Urteil des BGH vom 19.04.2007

BGH (beg, waisenrente, beschwerde, antrag, vollendung, rechtsfrage, zulassung, streitwert, höhe, rente)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 269/05
vom
19. April 2007
in dem Entschädigungsrechtsstreit
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Richter Dr. Ganter,
Raebel, Vill, Cierniak und die Richterin Lohmann
am 19. April 2007
beschlossen:
Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision im Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts
Düsseldorf vom 25. August 2005 wird zurückgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens werden
der Klägerin auferlegt.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.965,92 €
festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Eltern der 1941 geborenen Klägerin wurden während der nationalso-
zialistischen Gewaltherrschaft aus rassischen Gründen verfolgt; ihr Vater kam
im Konzentrationslager um. Die Klägerin bezog aufgrund Bescheides vom
27. Dezember 1960 eine gekürzte Waisenrente bis zur Vollendung des
18. Lebensjahres. Für ein kindliches Deprivationssyndrom erhielt die Klägerin
nach einem Rechtsstreit eine Kapitalentschädigung und Rente für die Zeit bis
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zum 31. August 1958. Die beantragte Dauerrente aufgrund einer 1962 aufgetre-
tenen hebephrenen Schizophrenie der Klägerin wurde ihr zunächst rechtskräftig
aberkannt, weil es sich nicht um einen Verfolgungsschaden, sondern um eine
endogene Psychose handele. Aufgrund eines Zweitverfahrens erlangte die Klä-
gerin um die Jahreswende 1989/1990 vergleichsweise die Anerkennung ihrer
Schizophrenie als verfolgungsbedingtes Leiden im Sinne einer wesentlichen
Mitverursachung, eine Rentennachzahlung von 298.892,40 DM und eine Dau-
errente in Höhe von monatlich 1.398 DM seit dem 1. Januar 1990 (Beiakte 3 M
4049 B Bd. II Bl. 241 ff).
Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 4. September 1989
hat die Klägerin beantragt, ihr wegen des Gebrechens auch eine Waisenrente
für die Zeit nach Vollendung des 18. Lebensjahres zuzuerkennen. Diesen An-
trag hat die Entschädigungsbehörde mit Bescheid vom 8. Juni 2004 abgelehnt,
weil die Klägerin den weiteren Anspruch in dem mit Bescheid vom
27. Dezember 1960 beendeten Waisenrentenverfahren nicht rechtzeitig ange-
meldet habe. Nach § 189a Abs. 2 BEG habe das spätestens am 23. August
1969 geschehen müssen. Das Landgericht ist dem Rechtsstandpunkt der Be-
hörde gefolgt und hat die rechtzeitig erhobene Klage gegen den Bescheid vom
8. Juni 2004 abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat diese Entscheidung bes-
tätigt. Wenn man die anwaltlichen Schreiben vom 14. Juni 1965 und 1. Juni
1966 im Verfahren des Anspruchs auf Gesundheitsentschädigung als Antrag
auf Behindertenwaisenrente werten wolle, habe die Klägerin ihren Antrag ent-
gegen § 190 Nr. 1, 2 und 4, § 190a Abs. 1 Satz 1 BEG jedenfalls nicht bis zum
31. März 1967 substantiiert. Wie das Landgericht hat das Oberlandesgericht
auch keine Möglichkeit gesehen, der Klägerin die geltend gemachte Waisenren-
te im Wege der Abhilfe zu gewähren.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Beschwerde der
Klägerin mit der Grundsatzrüge, die von der Beklagten und den Vorinstanzen
herangezogenen Verfahrensvorschriften seien nicht anzuwenden. Vielmehr ha-
be sie ihr Begehren als Abänderungsverlangen gemäß § 206 Abs. 1 BEG ohne
zeitliche Begrenzung verfolgen können. Außerdem sei das Berufungsgericht
von anderen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu vergleichbaren Fall-
konstellationen (vgl. BGH RzW 1967, 136 zur Änderung der Verhältnisse im
Sinne von § 206 Abs. 1 BEG und BGH RzW 1977, 15 zum Wiederaufleben ei-
ner Witwenrente nach § 23 Satz 2 BEG) abgewichen.
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II.
Die nach § 220 Abs. 1 BEG statthafte und auch sonst zulässige Be-
schwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Beru-
fungsgericht ist unbegründet. Ein Grund zur Zulassung der Revision gemäß
§ 219 Abs. 2 BEG liegt nicht vor.
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1. Die Rechtsfrage, ob die Geltendmachung einer Behindertenwaisen-
rente gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 1. DV-BEG nach bestandskräftiger Zuerkennung
einer Waisenrente gemäß §§ 15, 17 Abs. 1 Nr. 3 BEG einen weiteren Anspruch
betrifft, der den allgemeinen Verfahrensvorschriften für Entschädigungsansprü-
che (§§ 189a, 190a BEG) unterliegt, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt. Auf
dieser Annahme beruhen der angefochtene Bescheid und die Entscheidungen
der Tatsacheninstanzen. Demgegenüber kann es sich bei den Kindern von Ver-
folgten, die nach § 15 BEG Anspruch auf Entschädigung für Schaden an Leben
haben, auch um den gleichen Anspruch auf Waisenrente gemäß § 17 Abs. 1
Nr. 3 BEG handeln, der nach § 18 Nr. 3 1. DV-BEG lediglich verschiedene An-
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spruchszeiträume und Erlöschensgründe kennt. Diese sind auf die typische Be-
darfssituation der verwaisten Kinder zugeschnitten (vgl. die Parallelvorschriften
in den §§ 23, 61 Abs. 2 Satz 2 BeamtVG und dazu BVerwGE 71, 336, 339).
Verfahrensrechtlich könnte dann, wie die Beschwerde meint, der verlängerte
Rentenbezug unbefristet im Wege des Abänderungsverlangens gemäß § 206
Abs. 1 BEG beansprucht werden. Diese Rechtsfrage bedarf im Verfahren der
Revisionszulassung keiner Entscheidung.
Ein möglicher Grund zur Zulassung der Revision bestand hier schon bei
Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehr. Das Bundesentschädi-
gungsgesetz als Teil der Rechtsvorschriften, die zur Wiedergutmachung von
Unrecht der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erlassen worden sind, ist
zwar kein auslaufendes Recht im engeren Sinne, welches nach den einschlägi-
gen Übergangsbestimmungen nur noch für Altfälle gilt, wohl aber verliert es
- wie andere Normen generell-konkreten Inhalts - durch die Zeitgebundenheit
der geregelten Sachverhalte nach und nach seinen Anwendungsbereich. Der
Senat hat in diesem Zusammenhang bereits früher bemerkt, dass im Rücker-
stattungsverfahren Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung angesichts der
wenigen offenen Restfälle kaum mehr denkbar sind (BGH, Beschl. v. 8. Januar
2004 - IX ZB 87/03, VIZ 2004, 272, 273). Hiervon abweichend kommen für das
Bundesentschädigungsgesetz insbesondere im Bereich der Hinterbliebenenan-
sprüche und Rentenanpassungen auch heute noch vereinzelt Grundsatzent-
scheidungen in Betracht, wie die Entschädigungsrechtsprechung des Senats
aus den letzten Jahren zeigt.
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Der hier zur Entscheidung stehende Sachverhalt lässt allerdings nach
den freibeweislich verwerteten Auskünften der Beklagten, dem Vorbringen der
Klägerin und den allgemeinen Umständen nicht erwarten, dass mit einer Revi-
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sionsentscheidung noch eine für die Zukunft wesentliche Klärung der umstritte-
nen Verfahrensfrage erreicht werden würde. Ansprüche auf Behindertenwaisen-
rente der Kinder oder elternlosen Enkel von während der Verfolgung oder in-
nerhalb von acht Monaten danach hierdurch umgekommenen Personen (§§ 15,
17 Abs. 1 Nr. 3 BEG; § 7 Abs. 1 Nr. 2, § 8 Abs. 3 1. DV-BEG) können etwa seit
Oktober 1973 nicht mehr entstanden sein, weil sie den Eintritt dauernder Er-
werbsunfähigkeit vor Vollendung des 27. Lebensjahres der berechtigten Nach-
kommen voraussetzen. Es ist ausgeschlossen, dass mehr als drei Jahrzehnte
nach der Entstehung solcher Verlängerungsgründe von ganz seltenen Aus-
nahmen abgesehen noch Nachkommen Verfolgter mit berechtigten Ansprüchen
auf Behindertenwaisenrente hervortreten. Die Umfrage der Beklagten bei den
Entschädigungsämtern des Bundesgebiets hat kein anhängiges Verfahren mit
gleichem Gegenstand erbracht. Lediglich aus Rheinland-Pfalz sind zwei ähnlich
gelagerte Sachverhalte berichtet worden, die jedoch im Anspruchsgrund in den
§§ 41, 17 Abs. 1 Nr. 3 BEG wurzelten und damit verfahrensrechtlich anders
beurteilt werden können. Es fehlen ferner Anhaltspunkte für die Vermutung der
Beschwerdeführerin, dass es in den Archiven Fälle gibt, die als Folge einer re-
visionsgerichtlichen Klärung im erheblichen Umfang wieder aufgenommen wer-
den würden.
Die Feststellungslast dafür, dass die umstrittene Rechtsfrage noch für
eine erhebliche Anzahl offener Verfahren von Bedeutung ist und damit grund-
sätzlichen Charakter trägt, trifft bei zeitgebundenen generell-konkreten Vor-
schriften ebenso wie beim auslaufenden Recht im engeren Sinne die Partei,
welche die Zulassung der Revision erstrebt (vgl. zum auslaufenden Recht im
engeren Sinne BGH, Beschl. v. 27. März 2003 - V ZR 291/02, WM 2003, 987,
988 unter 1. c) m.w.N., in BGHZ 154, 288 insoweit nicht abgedruckt).
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2. Die Revision ist auch nicht wegen einer Abweichung des Berufungsur-
teils von den durch die Klägerin bezeichneten Entscheidungen des Bundesge-
richtshofs oder zur anderweitigen Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
zuzulassen. Denn die Vergleichsfälle betreffen nicht die hier maßgebliche Aus-
legung der §§ 15, 17 Abs. 1 Nr. 3 BEG; § 7 Abs. 1 Nr. 2, § 18 Nr. 3 1. DV-BEG.
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3. Das Berufungsurteil ist im Ergebnis jedenfalls aus anderen Gründen
richtig. Die Klägerin hat nach ihren Einkommensverhältnissen gemäß § 7 Abs. 1
Nr. 2 1. DV-BEG keinen Anspruch auf eine Behindertenwaisenrente. Sie bezog
und bezieht aufgrund des Vergleiches vom 28. November 1989/10. Januar
1990 für die Zeit seit dem 1. Januar 1962 eine Entschädigungsrente gemäß
§§ 28, 29 Nr. 2 BEG, welche die verfolgungsbedingte Minderung ihrer Erwerbs-
fähigkeit ausgleicht und die Einkommensgrenzen des § 7 Abs. 1 Nr. 2 1. DV-
BEG deutlich übersteigt. Anders als Versorgungsbezüge, die einer Waise we-
gen des Todes des Verfolgten gezahlt werden, rechnen diese Rentenzahlungen
zum Einkommen des Kindes. Denn ihre eigene Erwerbsunfähigkeit kann zu-
gunsten der Klägerin nicht Wiedergutmachungsleistungen aus doppeltem
Grunde auslösen.
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III.
Der Streitwert bei wiederkehrenden Leistungen im Entschädigungsrecht
beträgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gemäß § 225
Abs. 3 BEG in Verbindung mit § 13 Abs. 3 GKG in der Fassung des Gesetzes
vom 26. Juli 1957 (BGBl. I S. 941) den fünffachen Jahresbetrag der Rente in
der Höhe, wie sie zu Beginn des Rechts auf den Rentenbezug beantragt wor-
den ist (BGH, Beschl. v. 15. Juli 1997 - IX ZR 263/96, BGHR BEG § 225 Abs. 3
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Streitwert 1). Dem ist auch für den Fall der hier beantragten monatlich wieder-
kehrenden Behindertenwaisenrente zu folgen.
Ganter Raebel Vill
Cierniak
Lohmann
Vorinstanzen:
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 09.11.2004 - 27 O (E) 20/04 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 25.08.2005 - 13 U (E) 11/05 -