Urteil des BGH vom 30.10.2013

BGH: familie, zypern, behandlung, freiheitsentziehung, aufenthalt, abreise, rücknahme, flughafen, einreise, entzug

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 89/13
vom
30. Oktober 2013
in der Freiheitsentziehungssache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. Oktober 2013 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richter Dr. Lemke und
Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der
29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom
22. Mai 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zu anderweitigen Behandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Die Betroffene traf am 3. März 2013 mit ihrem Ehemann (Verfahren
V ZB 90/13 des Senats) und ihren drei minderjährigen Kindern aus Zypern auf
dem Luftweg auf dem Flughafen Frankfurt am Main ein. Dort wies sie sich mit
ihrem gültigen ägyptischen Reisepass und ihrem gültigen zypriotischen Schen-
gen-Visum und einem gefälschten tschechischen Aufenthaltstitel aus und stellte
einen Schutzantrag. Die beteiligte Behörde verweigerte ihr und ihrer Familie am
6. März 2013 die Einreise, verfügte die Zurückweisung nach Zypern oder Groß-
britannien, wo der Ehemann der Betroffenen einen Asylantrag gestellt hatte,
und verbrachte die Familie in den Transitbereich des Flughafens. Zypern und
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Großbritannien waren zu einer Rücknahme der Betroffenen und ihrer Familie
nicht bereit.
Auf den Antrag der beteiligten Behörde vom 27. März 2013 hat das
Amtsgericht mit Beschluss vom 28. März 2013 gegen die Betroffene zur Siche-
rung der Abreise den weiteren Aufenthalt im Transitbereich des Flughafens bis
einschließlich 8. Mai 2013 angeordnet. Dagegen hat die Betroffene Beschwerde
eingelegt. Während des Beschwerdeverfahrens hat die beteiligte Behörde den
Aufenthalt der Betroffenen und ihrer Familie im Transitbereich mit der Begrün-
dung beendet, die zeitnahe Durchführung des Lufttransports sei unter anderem
deshalb nicht gesichert, weil eines der Kinder (wegen einer epileptischen Er-
krankung) einer ständigen medizinischen Betreuung bedürfe. Die daraufhin mit
dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Aufenthaltsanordnung des Amtsgerichts
festzustellen, fortgeführte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit
der Rechtsbeschwerde verfolgt die Betroffene ihren Feststellungsantrag weiter.
II.
Das Beschwerdegericht meint, die Anordnung des weiteren Aufenthalts
im Transitbereich des Flughafens sei rechtmäßig gewesen. Die Zurückwei-
sungsentscheidung der beteiligten Behörde sei bestandskräftig geworden und
für die Entscheidung über den weiteren Transitaufenthalt verbindlich gewesen.
Die Zurückweisung habe nicht sofort vollzogen werden können, weil Zypern
eine Rücknahme abgelehnt habe. Sie sei aber auf Grund der geplanten Re-
monstration gegenüber Zypern in den dafür bestehenden Fristen zu erwarten
gewesen. Dass sich diese Erwartung nicht erfüllt habe, stelle die Prognose des
Amtsgerichts nicht in Frage. Die Entscheidung sei auch unter dem Gesichts-
punkt der Verhältnismäßigkeit nicht zu beanstanden. Insbesondere habe ein
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Verstoß der beteiligten Behörde gegen das Beschleunigungsgebot nicht vorge-
legen.
III.
Diese Erwägungen tragen die Zurückweisung der Beschwerde der Be-
troffenen nicht.
1. Dafür muss nicht entschieden werden, ob die Verlängerung des Tran-
sitaufenthalts schon deshalb unzulässig war, weil sie auf einem unzulässigen
Verlängerungsantrag der beteiligten Behörde beruhte.
a) Mit § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG hat der Gesetzgeber zwar den ange-
ordneten Aufenthalt des Ausländers im Transitbereich des Flughafens oder in
einer Unterkunft nach § 15 Abs. 6 Satz 1 AufenthG einer Freiheitsentziehung
gleichgestellt, soweit er - wie hier - über 30 Tage hinaus andauern soll (BT-
Drucks. 16/5065, 165; Senat, Beschlüsse vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10,
FGPrax 2011, 315 f. Rn. 9 und vom 14. Juli 2011 - V ZB 275/10, FGPrax 2011,
257 Rn. 5). Dann nämlich bedarf er - wie die bei einer Ankunft auf dem Land-
oder Seeweg allein mögliche Verhängung von Zurückweisungshaft nach § 15
Abs. 5 AufenthG - einer richterlichen Anordnung. Das Festhalten des Betroffe-
nen auf dem Flughafen steht trotz der Möglichkeit, auf dem Luftweg abzureisen,
nach einer gewissen Dauer und wegen der damit verbundenen Eingriffsintensi-
tät einer Freiheitsentziehung gleich (vgl. EGMR, NVwZ 1997, 1102, 1104; Se-
nat, Beschluss vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315, 316
Rn. 23). Für diese richterliche Anordnung gelten deshalb auch - bezogen auf
die Anordnungsvoraussetzungen des § 15 Abs. 6 Sätze 2 bis 5 AufenthG - die
gleichen Grundsätze wie für die Anordnung von Zurückweisungshaft (Be-
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schleunigungsgebot: Senat, Beschlüsse vom 7. Juli 2011 - V ZB 116/11, juris
Rn. 5 und vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315, 316 Rn. 23;
Verhältnismäßigkeitsgebot: Senat, Beschlüsse vom 7. Juli 2011 - V ZB 116/11,
juris Rn. 5 und vom 11. Oktober 2012 - V ZB 154/11, FGPrax 2013, 38, 39
Rn. 13; Anforderung an die Prognose nach § 15 Abs. 6 Satz 4 AufenthG: Senat,
Beschluss vom 31. Januar 2012 - V ZB 117/11, juris Rn. 5; Belehrung nach
Art. 36 WÜK: Senat, Beschluss vom 14. Juli 2011 - V ZB 275/10, FGPrax 2011,
257 Rn. 6 f.).
b) Ob und in welchem Umfang das aber auf der Grundlage von § 106
Abs. 2 Satz 1 AufenthG auch für die Anforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 2
FamFG und deren Auswirkungen auf die Zulässigkeit des Antrags gilt, ist zwei-
felhaft. Die Vorschrift des § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist an den sachlichen
Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft ausgerichtet und könn-
te auf die Verlängerung des Transitaufenthalts nur teilweise, nämlich nur hin-
sichtlich der Anforderungen nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 4 FamFG, an-
gewendet werden. Ob ein Verlängerungsantrag nach § 15 Abs. 6 Satz 2
AufenthG unzulässig ist, wenn er diesen Anforderungen nicht genügt, muss hier
nicht entschieden werden.
2. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts genügt jedenfalls nicht den
Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsermittlung.
a) Für die Anordnung des weiteren Transitaufenthalts über 30 Tage hin-
aus gilt jedenfalls die für die Anordnung einer Freiheitsziehung unverzichtbare
Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den
Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sach-
aufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage
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haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (für Freiheitsentzie-
hung: BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660). Insbesondere darf auch die Verlänge-
rung des Transitaufenthalts entsprechend der Vorschrift des § 62 Abs. 1 Satz 3
AufenthG gegenüber Familien mit minderjährigen Kindern nur in Ausnahmefäl-
len und nur solange angeordnet werden, wie es unter Berücksichtigung des
Kindeswohls angemessen ist (Senat, Beschluss vom 11. Oktober 2012
- V ZB 154/11, FGPrax 2013, 38, 39 Rn. 14).
b) Daran, dass die Anordnung des verlängerten Transitaufenthalts durch
das Amtsgericht diesen Anforderungen genügt, bestanden nach den Feststel-
lungen des Beschwerdegerichts erhebliche Zweifel. Diesen Zweifeln ist es nicht
nachgegangen, obwohl es nach § 26 FamFG dazu verpflichtet war.
aa) Das Beschwerdegericht hat festgestellt, dass eines der minderjähri-
gen Kinder der Betroffenen schwerbehindert ist und unter epileptischen Anfällen
leidet. Die beteiligte Behörde hat dazu dem Gericht mitgeteilt, sie habe der Be-
troffenen und ihrer Familie die Einre
ise gestattet, weil eines der Kinder „ständi-
ger medizinischer Behandlung bedurfte“. Nach den dem Beschwerdegericht
vorliegenden Akten der Behörde lag dieser Mitteilung ein Bericht der nachge-
ordneten Bundespolizeiinspektion zugrunde, demzufolge dieses Kind wegen
epileptischer Anfälle mehrfach in stationärer Behandlung in den umliegenden
Krankenhäusern war. Nach diesen Angaben sprach viel dafür, dass die Erkran-
kung des Kindes schon vor Stellung des Verlängerungsantrags bekannt war.
Dann aber war von vornherein zweifelhaft, ob das Ziel der Aufenthaltsverlänge-
rung, die Sicherung der Abreise (§ 15 Abs. 6 Satz 3 AufenthG), überhaupt er-
reichbar war und ob der weitere Transitaufenthalt der Familie angesichts der
besonderen Bedürfnisse dieses Kindes noch dem Kindeswohl entsprach und
den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügte. Die beteiligte
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Behörde hat den Transitaufenthalt letztlich aus gerade diesem Grund von sich
aus beendet.
bb) Das Beschwerdegericht musste diese Zweifel aufklären, da es auf
Grund des gestellten Feststellungsantrags zu prüfen hatte, ob die Verlängerung
des Transitaufenthalts der Betroffenen sachlich gerechtfertigt war. Dafür ist es
unerheblich, ob der Haftrichter Anhaltspunkte für eine diesbezügliche Prüfung
hatte oder ob es die beteiligte Behörde unter Verstoß gegen ihre Verpflichtung,
ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit ge-
mäß abzugeben (§ 27 Abs. 2 FamFG), unterlassen hat, in dem Verlängerungs-
antrag auf die Erkrankung des Kindes hinzuweisen. Es kommt allein auf die
objektive Sach- und Rechtslage an (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011
- V ZB 189/10, FGPrax 2011, 202 Rn. 5 für die Nichterwähnung eines staats-
anwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens).
IV.
Die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann deshalb keinen Bestand
haben. Das Beschwerdegericht wird die aufgezeigten Gesichtspunkte aufzuklä-
ren und - nach Gewährung rechtlichen Gehörs - zu entscheiden haben, ob der
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Transitaufenthalt nach dem Ergebnis der ergänzenden Feststellungen, insbe-
sondere zu der Frage, seit wann die Erkrankung des Kindes der beteiligten Be-
hörde bekannt war, objektiv gerechtfertigt war.
Stresemann
Lemke
Schmidt-Räntsch
Brückner
Weinland
Vorinstanzen:
AG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 28.03.2013 - 934 XIV 152/13 B -
LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 22.05.2013 - 2-29 T 101/13 -