Urteil des BGH vom 25.07.2002

BGH (in dubio pro reo, haschisch, freispruch, aufhebung, hauptverhandlung, stpo, zeuge, amphetamin, verurteilung, sache)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 104/02
vom
25. Juli 2002
in der Strafsache
gegen
wegen gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln an Personen unter
18 Jahren u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Juli 2002,
an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof Maatz
als Vorsitzender,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Kuckein,
Athing,
Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanoviæ,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil
des Landgerichts Essen vom 14. November 2001 insge-
samt mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entschei-
dung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
Strafkammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "gewerbsmäßigen" uner-
laubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in sieben Fällen, jeweils in Ta-
teinheit mit gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln an Personen unter
18 Jahren, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten
verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Im übrigen
hat es den Angeklagten freigesprochen. Mit ihrer zu Ungunsten des Ange-
klagten eingelegten Revision greift die Staatsanwaltschaft das Urteil im Um-
fang des Freispruchs und zum Rechtsfolgenausspruch an. Das - vom General-
bundesanwalt vertretene - Rechtsmittel hat Erfolg und führt zur Aufhebung des
Urteils auch, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, weil die Rechtsmittel-
beschränkung sich hier als unwirksam erweist.
1. Die dem Freispruch zugrundeliegende Beweiswürdigung des Landge-
richts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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a) Mit der zugelassenen Anklage war dem Angeklagten über die der
Verurteilung zugrundeliegenden Fälle des gewinnbringenden Verkaufs von
Haschisch an die Jugendlichen S. E. und D. M. im Zeitraum März/April
2001 hinaus zur Last gelegt worden, im Zeitraum von Juni bis Ende November
2000 zweimal pro Woche jeweils zwei Gramm Haschisch zu 10 DM und zwi-
schen Dezember 2000 und Mitte Februar 2001 viermal jeweils zwei Gramm
Amphetamin für jeweils 15 DM/g an den Jugendlichen P. M. verkauft zu
haben, wobei es im Zusammenhang mit einem der Verkäufe von Amphetamin
kurz vor Weihnachten 2000 zu vom Angeklagten gewaltsam erzwungenen se-
xuellen Kontakten zwischen beiden gekommen sei. Desweiteren wurde dem
Angeklagten vorgeworfen, ab Mitte Januar 2000 bis März 2001 P. M. in
50 Fällen jeweils 20 Gramm Amphetamin übergeben zu haben, die dieser auf
sein Verlangen hin gegen einen Lohn von jeweils 100 DM verkauft habe. Fer-
ner habe der Angeklagte im Zeitraum März/April 2001 an S. E. zwei Bub-
bels Heroin sowie einmal zehn Gramm und ein weiteres Mal 300 Gramm Ha-
schisch verkauft. Bei einem weiteren Geschäft über zehn Gramm Haschisch
habe der Angeklagte dem Jugendlichen "zwischen die Beine gegriffen", worauf
dieser mit dem Haschisch fortgelaufen sei. Schließlich habe der Angeklagte
den Jugendlichen D. M. dafür gewonnen, für ihn Haschisch zu verkaufen;
er, der Angeklagte, habe in seiner Wohnung ein Kilogramm Marihuana und
eine Platte Haschisch von ca. 300 Gramm gehabt, wovon er M. ein Stück von
ca. zehn Gramm abgebrochen habe.
b) Das Landgericht hat den Angeklagten, der diese Taten bestritten hat,
aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Es hat gemeint, "die Zeugen
P. M. , S. E. und D. M. (hätten) sich bei ihrer gerichtlichen Verneh-
mung in ganz entscheidenden Punkten so erheblich in Widerspruch zu ihrer
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polizeilichen Vernehmung gesetzt, daß ihren Aussagen insgesamt kein Ge-
wicht mehr zukommen (könne)" (UA 16). Desweiteren beschränkt sich das Ur-
teil darauf, nach der Mitteilung des Anklagevorwurfs die ihre den Angeklagten
belastenden Angaben im Ermittlungsverfahren erheblich einschränkenden
Aussagen dieser Zeugen in der Hauptverhandlung wiederzugeben. Es meint,
da somit die Aussage "entweder vor der Polizei oder vor dem Gericht teilweise
bewußt falsch war" (UA 16/17, ebenso UA 19), könne auf sie eine Verurteilung
nicht gestützt werden.
c) Diese Ausführungen werden schon im Ansatz den Anforderungen an
die Begründungspflicht bei freisprechenden Urteilen nicht gerecht. Bei einem
Freispruch aus tatsächlichen Gründen muß der Tatrichter zunächst darlegen,
welchen Sachverhalt er als festgestellt erachtet (st. Rspr.; BGHR StPO § 267
Abs. 5 Freispruch 7 m.w.N.). Derartige Feststellungen zum Tatgeschehen
selbst fehlen vollständig. Die Wiedergabe allein der Bekundungen der ver-
nommenen Zeugen genügt der Begründungspflicht nicht (BGHR aaO m.w.N.).
d) Davon abgesehen läßt das Urteil die erforderliche Beweiswürdigung
vermissen, die dem Revisionsgericht erst die Prüfung ermöglicht, ob der den
Entscheidungsgegenstand bildende Sachverhalt erschöpfend gewürdigt ist und
ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht.
Weichen Belastungszeugen, auf deren Aussage die Anklage gestützt ist,
in der Hauptverhandlung in wesentlichen Punkten von ihrer früheren Tatschil-
derung ab und hängt die Entscheidung allein davon ab, ob diesen Zeugen zu
folgen ist, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, daß der Tatrichter alle
Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine
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Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH StV 1998, 250). Dies hat nicht nur für
den Fall der Verurteilung, sondern auch für den des Freispruchs des Ange-
klagten zu gelten (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 14. März 2002 - 4 StR 583/01).
Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
Die Urteilsgründe verhalten sich weder näher zur Entstehungsge-
schichte der polizeilichen Aussagen der genannten Zeugen noch im einzelnen
zu der Frage, aus welchen Gründen für diese ein Motiv bestanden haben
könnte, den Angeklagten im Ermittlungsverfahren zu Unrecht zu belasten. Das
Urteil teilt auch nicht mit, ob die Zeugen in der Hauptverhandlung eine Erklä-
rung für ihre Aussageänderung - und gegebenenfalls welche - abgegeben ha-
ben. Dessen hätte es schon deshalb bedurft, weil der Umstand, daß alle drei
Belastungszeugen gleichermaßen von ihren polizeilichen Angaben abgerückt
sind bzw. diese relativiert haben, auf ein - naheliegend mit dem Angeklagten -
abgestimmtes Aussageverhalten hindeuten.
Das Landgericht macht auch nicht deutlich, weshalb es sich hinsichtlich
der den Zeugen P. M. betreffenden Straftaten des Angeklagten nicht zu-
mindest in dem von diesem Zeugen in der Hauptverhandlung bestätigten Um-
fang der für den Angeklagten getätigten Amphetamingeschäfte (vgl. UA 18) hat
überzeugen können. Soweit das Landgericht hierzu meint, der Umstand, daß
der Zeuge selbst wegen Verkaufs von Amphetamin verurteilt worden ist, sei
"kein hinreichendes Indiz, ... (daß) er die Drogen von dem Angeklagten erhal-
ten hat" (UA 20), stellt dies nicht mehr als eine bloß denktheoretische Möglich-
keit dar. Jedenfalls hätte sich das Landgericht dann mit der Frage auseinan-
dersetzen müssen, weshalb der Zeuge den Angeklagten weiterhin als seinen
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Drogenlieferanten bezeichnet, obwohl er ihn andererseits durch seine Aussage
weithin entlastet hat.
Lückenhaft erweist sich die Würdigung des Aussageverhaltens des
Zeugen P. M. auch hinsichtlich der dem Angeklagten angelasteten Verge-
waltigung zu seinem Nachteil (UA 18 f.). Auch insoweit erschöpft sich die Be-
weiswürdigung des Landgerichts in der Mitteilung, der Zeuge habe angegeben,
den Angeklagten "bewußt wahrheitswidrig des gewaltsamen Analverkehrs be-
zichtigt" zu haben (UA 20). Insoweit hätte es jedoch der Auseinandersetzung
mit den zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten getroffenen Fest-
stellungen bedurft, wonach sich der bereits wegen fortgesetzten sexuellen
Mißbrauchs von Kindern verurteilte Angeklagte oft in der Drogenszene am
E. aufhält, um dort homosexuelle Kontakte zu knüpfen, und er den
Rauschgiftverkauf an Jugendliche in der Hoffnung betrieben hat, über die Dro-
gen auch sexuelle Kontakte zu den Jugendlichen herzustellen (UA 6). Ebenso
fehlt eine Auseinandersetzung damit, daß auch der Zeuge S. E. trotz seiner
im übrigen den Angeklagten entlastenden Aussage in der Hauptverhandlung
bestätigt hat, dieser sei ihm im Zusammenhang mit einem Rauschgiftgeschäft
"an seine Hose gegangen" (UA 16).
Die Sache bedarf daher, soweit der Angeklagte freigesprochen ist, der
neuen Verhandlung und Entscheidung.
3. Der Senat hebt zugleich - insoweit auch gemäß § 301 StPO zu Gun-
sten des Angeklagten - das Urteil auf, soweit das Landgericht den Angeklagten
- an sich rechtsfehlerfrei - verurteilt hat. Denn die zu den Betäubungsmittelver-
käufen an S. E. , T. H. und D. M. getroffenen Feststellungen lassen
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die Möglichkeit offen, daß diese ganz oder teilweise mit den weiteren dem An-
geklagten angelasteten Rauschgiftgeschäften, auf die sich der Freispruch be-
zieht, nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (BGHSt 30,
28, 31) eine Bewertungseinheit und deshalb eine Tat im rechtlichen Sinne bil-
den. Dies kommt schon deshalb in Betracht, weil sich die Tatzeiträume über-
schneiden und der Angeklagte - wie sich schon aus seiner Einlassung (UA 8)
ergibt - jeweils über größere als die in den einzelnen festgestellten Fällen ver-
kauften Mengen an Haschisch verfügte. Zwar ist es nicht geboten, festgestellte
Einzelverkäufe zur Bewertungseinheit zusammenzufassen, nur weil die nicht
näher konkretisierte Möglichkeit besteht, daß sie ganz oder teilweise aus ei-
nem Verkaufsvorrat stammen; doch ist es rechtsfehlerhaft, allein auf die Anzahl
der Veräußerungsgeschäfte abzustellen, wenn sich konkrete Anhaltspunkte
dafür ergeben, daß an sich selbständige Rauschgiftgeschäfte dieselbe
Rauschgiftmenge betreffen (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 52 Abs. 1 in dubio pro
reo 6 und BtMG § 29 Bewertungseinheit 5, 11 bis 14). Dies gilt auch in Fällen
des § 29 a Abs. 1 Nr. 1 BtMG (BGHR BtMG § 29 Bewertungseinheit 15). Dies
kann nur der neue Tatrichter unter Einschluß der vom Freispruch betroffenen
Fälle klären. Hierzu bedarf es auch der Aufhebung der an sich nicht ange-
fochtenen Verurteilung des Angeklagten. Denn nur auf diese Weise kann ver-
hindert werden, daß der Schuldspruch in Rechtskraft erwächst, was - wenn
sich die Annahme einer Bewertungseinheit bestätigt - jedenfalls insoweit einer
Verfolgung der vom Freispruch berührten Betäubungsmittelgeschäfte wegen
des Verbots aus Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. zum Strafklageverbrauch beim Han-
deltreiben mit Betäubungsmitteln aus einer Gesamtmenge BGHSt 43, 252, 255
f.) entgegenstehen könnte (vgl. BGHR StPO § 353 Aufhebung 1). Aus diesem
Grunde erweist sich die Beschränkung des Rechtsmittels der Staatsanwalt-
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schaft als unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 17. August 2000 - 4 StR 233/00,
insoweit in NStZ 2001, 41 nicht abgedruckt).
4. Die Aufhebung des Urteils auch in seinem den Angeklagten verurtei-
lenden Teil zieht die Aufhebung des gesamten Rechtsfolgenausspruchs nach
sich. Eines Eingehens auf die Einzelbeanstandungen der Revision bedarf es
deshalb nicht.
Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Halbs.
StPO Gebrauch und verweist die Sache an das Landgericht Hagen zurück.
Maatz Kuckein Athing
Solin-Stojanoviæ Ernemann