Urteil des BGH vom 09.12.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 175/07
vom
9. Dezember 2009
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
RVG § 15 a; RVG VV Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4
§ 15 a RVG stellt lediglich die bereits unter § 118 Abs. 2 BRAGO geltende und
mit Einführung des RVG nicht geänderte Rechtslage klar, wonach sich die Ge-
bührenanrechnung im Verhältnis zu Dritten und damit insbesondere im Kosten-
festsetzungsverfahren grundsätzlich nicht auswirkt (Anschluss an BGH Be-
schluss vom 2. September 2009 - II ZB 35/07 - ZIP 2009, 1927).
BGH, Beschluss vom 9. Dezember 2009 - XII ZB 175/07 - OLG Stuttgart
LG Stuttgart
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Dezember 2009 durch
die Vorsitzende Richterin Dr.
Hahne und die Richter Weber-Monecke,
Prof. Dr. Wagenitz, Dr. Klinkhammer und Schilling
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 8. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 2. Oktober 2007 wird auf
Kosten der Antragsgegnerin zurückgewiesen.
Beschwerdewert: bis 600 €
Gründe:
I.
Die Parteien streiten im Kostenfestsetzungsverfahren um die Höhe der
von der Antragsgegnerin dem Antragsteller zu erstattenden Kosten.
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Im Kostenfestsetzungsbeschluss hat die Rechtspflegerin des Landge-
richts die von der Antragsgegnerin vollumfänglich zu tragenden Kosten des vo-
rausgegangenen Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auf
1.394,09 € festgesetzt. In diesem Betrag ist unter anderem eine von dem An-
tragsteller für seine Verfahrensbevollmächtigten geltend gemachte 1,3-Verfah-
rensgebühr (Nr. 3100 VV RVG) in voller Höhe berücksichtigt. Eine "Anrechnung
der Verfahrensgebühr aufgrund der (evtl.) außergerichtlich entstandenen Ge-
schäftsgebühr" hat die Rechtspflegerin mit der Begründung abgelehnt, eine un-
verminderte Festsetzung der 1,3-Verfahrensgebühr scheide nur dann aus,
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wenn in demselben Rechtsstreit der auf materiellem Recht bestehende An-
spruch auf Erstattung der vollen Geschäftsgebühr bereits tituliert worden sei.
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Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin hat
das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die zugelasse-
ne Rechtsbeschwerde, mit der die Antragsgegnerin im Hinblick auf Anlage 1,
Teil 3, Vorbemerkung 3 [im Folgenden: Vorbemerkung 3] Abs. 4 VV RVG die
Herabsetzung der Verfahrensgebühr um den anzurechnenden Teil der außer-
gerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr erstrebt.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3
Satz 2 ZPO i.V.m. Art. 111 Abs. 1 FGG-RG statthaft und auch sonst zulässig.
Insbesondere steht ihr nicht entgegen, dass dem angefochtenen Beschluss ein
Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zugrunde liegt, in dem ge-
1 Satz Abs. 2 Satz 1 ZPO ein Rechtsmittel zum Bun-
desgerichtshof nicht gegeben ist. Diese Begrenzung des Instanzenzugs gilt
nicht für das Kostenfestsetzungsverfahren (vgl. BGH Beschluss vom 6. April
2005 - V ZB 25/04 - NJW 2005, 2233). Das Beschwerdegericht hat die Rechts-
beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Daran ist der Senat
gebunden (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO).
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III.
In der Sache hat die Rechtsbeschwerde keinen Erfolg. Die Rechtspflege-
rin hat zu Recht die von der Antragsgegnerin an den Antragsteller zu erstatten-
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den Kosten auf 1.394,09 € festgesetzt und dabei trotz des unbestrittenen An-
falls der außergerichtlichen Geschäftsgebühr die geltend gemachte 1,3-Ver-
fahrensgebühr (Nr. 3100 VV RVG) im Ergebnis zutreffend in voller Höhe be-
rücksichtigt.
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1. Das Beschwerdegericht hat die Auffassung vertreten, die Anrechnung
der vorgerichtlich angefallenen Geschäftsgebühr scheide aus, weil der An-
tragsteller (nicht: die Klägerin) diese weder im Hauptsacheverfahren noch in
einem anderen Verfahren als materiell-rechtlichen Schadenersatzanspruch gel-
tend gemacht habe. Deshalb sei hier eine vorgerichtlich entstandene Ge-
schäftsgebühr gemäß Nr. 2400 (jetzt Nr. 2300) VV RVG nicht im Kostenfestset-
zungsverfahren mit zu berücksichtigen, da dies nur in Betracht komme, wenn
entweder deren Anfall und die Pflicht des Gegners, sie zu tragen, oder jeden-
falls die für ihre Berücksichtigung maßgebenden Tatsachen unstreitig seien.
Denn die Anrechnungsvorschrift gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG gelte
grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen einer Partei und ihrem Prozessbe-
vollmächtigten. Demgegenüber hafte der Prozessgegner auf Erstattung vorge-
richtlicher Kosten nur nach materiellem Recht. Daher könne im Kostenfestset-
zungsverfahren nur eine bereits rechtskräftige Verurteilung zur Zahlung oder
anderweitige bestandskräftige Regelung über einen solchen materiell-rechtli-
chen Anspruch berücksichtigt werden. Dies entspreche auch der früher einhelli-
gen Handhabung unter der Geltung des § 118 Abs. 2 BRAGO.
Eine Änderung der Rechtslage habe der Gesetzgeber mit der Schaffung
der rechtstechnisch gleichen Anrechnungsvorschrift in Vorbemerkung 3 Abs. 4
VV RVG nicht herbeiführen wollen.
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2. Diese Sichtweise rügt die Rechtsbeschwerde als fehlerhaft und stützt
ihre Ansicht auf die neuere Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats des Bundesge-
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richtshofs. Danach sei Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG so zu verstehen, dass
eine entstandene Geschäftsgebühr unter der Voraussetzung, dass es sich um
denselben Gegenstand handelt, teilweise auf die spätere Verfahrensgebühr des
gerichtlichen Verfahrens anzurechnen sei. Durch diese Anrechnung verringere
sich die erst später nach Nr. 3100 VV RVG angefallene Verfahrensgebühr,
während die zuvor bereits entstandene Geschäftsgebühr von der Anrechnung
unangetastet bleibe (vgl. BGH Urteile vom 7. März 2007 - VIII ZR 86/06 - NJW
2007, 2049, 2050; vom 14. März 2007 - VIII ZR 184/06 - NJW 2007, 2050, 2052
und vom 11. Juli 2007 - VIII ZR 310/06 - NJW 2007, 3500 f. sowie BGH Be-
schluss vom 22. Januar 2008 - VIII ZB 57/07 - FamRZ 2008, 878, 879; zustim-
mend Peter NJW 2007, 2298, 2299; Streppel MDR 2007, 929, 930 f.; a.A. noch
BGH Beschlüsse vom 20. Oktober 2005 - I ZB 21/05 - NJW-RR 2006, 501, 502,
vom 27. April 2006 - VII ZB 116/05 - FamRZ 2006, 1114 und vom 30. Januar
2007 - X ZB 7/06 - VersR 2007, 1102).
Dieser Auffassung des VIII. Zivilsenats, die in Instanzrechtsprechung und
Literatur auf Kritik gestoßen ist (vgl. KG (1. ZS) MDR 2008, 1427; KG (1. ZS)
JurBüro 2008, 304, 305 f.; OLG Karlsruhe AGS 2007, 494, 495; Ruess MDR
2007, 1401, 1402 ff.; Schons AGS 2007, 284 f.; Hansens RVGreport 2008, 121
f., 127), haben sich zwischenzeitlich mehrere Senate des Bundesgerichtshofs
angeschlossen (vgl. BGH Beschlüsse 30. April 2008 - III ZB 8/08 - FamRZ
2008, 1346; vom 14. August 2008 - I ZB 103/07 - AGS 2008, 574; vom 24. Sep-
tember 2008 - IV ZB 26/07 - juris, Tz. 6 f. und vom 25. September 2008 - VII ZB
93/07 - juris, Tz. 5).
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3. Der Gesetzgeber hat auf diese Entwicklung in der Rechtsprechung ei-
niger Senate des Bundesgerichtshofs sowie die dagegen geäußerte Kritik rea-
giert und in dem mit Art. 7 Abs. 4 Nr. 3 des am 4. August 2009 verkündeten
Gesetz zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Be-
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rufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie
zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) einge-
führten § 15 a Abs. 2 RVG geregelt, dass ein Dritter sich auf eine im Gesetz
vorgesehene Gebührenanrechnung nur berufen kann, soweit er den Anspruch
auf eine der beiden Gebühren erfüllt hat, wegen eines dieser Ansprüche gegen
ihn ein Vollstreckungstitel besteht oder beide Gebühren in denselben Verfahren
gegen ihn geltend gemacht werden. § 15 a RVG ist gemäß Art. 10 des vorge-
nannten Gesetzes am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten.
Eine ausdrückliche Übergangsregelung hat der Gesetzgeber nicht ange-
ordnet. Infolgedessen ist streitig geworden, ob § 15 a RVG auch auf sog. Altfäl-
le Anwendung findet (offen gelassen in BGH Beschlüsse vom 9. September
2009 - Xa ZB 2/09 - Tz. 7, zur Veröffentlichung bestimmt und vom 29. Septem-
ber 2009 - X ZB 1/09 - Tz. 25, zur Veröffentlichung bestimmt).
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a) Wohl überwiegend wird in § 15 a RVG eine bloße Klarstellung der be-
stehenden Gesetzeslage gesehen (vgl. BGH Beschluss vom 2. September
2009 - II ZB 35/07 - ZIP 2009, 1927, 1928; OLG Koblenz AGS 2009, 420, 421;
OLG Düsseldorf AGS 2009, 372, 373; OLG Stuttgart AGS 2009, 371, 372; OLG
Köln Beschluss vom 14. September 2009 - 17 W 195/09 - juris, Tz. 9; LG Saar-
brücken Beschluss vom 3. September 2009 - 5 T 434/09 - juris, Tz. 14; AG
Bremen Beschluss vom 22. September 2009 - 9 C 213/09 - juris, Tz. 6; OVG
Münster AGS 2009, 447, 448; VG Osnabrück Beschluss vom 3. September
2009 - 5 A 273/08 - juris, Tz. 14; Nickel FamRB 2009, 324 f.; Henke AnwBl.
2009, 709; Hansens AnwBl. 2009, 535, 540; Enders JurBüro 2009, 393, 400;
Kallenbach, AnwBl. 2009, 442; siehe auch AG Wesel AGS 2009, 312).
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b) Nach der Gegenansicht ist durch § 15 a RVG die Rechtslage geändert
worden, so dass diese Vorschrift gemäß § 60 Abs. 1 RVG für Altfälle keine An-
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wendung findet (vgl. OLG Celle Beschluss vom 19. Oktober 2009 - 2 W
280/09 - juris, Tz. 8 ff.; OLG Celle (2. ZS) OLGR 2009, 749, 751 f.; OLG Hamm
Beschluss vom 25. September 2009 - 25 W 333/09 - juris, Tz. 36, 48 ff.; OLG
Bamberg Beschluss vom 15. September 2009 - 4 W 139/09 - n.v.; KG Be-
schlüsse vom 13. Oktober 2009 - 27 W 98/09 - juris, Tz. 16 ff. und vom 10. Sep-
tember 2009 - 27 W 68/09 - juris, Tz. 12 f.; KG Beschluss vom 13. August 2009
- 2 W 128/09 - juris, Tz. 6; OLG Frankfurt Beschluss vom 10. August 2009
- 12 W 91/09 - juris, Tz. 6, 8; VG Ansbach Beschluss vom 23. September 2009
- AN 19 M 08.30392 - juris, Tz. 3; siehe auch OLG Hamm (6. FamS) AGS 2009,
445 sowie LAG Hessen AGS 2009, 373).
c) Nach einer vermittelnden Meinung hat § 15 a Abs. 2 RVG zwar das
geltende Recht geändert. Dennoch findet diese Vorschrift ab dem Zeitpunkt
ihres Inkrafttretens auch auf Altfälle Anwendung, denn die Übergangsvorschrift
des § 60 Abs. 1 RVG greife hier nicht. Diese behandle die Berechnung der Ver-
gütung des Anwalts, nicht jedoch die Frage, was ein Dritter zu ersetzen habe.
Geregelt sei in § 60 RVG daher allein das Verhältnis des Anwalts zu seinem
Auftraggeber und nicht das des Letztgenannten zu einem ersatzpflichtigen Drit-
ten (vgl. OLG Dresden Beschluss vom 13. August 2009 - 3 W 793/09 - juris,
Tz. 7 und LG Berlin (82. ZK) AGS 2009, 367, 369 f.; ebenso wohl auch OLG
München Beschluss vom 13. Oktober 2009 - 11 W 2244/09 - juris, Tz. 7 f.).
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4. Der Senat schließt sich der erstgenannten, auch vom II. Zivilsenat be-
fürworteten Sichtweise an.
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Der Gesetzgeber hat mit § 15 a RVG das Rechtsanwaltsvergütungsge-
setz nicht geändert, sondern lediglich die seiner Ansicht nach bereits zuvor be-
stehende Gesetzeslage klargestellt. Danach betreffen Anrechnungsvorschriften
grundsätzlich nur das Innenverhältnis zwischen Anwalt und Mandant. Gegen-
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über dem Gegner musste und muss daher die Verfahrensgebühr auch dann in
voller Höhe festgesetzt werden, wenn schon eine Geschäftsgebühr entstanden
war. Sichergestellt wird durch § 15 a Abs. 2 RVG lediglich, dass ein Dritter nicht
mehr zu erstatten hat, als der gegnerische Anwalt von seinem Mandanten ver-
langen kann.
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a) Bereits unter Geltung der BRAGO entsprach es allgemeiner Meinung,
dass die Anrechnungsbestimmung nur den Rechtsanwalt im Innenverhältnis zu
seinem Mandanten hindere, nebeneinander sowohl die Geschäfts- als auch die
Prozessgebühr zu beanspruchen, die Anrechnung der vorgerichtlich entstande-
nen Geschäftsgebühr nach § 118 Abs. 2 BRAGO auf die im nachfolgenden ge-
richtlichen Verfahren angefallene Prozessgebühr (§ 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO)
jedoch im Kostenfestsetzungsverfahren grundsätzlich nicht zu berücksichtigen
sei (vgl. BGH Beschluss vom 14. September 2004 - VI ZB 22/04 - VersR 2005,
707; BGH Urteil vom 11. Dezember 1986 - III ZR 268/85 - WM 1987, 247, 248;
OLG München FamRZ 2008, 531; OLG Schleswig AnwBl. 1997, 125; OLG
Frankfurt AnwBl. 1985, 327; Müller-Rabe NJW 2009, 2913; Tomson NJW 2007,
267, 268; Ruess MDR 2007, 1401; Peter NJW 2007, 2298, 2299; Gerold/
Schmidt/v.Eicken/Madert BRAGO 15. Aufl. § 118 Rdn. 27 f.).
Entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Celle (vgl. Beschluss vom
19. Oktober 2009 - 2 W 280/09 - juris, Tz. 23) belegen auch die Beschlüsse des
I. Zivilsenats vom 20. Oktober 2005 (I ZB 21/05 - NJW-RR 2006, 501, 502), des
VII. Zivilsenats vom 27. April 2006 (VII ZB 116/05 - FamRZ 2006, 1114) und
des X. Zivilsenats vom 30. Januar 2007 (X ZB 7/06 - VersR 2007, 1102), dass
sich daran ebenfalls nach Inkrafttreten des RVG nichts ändern sollte. Zwar ging
es in diesen Entscheidungen nicht um die Frage der Anrechnung gemäß Vor-
bemerkung 3 Abs. 4 VV RVG im Kostenfestsetzungsverfahren. Vielmehr befas-
sen sie sich mit der Frage, ob der nicht anrechenbare Teil der Geschäftsgebühr
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aus Gründen der Prozessökonomie im Kostenfestsetzungsverfahren mit festge-
setzt werden kann bzw. ob er im Falle separater Geltendmachung im Erkennt-
nisverfahren streitwerterhöhend wirkt. Ein solcher nicht anrechenbarer Teil der
Geschäftsgebühr ergibt sich jedoch nur, wenn sich nicht im Rahmen der Kos-
tenfestsetzung gegenüber dem Gegner infolge der nach Vorbemerkung 3
Abs. 4 VV RVG vorzunehmenden Anrechnung die Verfahrensgebühr verringert,
sondern die Geschäftsgebühr. Denn eine Reduzierung der Verfahrensgebühr
würde dazu führen, dass die Geschäftsgebühr nicht nur zum Teil, sondern stets
in voller Höhe bestehen bliebe.
b) Nach dem Wortlaut des § 118 Abs. 2 BRAGO war die "Geschäftsge-
bühr … auf die entsprechenden Gebühren für ein anschließendes gerichtliches
… Verfahren anzurechnen". Das RVG brachte gegenüber § 118 Abs. 2 BRAGO
insoweit eine Änderung, als nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG nur noch
eine teilweise Anrechnung zu erfolgen hat. Beibehalten wurde jedoch die Sys-
tematik der Anrechnungsregelung, denn auch nach dem Wortlaut von Vorbe-
merkung 3 Abs. 4 VV RVG ist die "Geschäftsgebühr … auf die Verfahrensge-
bühr des gerichtlichen Verfahrens" anzurechnen.
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Den Gesetzesmaterialien zum RVG lässt sich ebenfalls nicht entnehmen,
dass der Gesetzgeber an dem bisher ungeminderten Ansatz der Prozessge-
bühr im Kostenfestsetzungsverfahren mit der Einführung des Rechtsanwalts-
vergütungsgesetzes etwas ändern wollte. Die Gesetzesbegründung nimmt
vielmehr ausdrücklich Bezug auf § 118 Abs. 2 BRAGO, ohne die damalige Pra-
xis zu missbilligen. Lediglich der Umfang der Anrechnung sollte geändert und
- das Vermittlungsverfahren nach § 52 a FGG a.F. ausgenommen - vereinheit-
licht werden (BT-Drucks. 15/1971, S. 209). Hätte der Gesetzgeber mit dem
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz die bisherige Rechtslage nicht nur hinsichtlich
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der Höhe, sondern auch der Richtung der Anrechnung ändern wollen, so hätte
er Entsprechendes in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebracht.
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Dementsprechend hat der Gesetzgeber das Rechtsanwaltsvergütungs-
gesetz nicht durch den neu eingefügten § 15 a RVG - etwa im Sinne einer Wie-
derherstellung der unter der BRAGO geltenden Rechtslage - geändert, sondern
lediglich die seiner Ansicht nach bereits bestehende Gesetzeslage klargestellt,
derzufolge die Anrechnung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG grundsätz-
lich nur das Innenverhältnis zwischen Anwalt und Mandant betrifft und sich im
Verhältnis zu Dritten, also insbesondere im Kostenfestsetzungsverfahren, nicht
auswirkt (vgl. BGH Beschluss vom 2. September 2009 - II ZB 35/07 - ZIP 2009,
1927, 1928). Gleichzeitig hat der Gesetzgeber die Konstellationen präzisiert, in
denen sich auch ein Dritter ausnahmsweise auf die Anrechnung einer Gebühr
auf eine andere berufen kann.
c) Das folgt aus Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien zu § 15 a
RVG (zweifelnd BGH Beschluss vom 29. September 2009 - X ZB 1/09 - Tz. 21
ff., zur Veröffentlichung bestimmt).
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Der Entwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz zur Modernisierung
von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer
Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung der Verwal-
tungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und kostenrechtlicher Vor-
schriften (BT-Drucks. 16/11385) vom 17. Dezember 2008 sah eine neue Rege-
lung in dem hier fraglichen Punkt des RVG noch nicht vor.
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Ausweislich der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsaus-
schusses (BT-Drucks. 16/12717, S. 2) sollte der bisher nicht im Gesetz definier-
te Begriff der Anrechnung in § 15a RVG legaldefiniert werden, um unerwünsch-
te Auswirkungen zum Nachteil des Auftraggebers zu vermeiden und den mit der
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Anrechnung verfolgten Gesetzeszweck, dass der Rechtsanwalt für eine Tätig-
keit nicht doppelt honoriert wird, zu wahren. In der nachfolgenden Einzelbe-
gründung (BT-Drucks. 16/12717, S. 58) führt der Rechtsausschuss weiter aus,
dass das Verständnis des Bundesgerichtshofs von der Anrechnungsregelung in
Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG zu unbefriedigenden Ergebnissen führe, die
den Absichten zuwider liefen, die der Gesetzgeber mit dem Rechtsanwaltsver-
gütungsgesetz verfolgt habe. Ziel der Neuregelung in § 15 a RVG sei es daher,
den mit den Anrechnungsvorschriften verfolgten Gesetzeszweck zu wahren,
zugleich aber unerwünschte Auswirkungen zum Nachteil des Auftraggebers zu
vermeiden.
Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung keine
Änderung der Rechtslage vornehmen, sondern nur eine in der Rechtsprechung
entstandene Auslegung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes, die seiner In-
tention nicht entsprach, unterbinden und das schon bisher nach seinem Willen
unter dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz in Anlehnung an die Praxis zu
§ 118 Abs. 2 BRAGO geltende Recht klarstellen wollte.
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5. Nachdem somit in § 15 a RVG keine Gesetzesänderung gesehen wer-
den kann, sondern nur eine vom Gesetzgeber gewollte Klarstellung der gelten-
den Rechtslage, hat der Senat von dieser Rechtslage auszugehen. Einer Anru-
fung des Großen Senats für Zivilsachen bedarf es trotz der bisher abweichen-
den Auslegung der Anrechnungsregelung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4
VV RVG durch andere Senate des Bundesgerichtshofs deshalb nicht mehr (vgl.
BGH Beschluss vom 2. September 2009 - II ZB 35/07 - ZIP 2009, 1927, 1928).
Eben so wenig liegt ein Fall der Rückwirkung vor.
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Da keiner der Ausnahmefälle des § 15 a Abs. 2 RVG ersichtlich ist, hat
die Rechtspflegerin die Verfahrensgebühr zu Recht in voller Höhe festgesetzt.
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Hahne
Weber-Monecke
Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Wagenitz ist urlaubs-
bedingt verhindert zu unter-
schreiben.
Hahne
Klinkhammer Schilling
Vorinstanzen:
LG Stuttgart, Entscheidung vom 08.08.2007 - 20 O 219/07 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 02.10.2007 - 8 W 375/07 -