Urteil des BGH vom 08.06.2004
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 230/03
Verkündet am:
8. Juni 2004
Böhringer-Mangold,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:  ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
ZPO (2002) §§ 529 Abs. 1 Nr. 1, 531 Abs. 1 Nr. 1
a) Befaßt sich ein vom erstinstanzlichen Gericht eingeholtes Gutachten eines Sach-
verständigen  nicht  mit  allen  entscheidungserheblichen  Punkten,  hat  das  Beru-
fungsgericht  von  Amts  wegen  auf  eine  Vervollständigung  des  Gutachtens  hinzu-
wirken.
b) Konkrete  Anhaltspunkte,  die  Zweifel  an  der  Richtigkeit  und  Vollständigkeit  der
Feststellungen  des  erstinstanzlichen  Gerichts  begründen,  können  sich  aus  einer
fehlerhaften Rechtsanwendung ergeben.
c) Einem erstmals in zweiter Instanz gestellten Antrag auf Anhörung eines Sachver-
ständigen gemäß §§ 402, 397 ZPO hat das Berufungsgericht stattzugeben, wenn
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er  entscheidungserhebliche  Gesichtspunkte  betrifft,  die  das  Gericht  des  ersten
Rechtszugs  aufgrund  einer  fehlerhaften  Beurteilung  der  Rechtslage  übersehen
hat.
BGH, Urteil vom 8. Juni 2004 - VI ZR 230/03 -  OLG Koblenz
LG    Trier
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Der  VI. Zivilsenat  des  Bundesgerichtshofs  hat  auf  die  mündliche  Verhandlung
vom  8.  Juni  2004  durch  die  Vorsitzende  Richterin  Dr.  Müller,  den  Richter
Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf  die  Revision  der  Klägerin  wird  das  Urteil  des  12. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Koblenz vom 7. Juli 2003 aufgehoben.
Die  Sache  wird  zur  neuen  Verhandlung  und  Entscheidung,  auch
über  die  Kosten  des  Revisionsverfahrens,  an  das  Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall
vom  31. Oktober  1991  geltend,  bei  dem  der  Beklagte  zu 1  mit  seinem  bei  der
Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten PKW auf den von der Klägerin gesteuer-
ten PKW aufgefahren ist. Die volle Haftung der Beklagten ist zwischen den Par-
teien unstreitig. Die Klägerin erlitt ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Die
Beklagte zu 2 zahlte deshalb vorprozessual ein Schmerzensgeld von 2.800 DM.
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Die Parteien streiten darum, ob die Beklagten auch für die von der Kläge-
rin geltend gemachten Beschwerden einzustehen haben, soweit diese über den
31. Dezember 1991 hinaus andauerten.
Die  Klägerin  hat  die  Auffassung  vertreten,  ihre  Beschwerden  seien  ins-
gesamt unfallbedingt. Sie hat ein angemessenes Schmerzensgeld, Ersatz ihres
materiellen  Schadens  in  Höhe  von  46.826,09 DM  sowie  die  Feststellung  der
Ersatzverpflichtung  der  Beklagten hinsichtlich  aller  weiteren  Schäden  aus  dem
Unfall gefordert.
Das Landgericht hat der Klägerin über den vorprozessual bezahlten Be-
trag hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von 613,55 € nebst Zinsen zugespro-
chen  und  die  Klage im  übrigen abgewiesen. Mit  der  Berufung hat  die  Klägerin
unter Beibehaltung der Anträge im übrigen über die gezahlten und erstinstanz-
lich zuerkannten Beträge hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von mindestens
16.000 DM  begehrt.  Das  Oberlandesgericht hat  die  Berufung  zurückgewiesen.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr
Begehren aus der Berufungsinstanz weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht geht davon aus, daß die Klägerin durch den Unfall
verletzt wurde und ihre Beschwerden bis Dezember 1991 unfallbedingt waren.
Sie habe jedoch nicht bewiesen, daß der Unfall auch Ursache ihrer Beschwer-
den nach Dezember 1991 sei. Das Landgericht habe zwar nicht berücksichtigt,
daß  diese Frage  nach  § 287  Abs. 1  ZPO  zu beurteilen  sei.  Auch  nach  diesem
Beweismaß  lasse  sich  aber  eine  überwiegende  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß
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der  Unfall  ursächlich  für  die  Beschwerden  gewesen  sei,  nicht  feststellen.  Als
Ursache  der  Beschwerden  komme  auch  eine  degenerative  Veränderung  der
Wirbelsäule in Betracht. Die unspezifischen Beschwerden der Klägerin könnten
im  Zusammenhang  mit  einer  Halswirbelsäulenverletzung  auftreten,  ließen  je-
doch nicht hinreichend sicher auf eine solche Verletzung schließen. Eine über-
wiegende Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Unfall ursächlich für die Beschwer-
den  gewesen  sei,  ergebe  sich  aus  dem  Gutachten  nicht.  Die  erstmals  mit  der
Berufungsbegründung  beantragte  Ladung  des  Sachverständigen  sei  nicht  ge-
boten gewesen. Das Gutachten sei widerspruchsfrei, nachvollziehbar und über-
zeugend. Das Landgericht habe daher zu einer Ladung des Sachverständigen
von  Amts  wegen  keinen  Anlaß  gehabt.  Unterlasse  eine  Partei  es, in  erster  In-
stanz die Anhörung des Sachverständigen zu beantragen, könne sie das wegen
§ 531 Abs. 2 ZPO nicht in der Berufung nachholen.
II.
Die  Ausführungen  des  Berufungsgerichts  halten  einer  revisionsrechtli-
chen Überprüfung nicht stand.
1.  Allerdings  beanstandet  die  Revision  ohne  Erfolg,  das  Berufungsurteil
genüge nicht den Anforderungen an die Sachverhaltsdarstellung im Berufungs-
urteil nach neuem Recht (§ 26 Nr. 5 EGZPO; § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
a) Hiernach bedarf es keines förmlichen Tatbestandes. An dessen Stelle
muß  das  Berufungsurteil  jedoch  auf  die  tatsächlichen  Feststellungen im  ange-
fochtenen Urteil Bezug nehmen und eine Darstellung etwaiger Änderungen und
Ergänzungen  enthalten.  Ohne  solche  ausreichenden  tatbestandlichen  Darstel-
lungen  fehlt  dem  Berufungsurteil  die  für  die  revisionsrechtliche  Nachprüfung
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nach  den  §§ 545,  559  ZPO  erforderliche  tatsächliche  Beurteilungsgrundlage.
Gleiches  gilt  für  tatbestandliche  Darstellungen,  die  derart  widersprüchlich,  un-
klar  oder  lückenhaft  sind,  daß  sie  die  tatsächlichen  Grundlagen  der  Entschei-
dung  nicht  mehr  zweifelsfrei  erkennen  lassen  (vgl.  BGHZ  156,  97,  99;  BGH,
Urteile  vom  7. November  2003  - V ZR 141/03 -  WM  2004,  894,  895  und  vom
6. Juni  2003  - V ZR 392/02 -  NJW-RR  2003,  1290,  1291).  In  diesen  Fällen  ist
das Berufungsurteil grundsätzlich von Amts  wegen aufzuheben (vgl. Senatsur-
teil  vom  10. Februar  2004  - VI ZR 94/03 -  NJW  2004,  1389,  1390  m.w.N.,  zur
Veröffentlichung  in  BGHZ  bestimmt;  BGH,  Urteil  vom  22. Dezember  2003
- VIII ZR 122/03 - BGHReport 2004, 474, 475; vgl. zum früheren Recht Senats-
urteil  BGHZ  73,  248).  Von  einer  Aufhebung  kann  ausnahmsweise  abgesehen
werden,  wenn  sich  die  notwendigen  tatsächlichen  Grundlagen  der  Entschei-
dung  hinreichend  deutlich  aus  den  Urteilsgründen  ergeben.  Diese  Grundätze
gelten  auch  für  ein  Berufungsurteil,  das  - wie  im  Streitfall -  die  Revision  nicht
zuläßt,  aber  der  Nichtzulassungsbeschwerde  unterliegt  (vgl.  Senatsurteil  vom
30. September 2003 - VI ZR 438/02 - VersR 2004, 259, 260).
b)  Das  angefochtene  Urteil  genügt  diesen  Anforderungen.  Es  enthält
zwar  keine  Bezugnahme  auf  die  tatsächlichen  Feststellungen  im  erstinstanzli-
chen  Urteil.  Eine  solche  war  aber  entbehrlich,  weil  die  tatsächlichen  Feststel-
lungen erster Instanz neben den Änderungen und Ergänzungen im Berufungs-
urteil ausreichend wiedergegeben werden. Eine ausdrückliche Bezugnahme ist
nicht zwingend erforderlich. § 540 ZPO soll die Berufungsgerichte von Schreib-
arbeit entlasten und erlaubt dazu eine Bezugnahme ohne eine eigene Darstel-
lung  zu  verbieten  (vgl.  Begründung  der  Beschlüsse  des  Rechtsausschusses
BT-Drucks.  14/6036  S.   124;  wie  hier  Thomas/Putzo/Reichold,  ZPO,  25. Aufl.,
§ 540  Rdn. 1;  a.A.  Meyer-Seitz  in:  Hannich/Meyer-Seitz,  ZPO-Reform,  2002,
§ 540 Rdn. 6). Die Möglichkeit revisionsrechtlicher Überprüfung wird im Streitfall
nicht beeinträchtigt.
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2.  Die  Revision  beanstandet  aber  mit  Erfolg,  daß  das  Berufungsgericht
gegen  §§ 529  Abs. 1  Nr. 1,  531  Abs. 2  Satz 1  Nr. 1  ZPO  verstoßen  hat.  Das
Landgericht  hatte  seiner  Entscheidung  wie  schon  seinem  Beweisbeschluß
§ 286 ZPO statt § 287 ZPO und damit das falsche Beweismaß zugrunde gelegt.
Das vom Landgericht eingeholte Gutachten enthält zu der entscheidungserheb-
lichen  Frage,  ob  der  Ursachenzusammenhang  zwischen  dem  Unfall  und  den
andauernden Beschwerden der Klägerin überwiegend wahrscheinlich ist, keine
Angaben.  Es  war  daher  unvollständig.  Das  Berufungsgericht  hat  das  erkannt,
hat  aber  das  Gutachten  dennoch  seiner  Entscheidung  zugrunde  gelegt  (s.u.
zu a)). Eine Ergänzung durch weitere Begutachtung oder durch eine Anhörung
des  Sachverständigen  war  bei  fehlerfreier  Rechtsanwendung  bereits  in  erster
Instanz erforderlich, ist aber unterblieben. Der Verstoß des Landgerichts gegen
§ 287  ZPO  begründete  Zweifel  an  der  Richtigkeit  seiner  Feststellungen  zur
Kausalität gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, die eine Vervollständigung des Gut-
achtens durch das Berufungsgericht von Amts wegen erforderten (§ 411 Abs. 3
ZPO;  s.u.  zu b)).  Der  entsprechende  Antrag  der  Klägerin  in  der  Berufungsbe-
gründung  war  nach  § 531  Abs. 2  Satz 1  Nr. 1  ZPO  zuzulassen  (s.u.  zu c)).  Im
einzelnen:
a)  Das  Berufungsgericht  geht  im  Ansatzpunkt  ohne  Rechtsfehler  davon
aus, daß die Frage, ob die nach Dezember 1991 noch vorhandenen Beschwer-
den  der  Klägerin  auf  dem  Unfall  oder  dem  unfallbedingten  HWS-
Schleudertrauma beruhten, unter Anwendung des § 287 Abs. 1 ZPO zu beant-
worten ist. Diese Frage nach dem Umfang des eingetretenen Schadens ist eine
Frage  der  haftungsausfüllenden  Kausalität.  Der  Tatrichter  unterliegt  insoweit
nicht den strengen Anforderungen des § 286 ZPO, sondern ist nach Maßgabe
des § 287 ZPO freier gestellt (st.Rspr., vgl. Senatsurteile vom 21. Oktober 1986
- VI ZR 15/85 -  VersR  1987,  310;  vom  20. November  2001  - VI ZR 77/00 -
VersR 2002, 200, 201; vom 28. Januar 2003 - VI ZR 139/02 - VersR 2003, 474,
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476; vom 4. November 2003 - VI ZR 28/03 - VersR 2004, 118, 119). Zwar kann
er  auch  die  haftungsausfüllende  Kausalität  nur  feststellen,  wenn  er  von  dem
Ursachenzusammenhang  überzeugt  ist.  An  das  zur  Überzeugungsbildung  er-
forderliche  Beweismaß  werden  aber  geringere  Anforderungen  gestellt.  Es  ge-
nügt  je  nach  Lage  des  Einzelfalles  eine  höhere  oder  deutlich  höhere  Wahr-
scheinlichkeit  (vgl.  Senatsurteile  BGHZ  149,  63,  66;  vom  21. Oktober  1986
- VI ZR 15/85 - aaO; vom 22. September 1992 - VI ZR 293/91 - VersR 1993, 55,
56; vom 28. Januar 2003 - VI ZR 139/02 - aaO).
Gleichwohl  konnte  das  Berufungsgericht  auf  der  Grundlage  des  erstin-
stanzlich eingeholten Gutachtens die haftungsausfüllende Kausalität nicht ohne
weitere  Sachaufklärung  verneinen.  Das  interdisziplinäre  Gutachten  der  Sach-
verständigen  befaßt  sich nicht  mit  der Frage,  ob  eine  nach  § 287  ZPO ausrei-
chende  (überwiegende) Wahrscheinlichkeit  des  Ursachenzusammenhangs  be-
steht,  sondern  ausschließlich  mit  der  naturwissenschaftlichen  Nachweisbarkeit
des Ursachenzusammenhangs. Die Sachverständigen waren, worauf die Revi-
sion zutreffend hinweist, im Beweisbeschluß des Landgerichts auch nur hierzu
befragt worden. Die hierdurch bedingte Unvollständigkeit des Gutachtens kann
nicht  zu  Lasten  der  Klägerin  gehen,  weil  sie  auf  der  fehlerhaften  Anwendung
des Beweismaßes durch das Landgericht beruht.
b) Unter diesen Umständen beanstandet die Revision mit Erfolg, daß das
Berufungsgericht gegen § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 ZPO verstoßen hat, weil
es keine Vervollständigung des Gutachtens veranlaßt hat.
aa)  Das  interdisziplinäre  Gutachten  der  Sachverständigen  befaßt  sich
- wie bereits erwähnt - nicht mit der für § 287 ZPO ausreichenden (überwiegen-
den)  Wahrscheinlichkeit,  sondern  mit  der  naturwissenschaftlichen  Beweisbar-
keit des Ursachenzusammenhangs.
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bb) Das Berufungsgericht durfte die auf Grund dieses Gutachtens getrof-
fenen  Feststellungen  seiner  Entscheidung  nicht  zugrunde  legen.  Zwar  ist  ein
Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 1 ZPO grundsätzlich an die
vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden. Diese
Bindung  entfällt  aber,  wenn  konkrete  Anhaltspunkte  Zweifel  an  der  Richtigkeit
oder  Vollständigkeit  entscheidungserheblicher  Feststellungen  begründen  und
deshalb  eine  erneute  Feststellung  gebieten  (§ 529  Abs. 1  Nr. 1  Halbsatz 2
ZPO).
(1) Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare recht-
liche  oder  tatsächliche  Einwand  gegen  die  erstinstanzlichen  Feststellungen.
Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der
Unrichtigkeit  ohne  greifbare  Anhaltspunkte  wollte  der  Gesetzgeber  ausschlie-
ßen  (vgl.  Meyer-Seitz  aaO,  § 529  Rdn. 20;  MünchKomm-ZPO/Aktualisierungs-
band-Rimmelspacher,  2. Auflage,  § 529  Rdn. 11 f.;  Musielak/Ball,  ZPO,
3. Auflage,  § 529  Rdn. 9 f.;  Thomas/Putzo/Reichold,  aaO,  § 529  Rdn. 3;  Rim-
melspacher, NJW-Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposion, 2003, 11,
15;  derselbe,  NJW  2002,  1897,  1900  f.).  Konkrete  Anhaltspunkte  können  sich
aus gerichtsbekannten Tatsachen, aus dem Vortrag der Parteien oder aus dem
angefochtenen  Urteil  selbst  ergeben  (vgl.  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hart-
mann,  ZPO,  62.  Aufl.,  § 529  Rdn. 4;  Meyer-Seitz,  aaO,  Rdn.  20 f.,  26;  Musie-
lak/Ball, aaO, Rdn. 9 f.; Thomas/Putzo/Reichold, aaO, Rdn. 2; Begründung der
Beschlüsse  des  Rechtsausschusses  BT-Drucks.  14/6036  S. 123),  aber  auch
aus  Fehlern,  die  dem  Eingangsgericht  bei  der  Feststellung  des  Sachverhalts
unterlaufen sind (vgl. Senatsurteil vom 8. Juni 2004 - VI ZR 199/03 -; BGH, Ur-
teile  vom  12. März  2004  - V ZR 257/03 -  WM  2004,  845,  846;  vom  19. März
2004  - V ZR 104/03 -  je  zur  Veröffentlichung  in  BGHZ  bestimmt;  Begründung
des  Regierungsentwurfs  BT-Drucks.  14/4722,  S. 100;  MünchKommZPO/Aktu-
alisierungsband-Rimmelspacher,  aaO,  § 529  Rdn. 12;  Rimmelspacher,  NJW-
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Sonderheft  aaO,  11,  15;  derselbe,  NJW  2002,  1897,  1901;  Stackmann,  NJW
2003,  169,  171).  Wurden  Tatsachenfeststellungen  auf  der  Grundlage  eines
Sachverständigengutachtens  getroffen,  kann  auch  die  Unvollständigkeit  des
Gutachtens  Zweifel  an  der  Richtigkeit  und  Vollständigkeit  der  Feststellungen
wecken (vgl. Senatsurteil vom 15. Juli 2003 - VI ZR 361/02 - NJW 2003, 3480,
3481;  Musielak/Ball,  aaO,  § 529  Rdn. 18;  Zöller/Gummer/Heßler,  ZPO,
24. Aufl., § 529 Rdn. 9).
Hiernach begründeten im Streitfall konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der
Vollständigkeit der Feststellungen:
Das angefochtene Urteil zeigt die Verkennung der Rechtslage durch das
Landgericht  und  die  darauf  beruhende  Verkürzung  der  Beweiserhebung  auf.
Das Berufungsgericht führt dazu ohne Rechtsfehler aus, das Landgericht habe
nicht  hinreichend  berücksichtigt,  daß  § 287  ZPO  geringere  Anforderungen  an
die Überzeugungsbildung stelle. Die Unvollständigkeit der Begutachtung ergibt
sich hieraus unmittelbar.
(2)  Das  hätte  beim  Berufungsgericht  Zweifel  an  der  Vollständigkeit  und
an  der  Richtigkeit  der  entscheidungserheblichen  Feststellungen  des  Landge-
richts zur Kausalität wecken müssen. Solche Zweifel sind bereits dann begrün-
det, wenn aus der Sicht des Berufungsgerichts eine gewisse - nicht notwendig
überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür  besteht,  daß im  Fall  der  Beweiserhe-
bung  die  erstinstanzlichen  Feststellungen  keinen  Bestand  haben  werden  (vgl.
Senatsurteile  vom  15. Juli  2003  - VI ZR 361/02 -  aaO  und  vom  8. Juni  2004
- VI ZR 199/03 -  zum  Abdruck  in  BGHZ  vorgesehen;  Zöller/Gummer/Heßler,
ZPO, 24. Auflage, § 529 Rdn. 3; Meyer-Seitz, aaO, § 529 Rdn. 29; vgl. Begrün-
dung  des  Rechtsausschusses  BT-Drucks.  14/6036  S. 124;  geringere  Anforde-
rungen:  MünchKommZPO/Aktualisierungsband-Rimmelspacher,  aaO,  § 529
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Rdn. 21; derselbe, NJW 2002, 1897, 1902 f. und NJW-Sonderheft aaO, 11, 16;
vgl. auch BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluß vom 12. Juni 2003
- 1 BvR 2285/02 - NJW  2003,  2524;  kritisch  Greger  NJW  2003,  2882,  2883).
Die Anforderungen dürfen nicht überspannt werden. Es genügt, wenn das Beru-
fungsgericht aufgrund konkreter Anhaltspunkte in einer rational nachvollziehba-
ren  Weise  zu  "vernünftigen“  Zweifeln  kommt,  das  heißt,  zu  Bedenken,  die  so
gewichtig  sind,  daß  sie  nicht  ohne  weiteres  von  der  Hand  gewiesen  werden
können  (vgl.  Meyer-Seitz,  aaO,  § 529  Rdn. 29;  Begründung  des  Rechtsaus-
schusses BT-Drucks. 14/6036 S.  124).
Diese  Voraussetzungen  sind  hier  zu  bejahen.  Es  besteht  eine  gewisse
Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Landgericht bei Anwendung des § 287 ZPO
zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Die zahlreich vorliegenden ärztlichen
Stellungnahmen  wie  auch  das  Gutachten  halten  nämlich  zum  Teil  einen  Ursa-
chenzusammenhang mit dem Unfall für möglich oder wahrscheinlich.
(3)  Eine  ergänzende  Beweisaufnahme  durch  das  Berufungsgericht  war
nach  allem  erforderlich.  Eine  erneute  Prüfung  und  Entscheidung  ist immer  ge-
boten, wenn - wie im Streitfall - die konkrete Möglichkeit eines anderen Beweis-
ergebnisses  besteht  (so  auch  BGH,  Urteil  vom  12. März  2004  - V ZR 257/03 -
aaO  847,  zur  Veröffentlichung  in  BGHZ  vorgesehen;  Meyer-Seitz,  aaO,  § 529
Rdn. 28; Begründung des Rechtsausschusses BT-Drucks. 14/6036 S. 124). Die
Verpflichtung  zu  ergänzenden  Feststellungen  (§ 529  Abs. 1  Nr. 1  Halbsatz 2
ZPO)  ergibt  sich  hier  aus  dem  Umstand,  daß  ein  unvollständiges  Gutachten
keine  Entscheidungsgrundlage  sein  kann  (st.Rspr.;  vgl.  Senatsurteile  vom
16. Januar  2001  - VI ZR 408/99 -  VersR  2001,  783  und  vom  27. März  2001
- VI ZR 18/00 - VersR 2001, 859, 860 - jeweils m.w.N.). Ein Antrag der Klägerin
war  daher  nicht  erforderlich.  Zudem  lag  hier  ein  solcher  Antrag  auf  Anhörung
des Sachverständigen vor.
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c)  Unter  diesen  Umständen  rügt  die  Revision  auch  mit  Erfolg,  daß  die
beantragte  Anhörung  des  Sachverständigen  unterblieben  ist.  Die  Zurückwei-
sung dieses Antrags beruht auf einer fehlerhaften Anwendung des § 531 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 ZPO.
Die  Verweigerung  der  Zulassung  neuen  Vortrags  kann  vom  Revisions-
gericht überprüft werden (vgl. BGHZ 12, 49, 52; BGH, Urteil vom 9. März 1981
- VIII ZR 38/80 -  NJW  1981,  2255;  Meyer-Seitz,  aaO,  § 531  Rdn. 26;  Münch-
KommZPO/Aktualisierungsband-Rimmelspacher,  aaO,  § 530  Rdn.  34;  Musie-
lak/Ball, aaO, § 531 Rdn. 23, 25; Zöller/Gummer/Heßler, aaO, § 531 Rdn. 37).
Nach  § 531  Abs. 2  Satz 1  Nr. 1  ZPO  sind  neue  Angriffs-  und  Verteidi-
gungsmittel u.a. dann zuzulassen, wenn sie einen Gesichtspunkt betreffen, der
vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich
gehalten worden ist. Diese Voraussetzungen lagen hier vor.
aa)  Wie  ausgeführt  hat  das  Eingangsgericht  den  hier  anzuwendenden
Beweismaßstab verkannt. Das Berufungsgericht hat zwar erkannt, daß die haf-
tungsausfüllende Kausalität nach § 287 ZPO zu beurteilen war. Es mußte aber
auch neue Angriffsmittel, die auf eine Abklärung nach dem bisher nicht berück-
sichtigten Beweismaßstab für die Kausalität abzielten, zulassen.
bb) Angriffs- und Verteidigungsmittel sind alle zur Begründung des Sach-
antrages  oder  zur  Verteidigung  dagegen  vorgebrachten  tatsächlichen  und
rechtlichen Behauptungen, Einwendungen und Einreden, sämtliches Bestreiten
und alle Beweisanträge (vgl. Musielak/Ball, aaO, § 531 Rdn. 14, § 530 Rdn. 11;
Zöller/Gummer/Heßler,  aaO,  § 531  Rdn.  22;  Drossart,  Bauprozessrecht  2004,
4, 6; Gehrlein, MDR 2003, 421, 428). Hierzu zählt auch der Antrag einer Partei
auf Anhörung eines Sachverständigen (§§ 402, 397 ZPO).
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Der  Antrag  der  Klägerin  auf  Anhörung  des  Sachverständigen  wurde
erstmals  in  zweiter  Instanz  gestellt,  war  mithin  neu.  In  der  Berufungsbegrün-
dung  hatte  die  Klägerin  zu  der  von  ihr  behaupteten  überwiegenden  Wahr-
scheinlichkeit  der  Kausalität  des  Unfalls  für  die  geltend  gemachten  Beschwer-
den die Anhörung des Sachverständigen beantragt. Dies genügte den Anforde-
rungen  an  einen  Antrag  gemäß  den  §§ 402,  397  ZPO.  Eine  Partei,  die  einen
Antrag  auf  Ladung  des  Sachverständigen  stellt,  muß  nicht  die  Fragen,  die  sie
an  den  Sachverständigen  richten  will,  im  voraus  konkret  formulieren.  Ausrei-
chend ist, wenn sie angibt, in welcher Richtung sie durch ihre Fragen eine wei-
tere  Aufklärung  herbeizuführen  wünscht  (vgl.  Senatsurteil  vom  29. Oktober
2002 - VI ZR 353/01 - VersR 2003, 926, 927 m.w.N.).
cc) Die objektiv fehlerhafte Rechtsansicht des Landgerichts hat den erst-
instanzlichen  Sachvortrag  der  Klägerin beeinflußt  und ist  (mit-)ursächlich dafür
geworden,  daß  sich  hier  Parteivorbringen  in  das  Berufungsverfahren  verlagert
hat  (vgl.  BGH,  Urteile  vom  19. Februar  2004  - III ZR 147/03 -,  z.V.b.;  vom
19. März 2004 - V ZR 104/03 - Umdr. S. 9, zum Abdruck in BGHZ bestimmt).
Die  fehlerhafte  Rechtsauffassung  des  Landgerichts  zum  Beweismaß
(§ 286  ZPO  statt  § 287 ZPO) hat  dazu  beigetragen,  daß  der  Antrag  auf  Anhö-
rung des Sachverständigen erst in der Berufungsinstanz gestellt wurde. Zudem
macht die Revision mit Recht geltend, die Klägerin sei dem gleichen Rechtsirr-
tum  unterlegen  wie  das  Landgericht;  dieser  habe  sich  in  der  eingeschränkten
Begutachtung  ausgewirkt  und  sei  objektiv  geeignet  gewesen,  die  Klägerin  im
ersten  Rechtszug  von  einem  Antrag  auf  Anhörung  zur  Frage  der  überwiegen-
den Wahrscheinlichkeit  abzuhalten.  Anhaltspunkte  dafür,  daß  die  Klägerin  den
Antrag  aus  anderen,  von  der  rechtlichen  Fehleinschätzung  unabhängigen
Gründen zurückgehalten hätte, liegen nicht vor.
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3. Das Berufungsurteil stellt sich schließlich nicht deshalb als richtig dar
(§ 561 ZPO), weil das Berufungsgericht in eigener Würdigung des erstinstanz-
lich  eingeholten  Sachverständigengutachtens  zu  dem  Ergebnis  gekommen  ist,
auch  nach  den  gemäß  § 287  ZPO  geringeren  Anforderungen an  die  Überzeu-
gungsbildung  habe  die  Klägerin  im  Ergebnis  den  ihr  obliegenden  Nachweis
nicht geführt. Aus dem Gutachten des Sachverständigen ergebe sich die über-
wiegende Wahrscheinlichkeit nicht.
Diese Feststellung ist auf der Grundlage des Gutachtens rechtsfehlerhaft
zustande  gekommen.  Das  Gutachten  enthält,  wie  ausgeführt,  zur Wahrschein-
lichkeit  eines  Ursachenzusammenhangs  keine  Aussage.  Zu  Feststellungen
hierzu hätte es daher eigener Sachkunde des Gerichts bedurft, die es im Urteil
hätte darlegen müssen. Auch im Rahmen der freien Überzeugungsbildung nach
§ 287 ZPO darf der Tatrichter nämlich, wenn es um die Beurteilung einer Fach-
wissen  voraussetzenden  Frage  geht,  auf  die  Einholung  eines  Sachverständi-
gengutachtens  nur  verzichten,  wenn  er  eine  entsprechende  Sachkunde  aus-
weist  (vgl.  Senatsurteile  vom  22. Dezember  1987  - VI ZR 6/87 -  VersR  1988,
466, 467; vom 14. Februar 1995 - VI ZR 106/94 - VersR 1995, 681, 682; BGH,
Urteil  vom  17. Oktober  2001  - IV ZR 205/00 -  VersR  2001,  1547,  1548).  Unter
demselben  Mangel  leiden  die  weiteren  Erwägungen  des  Berufungsgerichts,  in
denen es dem zeitlichen Ablauf des Auftretens der Beschwerden maßgebliche
Bedeutung für die Prüfung der haftungsausfüllenden Kausalität beimißt. Die
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Revision beanstandet zu Recht, das Berufungsgericht habe ohne sachverstän-
dige  Beratung  keine  medizinischen  Rückschlüsse  aus  dem  Krankheitsverlauf
ziehen dürfen.
Müller
Greiner
Diederichsen
Pauge
Zoll