Urteil des BGH vom 14.03.2017

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
II ZB 35/07
vom
2. September 2009
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
RVG § 15 a, RVG VV Vorb. 3 Abs. 4 VV; ZPO § 91
Der Gesetzgeber hat durch die Einfügung von § 15 a Abs. 1 RVG (Art. 7 Abs. 4
Nr. 3 des Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariel-
len Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft so-
wie zur Änderung sonstiger Vorschriften, BGBl I S. 2449) die bereits unter Geltung
des § 118 BRAGO und nachfolgend unter Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG bestehende Ge-
setzeslage klargestellt. Die Anrechnungsvorschrift wirkt sich danach grundsätzlich
im Verhältnis zu Dritten, damit insbesondere im Kostenfestsetzungsverfahren, nicht
aus. Im Kostenfestsetzungsverfahren musste und muss eine Verfahrensgebühr, von
den in § 15 a Abs. 2 RVG geregelten Ausnahmen abgesehen, stets auch dann in
der geltend gemachten Höhe festgesetzt werden, wenn für den Bevollmächtigten
des Erstattungsberechtigten eine Geschäftsgebühr entstanden ist.
BGH, Beschluss vom 2. September 2009 - II ZB 35/07 - OLG Stuttgart
LG Stuttgart
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Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 2. September 2009
durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Goette und die Richter Kraemer,
Dr. Strohn, Caliebe und Dr. Löffler
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des
8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. Oktober
2007 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 676,52 €
Gründe:
I.
Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 2. August 2007 hat die Rechts-
pflegerin des Landgerichts die von den (vollumfänglich) unterlegenen Beklagten
an die Klägerin zu erstattenden Kosten auf 3.073,84 € festgesetzt. In diesem
Betrag ist u.a. die von der Klägerin für ihren Bevollmächtigten geltend gemachte
1,3-Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3100 VV RVG in voller Höhe berücksichtigt.
Dagegen wenden sich die Beklagten mit der Begründung, wegen der vorge-
richtlichen Tätigkeit des Bevollmächtigten der Klägerin und der dadurch ent-
standenen 1,3-Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG sei im Hinblick auf die
Anrechnungsregelung in Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG die Verfahrensgebühr nur in
Höhe von 0,55 entstanden und nur in dieser Höhe festsetzbar.
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Das Oberlandesgericht hat die sofortige Beschwerde der Beklagten zu-
rückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen.
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II.
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Die statthafte und frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde
der Beklagten (§§ 574 Abs. 1 Nr. 2, 575 ZPO) hat in der Sache keinen Erfolg.
Die Rechtspflegerin hat zu Recht die von den Beklagten an die Klägerin zu er-
stattenden Kosten auf insgesamt 3.073,84 € festgesetzt und dabei die Verfah-
rensgebühr des Bevollmächtigten der Klägerin in der geltend gemachten Höhe
von 1,3 Gebühren trotz der unstreitig entfalteten außergerichtlichen Tätigkeit
des Bevollmächtigten berücksichtigt.
1. Die Beklagten stützen - vor allem im Rechtsbeschwerdeverfahren -
ihre Ansicht auf die neuere Rechtsprechung einiger Senate des Bundesge-
richtshofs. Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Erlass der an-
gefochtenen Entscheidung mit Beschluss vom 22. Januar 2008 (VIII ZB 57/07,
NJW 2008, 1323 ff.) - abweichend von der bis dahin feststehenden höchstrich-
terlichen Rechtsprechung (Beschl. v. 20. Oktober 2005 - I ZB 21/05, NJW-
RR 2006, 501; v. 27. April 2006 - VII ZB 116/05, NJW 2006, 2560 und v.
30. Januar 2007 - X ZB 7/06, NJW 2007, 3289) und ohne sich mit ihr auseinan-
derzusetzen - entschieden, dass in einem Fall wie dem vorliegenden die Ver-
fahrensgebühr nur in Höhe von 0,55 festgesetzt werden könne, da sie im Hin-
blick auf die vorgerichtliche Tätigkeit des Bevollmächtigten und die Anrech-
nungsregelung in Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG überhaupt nur in dieser Höhe "ent-
stehe". Dem haben sich mehrere Senate des Bundesgerichtshofs ohne eigene
Begründung angeschlossen.
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Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum ganz überwiegend und z.T. auch
in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung auf - teilweise heftige - Kritik gesto-
ßen (s. nur Schons, AnwBl. 2008, 356; Hansen, RVG-Report 2008, 121;
Junglas, NJOZ 2008, 2707; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG 18. Aufl.
VV 3100 Rdn. 217; Bericht der Gebührenreferenten der RAK, RVG-Report
2008, 210; KG JurBüro 2008, 304; AnwBl. 2009, 236). Selbst der Petitionsaus-
schuss des Bundestages hat den Gesetzgeber aufgefordert, tätig zu werden.
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2. Den erkennenden Senat überzeugt die Ansicht des VIII. Zivilsenats
nicht. Ohne die gegen diese Lösung des Anrechnungsproblems anzuführenden
systematischen, teleologischen und sprachlichen Argumente im Einzelnen dar-
zustellen, vermag der Senat ihr nicht zuletzt im Hinblick auf die teilweise zu
Recht als katastrophal bezeichneten Folgen aber auch, weil er sie aus den ge-
setzlichen Bestimmungen nicht abzuleiten vermag, nicht zu folgen.
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Statt im Hinblick auf seine abweichende Meinung den Großen Senat für
Zivilsachen anzurufen, hat der Senat die Bearbeitung des vorliegenden Rechts-
beschwerdeverfahrens zurückgestellt, nachdem der Gesetzgeber die vom
VIII. Zivilsenat begründete Rechtsprechung zum Anlass für eine klarstellende
Änderung des RVG genommen hat. Das Gesetzgebungsverfahren hat am
4. August 2009 durch Verkündung des § 15 a RVG (Art. 7 Abs. 4 Nr. 3 des Ge-
setzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Be-
rufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie
zur Änderung sonstiger Vorschriften) im Bundesgesetzblatt (BGBl I S. 2449)
sein Ende gefunden. § 15 a RVG ist gemäß Art. 10 Satz 2 dieses Gesetzes am
Tag nach der Verkündung (5. August 2009) in Kraft getreten.
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Mit dem neu eingefügten § 15 a RVG hat der Gesetzgeber das RVG
nicht geändert, sondern lediglich die seiner Ansicht nach bereits vor Einfügung
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von § 15 a RVG bestehende Gesetzeslage in dem Sinne, wie auch der erken-
klargestellt
gemäß Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG grundsätzlich im Verhältnis zu Dritten, also ins-
besondere im Kostenfestsetzungsverfahren, nicht auswirkt. Die Anrechnungs-
vorschrift betrifft vielmehr grundsätzlich nur das Innenverhältnis zwischen An-
walt und Mandant. In der Kostenfestsetzung musste und muss daher eine Ver-
fahrensgebühr auch dann in voller Höhe festgesetzt werden, wenn für den Be-
vollmächtigten eine Geschäftsgebühr entstanden ist. Sichergestellt wird durch
§ 15 a Abs. 2 RVG lediglich, dass ein Dritter nicht über den Betrag hinaus auf
Ersatz und Erstattung in Anspruch genommen werden kann, den der Anwalt
von seinem Mandanten verlangen kann (siehe hierzu BT-Drucks. 16/12717 S. 2
und S. 67 f.; Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 5. April
2009; ebenso OLG Stuttgart, Beschl. v. 11. August 2009 - 8 W 339/09, juris
Tz. 10; OLG Dresden, Beschl. v. 13. August 2009 - 3 W 0793/09, n.v.; OVG
Münster, Beschl. v. 11. August 2009 - 4 E 1609/09, juris Tz. 9 ff.; Kallenbach,
AnwBl. 2009, 442; Schons, AGS 2009, 216, 217; Hansens, RVG-Report 2009,
241, 246; ders. AnwBl. 2009, 535 ff.).
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3. Da - unstreitig - keiner der Anwendungsfälle des § 15 a Abs. 2 RVG
vorliegt, hat die Rechtspflegerin die Verfahrensgebühr mit Recht in voller Höhe
festgesetzt.
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Goette Kraemer Strohn
Caliebe Löffler
Vorinstanzen:
LG Stuttgart, Entscheidung vom 02.08.2007 - 12 O 101/07 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 01.10.2007 - 8 W 380/07 -