Urteil des BGH vom 09.05.2007

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 162/07 Verkündet
am:
29. September 2008
Vondrasek
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 823 Abs. 2 Be; StGB § 266 a; AO §§69, 34; GmbHG § 64 Abs. 2
Das Nichtabführen von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung im Stadium der
Insolvenzreife einer GmbH führte auch nach der früheren Ansicht des Senats
(BGHZ 146, 264, aufgegeben durch Sen.Urt. v. 14. Mai 2007 - II ZR 48/06, ZIP 2007,
1265) zu einem Schadensersatzanspruch der Einzugsstelle gegen den Geschäfts-
führer, wenn dieser an andere Gesellschaftsgläubiger trotz der Insolvenzreife Zah-
lungen geleistet hat, die nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns
vereinbar waren; in einem solchen Fall konnte sich der Geschäftsführer nicht auf eine
Pflichtenkollision berufen.
BGH, Urteil vom 29. September 2008 - II ZR 162/07 - OLG Naumburg
LG
Dessau
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Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Ver-
handlung vom 29.
September 2008 durch den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Goette und die Richter Kraemer, Dr. Strohn, Caliebe und Dr. Reichart
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Naumburg vom 9. Mai 2007 aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 6. Zivilkammer
des Landgerichts Dessau vom 19. Januar 2007 wird zurückgewie-
sen.
Die Kosten der Rechtsmittelverfahren trägt der Beklagte.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Beklagte war Geschäftsführer der B. mbH. Diese
war seit April 2004 insolvenzreif. Nach Eintritt der Insolvenzreife beglich der
Beklagte noch Schulden der Gesellschaft. Unter anderem zahlte er die Netto-
löhne aus. Die für die Zeit vom 1. April bis zum 31. Juli 2004 fälligen Arbeit-
nehmeranteile zur Sozialversicherung führte er nicht ab. Über das Vermögen
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der Gesellschaft wurde aufgrund Antrags vom 25. August 2004 das Insolvenz-
verfahren eröffnet. Die Klägerin als die für den Betrieb des Beklagten zuständi-
ge Einzugsstelle für Sozialversicherungsbeiträge verlangt von dem Beklagten
Ersatz der nicht abgeführten Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung in Hö-
he von 6.904,66 €.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat
sie abgewiesen. Dagegen richtet sich die von dem Berufungsgericht zugelas-
sene Revision der Klägerin.
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Entscheidungsgründe:
Die Revision ist begründet und führt zur Wiederherstellung des landge-
richtlichen Urteils.
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I. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Beklagte habe sich nicht
nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 a StGB schadensersatzpflichtig gemacht,
indem er die fälligen Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung trotz vorhan-
dener Mittel nicht abgeführt habe. Es fehle zumindest an einem Verschulden
i.S. dieser Vorschriften. Der Beklagte sei nämlich andererseits nach § 64 Abs. 2
GmbHG verpflichtet gewesen, nach Eintritt der Insolvenzreife keine Zahlungen
mehr zu Lasten des Gesellschaftsvermögens zu leisten. In dieser Pflichtenkolli-
sion komme der Massesicherungspflicht aus § 64 Abs. 2 GmbHG der Vorrang
zu.
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II. Diese Beurteilung entspricht schon nicht der älteren Rechtsprechung
des Senats vor der Rechtsprechungsänderung durch die - nach Erlass des Be-
rufungsurteils verkündete - Entscheidung vom 14. Mai 2007 (II ZR 48/06,
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ZIP 2007, 1265). Erst recht ist sie nach der neuen Rechtsprechung unzutref-
fend.
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1. Nach der Senatsrechtsprechung bis zu der Entscheidung vom 14. Mai
2007 konnte der Geschäftsführer einer GmbH nach § 64 Abs. 2 GmbHG der
Gesellschaft bzw. dem Insolvenzverwalter zum Ersatz verpflichtet sein, wenn er
im Stadium der Insolvenzreife Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung,
Lohnsteuer oder Umsatzsteuer abführte. Kam er seiner Massesicherungspflicht
jedoch nach, verletzte er damit seine Pflicht zur Abführung der Arbeitnehmeran-
teile aus §§ 28 d, 28 e Abs. 1 SGB IV und § 266 a Abs. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1
StGB bzw. zur Zahlung der Lohn- oder Umsatzsteuer aus § 41 a EStG, § 18
UStG i.V.m. §§ 69, 34 AO. Der Senat hatte u.a. aus Gründen der insolvenz-
rechtlichen Gleichbehandlung aller Gesellschaftsgläubiger erwogen, wegen
dieser Pflichtenkollision seien das deliktische Verschulden des Geschäftsfüh-
rers bzw. seine steuerrechtliche Haftung ausgeschlossen und der Geschäfts-
führer sei daher nicht nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 a StGB der Einzugs-
stelle gegenüber schadensersatzpflichtig bzw. nach §§ 69, 34 AO dem Finanz-
amt gegenüber haftbar (BGHZ 146, 264, 274 f.; Sen.Urt. v. 18. April 2005
- II ZR 61/03, ZIP 2005, 1026, 1028 f.).
Das galt indes nur dann, wenn der Geschäftsführer seine Massesiche-
rungspflicht lückenlos erfüllte, also gar keine Zahlungen aus dem Gesell-
schaftsvermögen leistete, mit Ausnahme solcher Zahlungen, die auch nach
damaliger Betrachtungsweise mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäfts-
manns vereinbar waren. Erfüllte er dagegen über diesen Rahmen hinaus For-
derungen von Gesellschaftsgläubigern, unterließ es aber, dann auch entspre-
chende Zahlungen an den Sozialversicherungsträger bzw. das Finanzamt zu
erbringen, konnte er sich schon nach der alten Rechtsprechung des Senats
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nicht auf eine Pflichtenkollision berufen. Er musste bei seinen Zahlungen viel-
mehr zumindest den Grundsatz der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger
berücksichtigen (BGHZ 146, 264, 277).
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Nach diesen Grundsätzen ist der Beklagte - da auch die übrigen Tatbe-
standsvoraussetzungen erfüllt sind (dazu siehe unten III) - nach § 823 Abs. 2
BGB i.V.m. § 266 a StGB zum Schadensersatz verpflichtet. Er hat die Arbeit-
nehmeranteile zur Sozialversicherung nicht abgeführt, wohl aber an andere
Gläubiger der Gesellschaft Zahlungen erbracht. Damit kann er sich nicht - ohne
Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens - auf eine etwaige
Pflichtenkollision im Verhältnis zu seiner Pflicht aus § 64 Abs. 2 GmbHG beru-
fen.
2. Nach der neuen, mit der Entscheidung vom 14. Mai 2007 eingeleiteten
Rechtsprechung des Senats, mit der er sich der Ansicht des 5. Strafsenats des
Bundesgerichtshofs (BGHSt 48, 307; Beschl. v. 9. August 2005 - 5 StR 67/05,
ZIP 2005, 1678) angeschlossen hat, haftet der Beklagte ebenso.
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Danach macht sich ein Geschäftsführer nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m.
§ 266 a StGB schadensersatzpflichtig bzw. nach §§ 69, 34 AO haftbar, wenn er
nach Ablauf der längstens dreiwöchigen Frist zur Stellung des Antrags auf In-
solvenzeröffnung nach § 64 Abs. 1 GmbHG seine Pflicht zur Abführung von
Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung bzw. von Lohn- oder Umsatzsteu-
er nicht erfüllt, und er handelt umgekehrt mit der Sorgfalt eines ordentlichen
Geschäftsleiters und ist daher gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG nicht ersatz-
pflichtig, wenn er seiner Abführungspflicht nachkommt (Sen.Urt. v. 14. Mai 2007
- II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265; v. 2. Juni 2008 - II ZR 27/07, ZIP 2008, 1275
Tz. 6). Diese Rechtsprechung steht in Übereinstimmung auch mit der Recht-
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sprechung des Bundesfinanzhofs, der annimmt, dass die Pflicht zur Abführung
der Steuern und die bei Nichterfüllung dieser Pflicht aus §§ 69, 34 AO folgende
persönliche Haftung des Geschäftsführers grundsätzlich auch im Stadium der
Insolvenzreife - jedenfalls nach Ablauf der Insolvenzantragsfrist - besteht (Urt.
v. 27. Februar 2007 - VII R 67/05, ZIP 2007, 1604, Tz. 16 ff.; Beschl. v. 4. Juli
2007 - VII B 268/06, BFH/NV 2007, 2059). Der während der Insolvenzantrags-
frist nach der strafrechtlichen Judikatur gegebene Rechtfertigungsgrund entfällt
rückwirkend, wenn der Geschäftsführer die Frist - wie hier - verstreichen lässt,
ohne einen Insolvenzantrag zu stellen. Dann ist er verpflichtet, die rückständi-
gen Arbeitnehmeranteile bzw. Steuern nachzuzahlen und die künftigen Anteile
bzw. Steuern zu den jeweiligen Fälligkeitsterminen abzuführen.
III. Der Senat kann aufgrund des festgestellten Sachverhalts nach § 563
Abs. 3 ZPO in der Sache entscheiden, weil entgegenstehende Feststellungen
nicht zu erwarten sind.
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In der Zeit vom 1. April bis zum 31. Juli 2004 hatte die Gesellschaft un-
streitig genügend liquide Mittel, um die fälligen Arbeitnehmeranteile zur Sozial-
versicherung zu zahlen. Ob der Beklagte Alleingeschäftsführer war, braucht
nicht aufgeklärt zu werden. Denn auch als Mitgeschäftsführer wäre er für die
Erfüllung der Abführungspflicht verantwortlich gewesen (Sen.Urt. v. 2. Juni
2008 - II ZR 27/07, ZIP 2008, 1275 Tz. 10).
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Der Beklagte handelte vorsätzlich. Denn es ist davon auszugehen, dass
er mit Wissen und Wollen zumindest seine entsprechende Überwachungspflicht
verletzt hat.
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Der Beklagte könnte sich auch nicht darauf berufen, dass bei einem
rechtmäßigen Verhalten kein Schaden bei der Klägerin entstanden wäre, weil
der Insolvenzverwalter eine Zahlung an die Klägerin nach §§ 129 ff. InsO ange-
fochten hätte (vgl. BGH, Urt. v. 14. November 2000 - VI ZR 149/99, ZIP 2001,
80, 82; v. 18. April 2005 - II ZR 61/03, ZIP 2005, 1026, 1029). Die Klägerin hat
sich schon in der Klagebegründungsschrift darauf berufen, dass die tatsächli-
chen Voraussetzungen einer Insolvenzanfechtung nicht erfüllt gewesen wären.
Der Beklagte hat Gegenteiliges nicht geltend gemacht, und auch das Beru-
fungsgericht hat die Voraussetzungen einer Insolvenzanfechtung nicht festge-
stellt.
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Goette Kraemer Strohn
Caliebe Reichart
Vorinstanzen:
LG Dessau, Entscheidung vom 19.01.2007 - 6 O 628/06 -
OLG Naumburg, Entscheidung vom 09.05.2007 - 5 U 21/07 -