Urteil des BGH vom 14.03.2017

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 179/06
vom
25. April 2007
in der Familiensache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 119 Abs. 1 Satz 1; RVG VV Nr. 2100
Prozesskostenhilfe kann nach § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO nur für den jeweiligen
Rechtszug (im kostenrechtlichen Sinne) bewilligt werden, nicht aber für eine
außergerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts "zwischen den Instanzen" (Prü-
fung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels, Nr. 2100 des Vergütungsver-
zeichnisses zum RVG).
BGH, Beschluss vom 25. April 2007 - XII ZB 179/06 - OLG Düsseldorf
AG
Mönchengladbach-Rheydt
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. April 2007 durch die Vor-
sitzende Richterin Dr. Hahne, den Richter Sprick, die Richterin Weber-Monecke
sowie die Richter Prof. Dr. Wagenitz und Dose
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss des
5. Familiensenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 15. De-
zember 2005 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt im Hauptsacheverfahren die Abänderung eines Ver-
gleichs, durch den er sich zur Zahlung von Kindesunterhalt an seine minderjäh-
rigen Kinder, die Beklagten zu 1 und 2, verpflichtet hat. Das Amtsgericht hat
ihm für diese Unterhaltsabänderungsklage Prozesskostenhilfe ohne Zahlungs-
bestimmung gewährt. Den weitergehenden Antrag, Prozesskostenhilfe auch
"für die nach Abschluss der Instanz fällige Prüfung der Erfolgsaussichten eines
etwaigen Rechtsmittels (Nr. 2200 - jetzt 2100 - des Vergütungsverzeichnisses
zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG) zu gewähren", hat das Amtsge-
richt abgelehnt.
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Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Klägers hat das Ober-
landesgericht zurückgewiesen. Der Kläger verfolgt mit der vom Oberlandesge-
richt zugelassenen Rechtsbeschwerde sein Begehren auf ergänzende Pro-
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zesskostenhilfegewährung zur Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsmit-
tels weiter.
II.
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Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft. Sie ist
nach der Gewährung von Wiedereinsetzung in die Versäumung der Frist zur
Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde mit Beschluss des Senats
vom 11. Oktober 2006 auch im Übrigen zulässig, jedoch nicht begründet:
1. Das Oberlandesgericht, dessen Entscheidung mit dem gleichen Wort-
laut begründet ist wie seine in FamRZ 2006, 628 f. veröffentlichte Entscheidung
vom selben Tag in einer gleich gelagerten Sache, hat einen Anspruch auf Ge-
währung von Prozesskostenhilfe für die Prüfung der Erfolgsaussicht eines
Rechtsmittels schon vor Abschluss der Instanz verneint und dazu ausgeführt:
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§ 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO sehe die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für
jeden Rechtszug gesondert vor. Die Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechts-
mittels gehöre aber nicht mehr zu dem Instanzenzug, dessen abschließende
Entscheidung angefochten werden solle.
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Die Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels sei auch keine an-
dere Angelegenheit im Sinne von § 48 Abs. 4 RVG. Es fehle an einem Zusam-
menhang im Sinne der dort aufgeführten vier Fallgruppen.
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Demgegenüber seien die Prüfung der Erfolgsaussichten und die Bera-
tung über die Einlegung eines Rechtsmittels außergerichtliche Tätigkeiten. Für
deren Finanzierung könne staatliche Hilfe nur nach dem Beratungshilfegesetz
gewährt werden.
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2. Die überzeugend begründete Entscheidung des Oberlandesgerichts
hält rechtlicher Überprüfung stand:
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a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde gehört die Prüfung
der Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels nicht zum abgeschlossenen Rechts-
zug und kann diesem auch nicht über § 48 Abs. 4 RVG oder die Systematik des
RVG in Verbindung mit dem Vergütungsverzeichnis (VV) zugerechnet werden:
Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Modernisierung des Kosten-
rechts (Kostenrechtsmodernisierungsgesetz - KostRMoG) die rechtsanwaltli-
chen Vergütungsmodalitäten geändert. An die Stelle der Bundesgebührenord-
nung für Rechtsanwälte (BRAGO) ist das Gesetz über die Vergütung der
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz -
RVG) getreten. Das Gesetz sollte für den rechtsuchenden Bürger anwender-
freundlicher gestaltet werden (BT-Drucks. 15/1971, S. 1 f., 144). Zu einer der
wesentlichen Änderungen gehört dabei, dass die "Abrategebühr" gemäß § 20
Abs. 2 BRAGO (vgl. hierzu Madert in Gerold/Schmidt/v. Eicken/Madert, Bun-
desgebührenordnung für Rechtsanwälte, 15. Aufl. 2002, § 20 Rdn. 25 ff. und zu
den Änderungen durch das RVG: Podlech-Trappmann in Bischof/Jungbauer/
Podlech-Trappmann, Kompaktkommentar RVG, S. 473 f. sowie Onderka in
Goebel/Gottwald, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz 2004, VV RVG, S. 377)
durch die Gebühr für die Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels nach
dem Vergütungsverzeichnis Nr. 2100 ersetzt wurde. Diese ist nunmehr unab-
hängig davon, ob der Rechtsanwalt die Einlegung eines Rechtsmittels empfiehlt
oder davon abrät.
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Von dieser Änderung nicht betroffen ist § 119 Abs. 1 ZPO, wonach Pro-
zesskostenhilfe nur für den jeweiligen Rechtszug gewährt werden kann. Die
Definition, derzufolge ein Rechtszug mit dem einleitenden Antrag beginnt und
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mit der abschließenden Entscheidung oder anderweitigen endgültigen Erledi-
gung endet (vgl. Zöller/Philippi, ZPO, 26. Aufl. § 119 Rdn. 1; BGH, Beschluss
vom 8. Juli 2004 - IX ZB 565/02 - FamRZ 2004, 1707, 1708), bleibt verbindlich.
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Soweit § 48 RVG gebührenrechtlich Ergänzungen vornimmt (im Einzel-
nen dazu BT-Drucks. 15/1971, S. 200 f. und Göttlich/Mümmler, RVG, S. 723 f.),
kann diesen die Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels nicht durch
ergänzende Gesetzesauslegung, richterliche Rechtsfortbildung oder Analogie
hinzugerechnet werden. Weder die Einordnung der Gebührentatbestände in
dem Vergütungsverzeichnis zum RVG noch Praktikabilitätsgründe können in-
soweit eine Prozesskostenhilfebewilligung rechtfertigen (so auch Schons in Pra-
xiskommentar zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 2. Aufl., Rdn. 12 ff. zu
2100 VV; ders. AGS 2005, 568, 569).
Der Gesetzgeber hat die "Abrategebühr" gemäß § 20 Abs. 2 BRAGO
bewusst abgeschafft. Dies führt - insoweit ist dem Beschwerdeführer beizutre-
ten - dazu, dass die Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels im Rah-
men der Prozesskostenhilfe nicht zusätzlich vergütet wird. Der Gesetzgeber
war jedoch berechtigt, das speziellere Vergütungsrecht zu ändern, ohne eine
Anpassung im allgemeinen Prozessrecht vorzunehmen.
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Generell besteht kein Anspruch der nicht ausreichend bemittelten Partei,
gegenüber einem "Selbstzahler" völlig gleichbehandelt zu werden. Das Bun-
desverfassungsgericht (BVerfGE 81, 347, 355 ff.; BVerfGE 22, 83, 85 f. und
Beschluss vom 26. April 1988 - 1BvL 84/86 - NJW 1988, 2231 ff.) verlangt le-
diglich, dass im Bereich des Rechtsschutzes die prozessuale Stellung von Be-
mittelten und Unbemittelten weitgehend anzugleichen ist. Daraus folgt, dass
einseitige Benachteiligungen ohne sachlichen Grund zu vermeiden sind. Eben-
so folgt daraus, dass der Rechtsschutz für die unbemittelte Partei nicht unver-
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hältnismäßig erschwert werden darf und ungerechtfertigte Härten auszuglei-
chen sind. Von ihr kann aber verlangt werden, die Prozessaussichten vernünftig
abzuwägen und das Kostenrisiko zu berücksichtigten (BGH, Beschluss vom
14. Dezember 1993 - VI ZR 235/92 - MDR 1994, 406).
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Die vorliegend begehrte Ergänzung der bereits gewährten Prozesskos-
tenhilfe betrifft nur die anwaltliche Beratungstätigkeit in dem Zeitraum von der
Verkündung einer erstinstanzlichen Entscheidung bis zu der Einlegung eines
Rechtsmittels dagegen. Wenngleich zu den Pflichten eines Rechtsanwalts ge-
hört, die Interessen der Partei auch in diesem Zwischenstadium zu wahren (vgl.
BGH, Urteile vom 6. Juli 1989 - IX ZR 75/88 - WM 1989, 1826 ff. und vom
17. Januar 2002 - IX ZR 100/99 - WM 2002, 512 f.), so entsteht doch keine un-
billige Benachteiligung, wenn nicht auch dafür Prozesskostenhilfe gewährt wird.
b) Die Argumentation der Rechtsbeschwerde, die Zeit zur Prüfung der
Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels werde zu knapp, wenn Prozesskostenhilfe
dafür erst nach Erlass der Entscheidung beantragt werden könne (so auch Har-
tung/Römermann, ZRP 2003, 149 ff., 151), überzeugt nicht.
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Im Rechtsmittelverfahren ist der Prozessstoff bereits durch die erste In-
stanz aufgearbeitet. In der Regel kommt es auf Rechtsfragen an, während der
Sachverhalt nur sehr eingeschränkt ergänzt werden kann. Normalerweise ge-
nügen die Rechtsmittelfristen von zumeist einem Monat (§§ 517, 544 Abs. 2
Satz 1, 548, 575 Abs. 1 Satz 1 ZPO), um vor deren Ablauf einen Prozesskos-
tenhilfeantrag einzureichen. Notfalls muss die Einlegung eines Rechtsmittels,
sofern sie nicht bis zur Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zurückgestellt
und sodann mit einem Wiedereinsetzungsgesuch verbunden wird, "fristwah-
rend" erfolgen. Die Mehrkosten bei einer anschließenden Rücknahme sind nicht
unverhältnismäßig hoch. Bei der vorliegend im Raum stehenden Berufung er-
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mäßigt sich die 4,0 Gebühr nach KV 1220 auf eine 1,0 Gebühr gemäß KV 1221
bei Rücknahme des Rechtsmittels vor Eingang der Begründungsschrift.
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Ein gewisser - durch Rechtsmittelfristen aber generell ausgelöster - Zeit-
druck ist der Rechtssicherheit wegen nicht zu vermeiden. Ebenso wie nur das
Rechtsmittelgericht über die Richtigkeit der Entscheidung der Vorinstanz befin-
den kann, muss auch die Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels der
höheren Instanz vorbehalten bleiben. Ein Ausgangsgericht kann nicht, schon
gar nicht zu Beginn des Rechtsstreits, beurteilen, ob ein Rechtsmittel gegen
seine Entscheidung Aussicht auf Erfolg haben wird. Selbst bei streitigen
Rechtsfragen, für deren Klärung ein Rechtsmittel vom Ausgangsgericht zuge-
lassen wird, ist eine Kontrolle nur möglich, wenn die Prüfungskompetenz auf
das Rechtsmittelgericht übergeht.
c) Auf die von der Rechtsbeschwerde aufgezeigten Anrechnungsmodali-
täten der Gebühren zur Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels auf die
im Rechtsmittelverfahren anfallenden Gebühren (vgl. auch Onderka, aaO
S. 380 Rdn. 16 ff. und Hartung, aaO S. 208) kommt es nicht an.
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Entscheidend ist, ob der Gesetz- oder Verordnungsgeber einen Lebens-
sachverhalt dahingehend geregelt hat, dass er durch öffentliche Mittel unter-
stützt werden kann. Nur wenn dies der Fall ist, dürfen Steuergelder entspre-
chend verwandt werden. Wie sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs
(BT-Drucks. 15/1971, S. 3) ergibt, wurde zwar eine angemessene Erhöhung der
Einnahmen der Anwaltschaft grundsätzlich angestrebt; speziell § 48 RVG
(BT-Drucks. 15/1971, S. 200 f.) und Nr. 2100 des Vergütungsverzeichnisses
(BT-Drucks. 15/1971, S. 206) wurden aber nicht so ausgestaltet, dass Prozess-
kostenhilfe für die Prüfung der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels im voraus
gewährt werden kann.
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Auf die häufig vom Einzelfall abhängigen weiteren Umstände einer An-
rechnung kann nicht abgestellt werden, zumal andernfalls der missbräuchlichen
Gestaltung durch Anwaltswechsel zwischen den Instanzen nicht wirksam be-
gegnet werden könnte.
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d) Für die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels als außer-
gerichtliche Tätigkeit "zwischen den Instanzen" kann jedoch Beratungshilfe ge-
währt werden (vgl. Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs Prozesskostenhilfe und
Beratungshilfe 4. Aufl. Rdn. 921).
Für Leistungen nach dem Gesetz über die Beratungshilfe (BerHG)
kommt es anders als gemäß § 114 ZPO nicht maßgeblich auf die Erfolgsaus-
sicht an (Schoreit/Dehn, Beratungshilfe, Prozesskostenhilfe - BerH/PKH,
8. Aufl. BerHG § 1 Rdn. 102 ff., 107). Auch kommt in Betracht, dass der Antrag
auf Beratungshilfe noch nachträglich gestellt werden kann (Houben in RA-Micro
Online-Kommentar, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz 9. Aufl., S. 286).
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Ein Anspruch auf völlige gebührenrechtliche Gleichbehandlung bemittel-
ter und unbemittelter Parteien besteht nicht. Das Bundesverfassungsgericht
(NJW 1988, 2231 ff.) betont die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Be-
reich der darreichenden Verwaltung und legt auch sich selbst größte Zurückhal-
tung bei der Forderung nach zusätzlichen Leistungsverpflichtungen auf. Daher
müssen Rechtsanwälte bei der Vertretung nicht ausreichend bemittelter Man-
danten ohne Rechtsschutzversicherung gegebenenfalls auch ein gemindertes
Gebührenaufkommen in Kauf nehmen. Einen Verstoß gegen den Gleichbe-
handlungsgrundsatz stellt dies im Verhältnis der Prozessbevollmächtigten der
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Parteien zueinander schon deshalb nicht dar, weil das Prozesskosten- und Be-
ratungshilferecht nicht dazu bestimmt ist, den an einem Verfahren mitwirkenden
Rechtsanwälten gleich hohe Gebührenansprüche zu sichern.
Hahne
Sprick
Weber-Monecke
Wagenitz Dose
Vorinstanzen:
AG Mönchengladbach-Rheydt, Entscheidung vom 27.06.2005 - 17 F 45/05 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 15.12.2005 - II-5 WF 201/05 -