltschaft und die Ne-
benkläger, dass das Landgericht den Angeklagten unter Annahme nicht
ausschließbar verminderter Schuldfähigkeit nur wegen Totschlags und nicht
wegen Mordes verurteilt hat.
2
I.
Der 34-jährige Angeklagte, ein in sich gekehrter Diplom-Informatiker, hat-
te im September 2007 ohne die von ihm angestrebte Promotion seine Anstel-
lung als wissenschaftlicher Mitarbeiter der R. verloren und lebte
seitdem von seinen Ersparnissen.
3
- 4 -
Bereits seit dem Jahre 2005 unterhielt er eine gegenüber seinen Eltern
verheimlichte Beziehung zu der chinesischen Studentin W. . Beide
wohnten zusammen, hatten jedoch keinen Geschlechtsverkehr, weil der Ange-
klagte - aus Angst zu versagen - diesen auf die Zeit nach der Heirat verschie-
ben wollte. Als der Ablauf ihres Visums bevorstand, drängte W.
den Angeklagten Ende des Jahres 2007 erfolglos zur baldigen Heirat. Mehrfach
gelang es dem Angeklagten, die zum Auszug entschlossene Zeugin W. hinzu-
halten und zum Verbleib bzw. zur Rückkehr in seine Wohnung zu überreden.
4
Am 24. Dezember 2007 reiste der Angeklagte zu seinen Eltern, wo er die
Feiertage verbrachte. Bei seiner Rückkehr am Abend des 26. Dezembers 2007
hatte W. Besuch von ihrer Freundin, der in Deutschland lebenden
Chinesin S. , die - in die Problematik eingeweiht - den ausweichend rea-
gierenden Angeklagten auf eine Heirat der Zeugin W. ansprach. Am nächs-
ten Morgen verließen die beiden Frauen mit Gepäck die Wohnung Richtung
Bahnhof. Als der Angeklagte dies bemerkte, folgte er ihnen und traf sie noch
auf dem Bahnsteig an. Sein Versuch, W. zur Rückkehr zu bewegen,
schlug fehl.
5
In diesem Moment kamen ihm Suizidphantasien; den Gedanken, sich
von dem nächsten einfahrenden Zug überrollen zu lassen, verwarf er jedoch, da
ihm ein solch grausamer Tod unerträglich erschien. Als S. zu ihm trös-
tend sagte: "T. , es ist bestimmt am Besten so", entschloss er sich schließlich
diese anzugreifen. Nachdem er zuvor die in einer Entfernung von ca. 400 m
herannahende Bahn wahrgenommen hatte, stieß er in Tötungsabsicht die vor
ihm stehende und ihm den Rücken zukehrende arglose S. zielgerichtet ins
Gleisbett, wo sie von dem Zug überrollt, mitgeschleift und so getötet wurde.
Nach vorübergehender Flucht stellte sich der Angeklagte noch am selben Tag
den Behörden.
6
- 5 -
Das Landgericht ist - entgegen dem Sachverständigengutachten - von
einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Tat-
zeitpunkt ausgegangen und vermochte zudem nicht festzustellen, dass dieser
die objektiv gegebene Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers bewusst zu dessen
Tötung ausgenutzt habe. Ebenso wenig konnte das Landgericht in dem Han-
deln des Angeklagten niedrige Beweggründe erkennen.
7
II.
1. Die vom Generalbundesanwalt insoweit vertretene Revision der
Staatsanwaltschaft und die Revision der Nebenkläger haben mit der Sachrüge
Erfolg, soweit sie sich gegen die Verneinung des Mordmerkmals "Heimtücke"
auf der Grundlage der Annahme nicht ausschließbar erheblich verminderter
Schuldfähigkeit wenden.
8
a) Die Annahme nicht ausschließbar erheblich verminderter Schuldfähig-
keit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB begegnet durchgreifenden recht-
lichen Bedenken.
9
Noch in Übereinstimmung mit der als umsichtig, kompetent und erfahren
charakterisierten Sachverständigen (UA 15) stellt das Landgericht bei dem An-
geklagten, der große Angst vor Zurückweisung und Ablehnung bei gleichzeiti-
gem Wunsch nach enger partnerschaftlicher Zuwendung mit ausgeprägten Ver-
lustängsten hat, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dependenten Zü-
gen fest. Zugleich habe der Angeklagte unter dem Einfluss einer akuten Belas-
tungsreaktion gehandelt. Soweit aber die Sachverständige nach Durchführung
der Beweisaufnahme aufgrund der nunmehr umfänglichen Einlassung des An-
geklagten zu seinen Gedanken und Überlegungen unmittelbar vor der Tat zu
dem Ergebnis gelangt, eine Handlungsanalyse ergebe, dass der Angeklagte in
der Vierschrittigkeit "Abwägen-Planen-Handeln-Bewerten" keine Defizite auf-
10
- 6 -
wies, es somit an einer Impulskontrollstörung gefehlt habe und deshalb die
schwere andere seelische Abartigkeit (infolge der kombinierten Persönlichkeits-
störung und der akuten Belastungsreaktion) ohne Schuldfähigkeitsrelevanz sei,
folgt ihr das Landgericht nicht; angesichts des "motivational mit rationalen Maß-
stäben nicht nachvollziehbaren, teilweise schon bizarre Züge tragenden Tatge-
schehens" sei eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit nicht auszu-
schließen.
Zwar war das Landgericht nicht gehindert, von dem Gutachten der Sach-
verständigen abzuweichen, da ein solches nur Grundlage der Überzeugungs-
bildung des Richters sein kann. Wenn der Tatrichter aber eine Frage, für die er
geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch
zu dem Gutachten lösen will, muss er die maßgeblichen Darlegungen des
Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinanderset-
zung mit diesen begründen (BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1; Fischer
StGB 56. Aufl. § 20 Rdn. 65 m.w.N.). Dies hat die Strafkammer nicht in hinrei-
chender Weise getan:
11
Allein die Erwägung, aufgrund des rational nicht nachvollziehbaren Tat-
geschehens in Kombination mit dem festgestellten Zustand des Angeklagten
sei das Abstellen auf eine Handlungsanalyse nicht überzeugend, ist nicht ge-
eignet, das Gutachten der Sachverständigen zu widerlegen. Weder ergibt sich
aus den Urteilsgründen, dass das Landgericht über die erforderliche eigene
Sachkunde verfügt, noch hat es eine eigene Abwägung aller Indizien vorge-
nommen. Auch unter dem Gesichtspunkt einer tiefgreifenden Bewusstseinsstö-
rung wäre die Wertung des Landgerichts nicht rechtsfehlerfrei. Denn eine affek-
tive Erregung bei vorsätzlichen Tötungsdelikten, bei denen gefühlsmäßige Re-
gungen eine Rolle spielen, stellt eher den Normalfall dar. Ob die affektive Erre-
gung einen solchen Grad erreicht hat, dass sie zu einer tiefgreifenden Bewusst-
12
- 7 -
seinsstörung geführt hat, kann deshalb nur anhand von tat- und täterbezogenen
Merkmalen beurteilt werden, die als Anzeichen für und gegen die Annahme ei-
nes schuldrelevanten Affekts sprechen. Diese Indizien sind dabei im Rahmen
einer Gesamtwürdigung zu beurteilen (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 234,
235 m.w.N.), die das Landgericht nicht vorgenommen hat. Es hat im Gegenteil
die gegen eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung sprechenden Anzeichen, die
sich aus der von der Sachverständigen herangezogenen Handlungsanalyse
und der detaillierten Erinnerung des Angeklagten an das Geschehen ergeben
(vgl. BGH NStZ 2008, 510, 512), völlig außer Betracht gelassen.
Zudem lassen die Urteilsausführungen besorgen, dass das Landgericht
den Zweifelssatz fehlerhaft auch auf die Rechtsfrage, ob die Beeinträchtigung
des Angeklagten im Sinne von § 21 StGB erheblich ist, angewandt hat (vgl.
BGHSt 43, 66, 77; BGH NStZ 2005, 149, 150).
13
b) Ebenso zu Recht beanstanden alle Revisionen die Verneinung der
subjektiven Tatseite des Mordmerkmals Heimtücke.
14
Nach den Feststellungen versah sich S. , was das Landgericht
nicht verkannt hat, keines Angriffs des Angeklagten von hinten und war infolge-
dessen arg- und wehrlos.
15
Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es,
dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen
und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, ei-
nen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Men-
schen zu überraschen. Dabei steht nicht jede affektive Erregung der Annahme
eines Ausnutzungsbewusstseins in diesem Sinne entgegen (BGH NStZ 2003,
535; 2005, 688 f.).
16
- 8 -
Die Erwägungen, mit denen das Landgericht ein Ausnutzungsbewusst-
sein hier verneint hat, entbehren einer tragfähigen Grundlage. Bereits die Aus-
gangsüberlegung, zu Gunsten des Angeklagten sei zu unterstellen, seine Steu-
erungsfähigkeit sei erheblich eingeschränkt gewesen (UA 20), ist - wie eingangs
unter II. 1. a) dargelegt - rechtsfehlerhaft. Gleiches gilt für die daran anknüpfen-
de Schlussfolgerung, die Wahrnehmung des Angeklagten sei in der Panik des
Moments allein auf S. fixiert gewesen, die allein er optisch wahrgenom-
men habe, weshalb es störungsbedingt nicht ausschließbar an einem Ausnut-
zungsbewusstsein gefehlt haben könnte. Für die Annahme der subjektiven Sei-
te des Heimtückemordes kommt es nämlich nicht auf das Vorliegen oder Nicht-
vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen des § 21 StGB an; vielmehr ist
maßgeblich, ob und gegebenenfalls welche tatsächlichen Auswirkungen der
psychische Zustand auf die Erkenntnisfähigkeit des Angeklagten in der Tatsitu-
ation und auf sein Bewusstsein hatte.
17
Diesbezüglich hat die Strafkammer aber - bezogen auf den direkten Tö-
tungsvorsatz - gerade festgestellt, dass der Angeklagte in vollem Umfang über
die kognitiven Fähigkeiten verfügte, sowohl die objektiven Umstände seines
Tuns als auch dessen Konsequenzen subjektiv zu erfassen (UA 18). Umstände,
auf Grund derer trotz erhaltener Einsichtsfähigkeit die Fähigkeit des Angeklag-
ten, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahr-
zunehmen und einzuschätzen, beeinträchtigt war, hat die Strafkammer nicht
aufgezeigt; solche sind nach den Urteilsgründen auch nicht ersichtlich. Im Ge-
genteil hat der Angeklagten nach den Feststellungen noch direkt vor der Tat bei
Erwägung eines Suizids durchaus rationale Überlegungen angestellt, indem er
sich die möglichen Folgen vorstellte, die es haben würde, wenn ein menschli-
cher Körper von einem Zug überrollt wird und sich deshalb bei Einfahrt des Zu-
ges dazu entschlossen, nicht selbst zu springen, sondern die arglose S.
hinterrücks auf die Gleise zu stoßen.
18
- 9 -
2. Entgegen der Auffassung der vom Generalbundesanwalt insoweit
nicht vertretenen Revisionen hat das Landgericht das Mordmerkmal "Niedrige
Beweggründe" auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen
rechtsfehlerfrei abgelehnt. Es hat nicht verkannt, dass auch Rache und Hass
bei der Tatbegehung eine Rolle gespielt haben. Dass es diese Motive nicht als
tatbeherrschend angesehen hat, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Der
Angeklagte befand sich angesichts der nunmehr endgültig erscheinenden Tren-
nung seiner Freundin in einem Zustand höchster Verzweiflung und Ausweglo-
sigkeit (UA 21). Vor diesem Hintergrund hält es sich im Rahmen des tatrichterli-
chen Beurteilungsspielraums, dass das Landgericht die für den Angeklagten
bestimmenden Motive in ihrer Gesamtheit nicht als niedrig im Sinne des § 211
Abs. 2 StGB gewertet hat (vgl. BGH NStZ 2007, 330, 331).
19
Rissing-van Saan Rothfuß Fischer
Appl Cierniak