Urteil des BGH vom 27.10.2005

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
III ZB 66/05
vom
27. Oktober 2005
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
GVG § 17a Abs. 4; ZPO §§ 60, 568 Satz 2 Nr. 2
a) Die Zulassung der (Rechts-)Beschwerde nach § 17a Abs. 4 Satz 4 und 5
GVG an den Bundesgerichtshof wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtsfrage ist dem Spruchkörper in der im Gerichtsverfassungsgesetz
vorgeschriebenen Besetzung vorbehalten; eine Zulassung durch den
Einzelrichter unterliegt wegen fehlerhafter Besetzung der Aufhebung von
Amts wegen (Fortführung von BGHZ 154, 200).
b) Nimmt ein Kläger mehrere Beklagte als einfache Streitgenossen auf
Schadensersatz in Anspruch und erklärt das Landgericht den beschrit-
tenen Rechtsweg unter Verweisung des Rechtsstreits an das Arbeitsge-
richt für unzulässig, so kann ein Beklagter mit der von ihm allein einge-
legten Beschwerde nicht erreichen, dass die angefochtene Entschei-
dung auch in Bezug auf die anderen Streitgenossen rechtlich überprüft
wird.
BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - III ZB 66/05 - OLG Stuttgart
LG Ravensburg
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. Oktober 2005 durch den
Vorsitzenden Richter Schlick und die Richter Dr. Wurm, Streck, Dörr und
Dr. Herrmann
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 2 wird der Beschluss
des 1. Zivilsenats (Einzelrichterin) des Oberlandesgerichts Stutt-
gart vom 9. Mai 2005 - 1 W 23/05 - aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die außer-
gerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
Beschwerdegericht (Einzelrichterin) zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren und für das
Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € festgesetzt.
Gerichtskosten für das Rechtsbeschwerdeverfahren werden nicht
erhoben.
Gründe:
I.
Der Kläger, ein Leiharbeitnehmer der Firma P. , verlangt wegen ei-
nes Arbeitsunfalls vom 14. Juli 2003 von den Beklagten Schmerzensgeld und
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Feststellung seiner materiellen Schadensersatzansprüche. Der Beklagte zu 1,
der ein Maler- und Lackiergeschäft betreibt, hatte ihn auf einer Baustelle auf
dem Gelände der Beklagten zu 2 eingesetzt. Der Kläger hatte auf einem Hal-
lendach der Betriebsgebäude der Beklagten zu 2 eine zu lackierende Fläche
mit einem Dampfstrahlgerät zu bearbeiten. Nach seinem Vortrag stolperte er
dort über eine Plastiklichtkuppel, die seinem Gewicht nicht standhielt, so dass
er ca. 5 m tief in die darunter liegende Halle auf einen Betonboden stürzte und
sich erhebliche Verletzungen zuzog. Der Kläger ist der Auffassung, die Beklag-
ten hätten es schuldhaft unterlassen, geeignete Maßnahmen des Arbeitsschut-
zes für ihn zu treffen. Nachdem sich der Kläger vorsorglich mit einer Verwei-
sung des Rechtsstreits an das Arbeitsgericht einverstanden erklärt und auch
der Beklagte zu 1 eine solche Verweisung beantragt hatte, erklärte das Land-
gericht durch Beschluss des Einzelrichters vom 5. April 2005 den beschrittenen
Rechtsweg für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht
U. . Soweit der Kläger den Beklagten zu 1 in Anspruch nehme, sei der
Rechtsweg zum Arbeitsgericht nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG begründet,
weil der Beklagte zu 1 im Rahmen der von ihm wahrzunehmenden Fürsorge-
pflicht als Arbeitgeber anzusehen sei. Wegen des unmittelbaren rechtlichen
und wirtschaftlichen Zusammenhangs mit dieser Klage sei für die Inanspruch-
nahme der Beklagten zu 2 der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten nach § 2
Abs. 3 ArbGG eröffnet. Die gegen diesen Beschluss gerichtete sofortige Be-
schwerde der Beklagten zu 2 wies das Oberlandesgericht durch Beschluss der
Einzelrichterin zurück, die die Rechtsbeschwerde nach § 17a Abs. 4 Satz 4
GVG zuließ.
II.
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Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der angefochtenen Ent-
scheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht
(Einzelrichterin).
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 17a Abs. 4 Satz 4 bis 6 GVG statt-
haft. Ihre Zulassung ist nicht deshalb unwirksam, weil die Einzelrichterin ent-
gegen § 568 Satz 2 Nr. 2 ZPO anstelle des Kollegiums entschieden hat. Die
angefochtene Einzelrichterentscheidung unterliegt jedoch der Aufhebung, weil
sie unter Verletzung des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters
(Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ergangen ist. Die Einzelrichterin durfte nicht selbst
entscheiden, sondern hätte das Verfahren wegen der von ihr bejahten grund-
sätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 568 Satz 2 Nr. 2 ZPO dem mit
drei Richtern besetzten Senat übertragen müssen. Mit ihrer Entscheidung hat
sie die Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kollegium
als dem gesetzlich zuständigen Richter entzogen. Diesen Verstoß gegen das
Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters hat der Senat, wie der
Bundesgerichtshof bereits wiederholt entschieden hat (vgl. BGHZ 154, 200,
202 f; Beschlüsse vom 11. September 2003 - XII ZB 188/02 - NJW 2003, 3712;
vom 18. September 2003 - V ZB 53/02 - NJW 2004, 223), von Amts wegen zu
beachten. Für eine Beschwerde nach § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG, die nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Rechtsbeschwerde zu behandeln
ist (vgl. BGHZ 152, 213, 214 f; Beschlüsse vom 12. November 2002 - XI ZB
5/02 - NJW 2003, 433, 434; vom 26. November 2002 - VI ZB 41/02 - NJW
2003, 1192 f; Senatsbeschluss BGHZ 155, 365, 368 f; vgl. auch BAG NJW
2002, 3725; BAG NJW 2003, 1069), kann nichts Anderes gelten.
III.
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Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Die
Rechtsbeschwerde, die wie das Rubrum des angefochtenen Beschlusses ne-
ben dem Kläger auch den Beklagten zu 1 als Beschwerdegegner bezeichnet,
geht offenbar davon aus, dass die Entscheidung des Landgerichts auf die so-
fortige Beschwerde der Beklagten zu 2 in vollem Umfang abgeändert werden
kann, also auch in der Prozessrechtsbeziehung zwischen dem Kläger und dem
Beklagten zu 1. Dem entspricht auch die Hauptzielrichtung ihres Beschwerde-
angriffs, mit dem sie geltend macht, zwischen dem Kläger und dem Beklagten
zu 1 bestehe kein Arbeitsverhältnis. Der Leiharbeitnehmer sei ein Arbeitneh-
mer des Verleihers. Das ergebe sich auch aus § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG, der ein
Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer nur für den Fall fin-
giere, dass der Vertrag zwischen dem Verleiher und einem Leiharbeitnehmer
nach § 9 Nr. 1 AÜG unwirksam sei.
Diese Frage ist im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht zu ent-
scheiden, weil nur die Beklagte zu 2 und nicht auch der Beklagte zu 1 gegen
den Verweisungsbeschluss des Landgerichts Beschwerde eingelegt hat. Auch
wenn die Rechtsbeschwerde Recht hätte (für eine arbeitsgerichtliche Zustän-
digkeit
in
Fällen, in denen der Entleiher wegen einer Verletzung von Fürsorgepflichten
in Anspruch genommen wird, Matthes, in: Germelmann/Matthes/Prütting/Mül-
ler-Glöge, ArbGG, 5. Aufl. 2004, § 2 Rn. 52; Walker, in: Schwab/Weth, ArbGG,
2004, § 2 Rn. 78; Hauck/Helml, ArbGG, 2. Aufl. 2003, § 2 Rn. 20; wohl auch
Krasshöfer, in: Düwell/Lipke, ArbGG, 2. Aufl. 2005, § 2 Rn. 29), würde dies ei-
nen Eingriff in das zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 1 bestehende
Prozessrechtsverhältnis nicht rechtfertigen. Die als Gesamtschuldner in An-
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spruch genommenen Beklagten zu 1 und 2 sind einfache Streitgenossen im
Sinn des § 60 ZPO, der auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren entsprechend
gilt (§ 46 Abs. 2 ArbGG). Die Streitgenossen stehen, soweit nicht aus den Vor-
schriften des bürgerlichen Rechts oder der Zivilprozessordnung sich ein ande-
res ergibt, dem Gegner dergestalt als Einzelne gegenüber, dass die Handlun-
gen des einen Streitgenossen dem anderen weder zum Vorteil noch zum Nach-
teil gereichen. Die Sache liegt auch nicht so, dass das streitige Rechtsverhält-
nis - etwa in Bezug auf die Rechtswegbestimmung - allen Streitgenossen ge-
genüber nur einheitlich festgestellt werden könnte (vgl. § 62 ZPO). Das ist
schon deshalb nicht der Fall, weil die mögliche Zuständigkeit der Arbeitsgerich-
te für die gegen die Beklagte zu 2 gerichtete Klage auf § 2 Abs. 3 ArbGG be-
ruht und damit auf einer Bestimmung, die es schon nach ihrem Wortlaut ermög-
licht, eine an sich in die Rechtswegzuständigkeit der ordentlichen Gerichte ge-
hörende Sache unter den in § 2 Abs. 3 ArbGG genannten Voraussetzungen
vor die Arbeitsgerichte zu bringen (vgl. Walker aaO Rn. 178 f). Auch materiell-
rechtlich sind die miteinander verbundenen Klagen auf unterschiedliche recht-
liche Gesichtspunkte gestützt, die jeweils ihrer eigenen Beurteilung unterlie-
gen. Eine Änderung der landgerichtlichen Entscheidung in Bezug auf das zwi-
schen dem Kläger und dem Beklagten zu 1 bestehende Prozessrechtsverhält-
nis kommt damit nicht mehr in Betracht. Die Frage, ob der Entleiher unter den
hier gegebenen Umständen als Arbeitgeber anzusehen und eine Zuständigkeit
der Arbeitsgerichte nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG gegeben ist, ist daher
nicht entscheidungserheblich.
IV.
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Die Aufhebung führt zur Zurückverweisung der Sache an die Einzelrich-
terin, die den angefochtenen Beschluss erlassen hat.
Den Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren bestimmt der Bun-
desgerichtshof in ständiger Rechtsprechung nach einem Bruchteil des Haupt-
sachewertes, wobei Schwankungen in einer Größenordnung von etwa 1/3 bis
1/5 denkbar sind (vgl. Senatsbeschlüsse vom 19. Dezember 1996 - III ZB
105/96 - NJW 1998, 909, 910; vom 30. Januar 1997 - III ZB 110/96 - NJW
1997, 1636, 1637; Beschluss vom 30. September 1999 - V ZB 24/99 - NJW
1999, 3785, 3786). Da der Kläger ein Schmerzensgeld von etwa 25.000 € für
angemessen hält und die Größenordnung seines materiellen Schadens nicht
näher angegeben hat, setzt der Senat den Wert des Beschwerdeverfahrens
und des Rechtsbeschwerdeverfahrens auf 8.000 € fest.
Wegen der durch die Rechtsbeschwerde angefallenen Gerichtskosten
macht der Senat von der Möglichkeit des § 21 GKG Gebrauch.
Schlick
Wurm
Streck
Dörr
Herrmann
Vorinstanzen:
LG Ravensburg, Entscheidung vom 05.04.2005 - 3 O 67/05 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 09.05.2005 - 1 W 23/05 -
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