Urteil des BGH vom 23.04.2003

Leitsatzentscheidung

Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
BtMG § 36 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 3
Das Gericht des ersten Rechtszugs ist auch dann gemäß § 36 Abs. 5 Satz 1
i. V. m. Abs. 1 Satz 3 BtMG für die Entscheidung über die Strafaussetzung zur
Bewährung zuständig, wenn die Therapiezeit nicht auf die Strafe angerechnet
wird, weil der Verurteilte bereits vor der Therapie zwei Drittel der Strafe verbüßt
hatte.
BGH, Beschl. vom 23. April 2003 - 2 ARs 89/03 - Amtsgericht Balingen
- Landgericht Karlsruhe
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 ARs 89/03
2 AR 54/03
vom
23. April 2003
in der Strafsache
gegen
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wegen Diebstahls
Az.: 2 Js 11250/98 2 VRs Staatsanwaltschaft Hechingen
Az.: 1 Ds 41/98 vbm. 1 Ds 24/98 Amtsgericht Balingen
Az.: StVK 882/02 Landgericht Karlsruhe
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts am 23. April 2003 beschlossen:
Für die Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft
Hechingen, die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Ur-
teil des Amtsgerichts Balingen vom 16. Juni 1998 - 1 Ds 41 und
24/98 - zur Bewährung auszusetzen, ist das Amtsgericht Balingen
zuständig.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Balingen hat den Angeklagten am 16. Juni 1998 zu der
Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Nach Wi-
derruf der zunächst bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung hat der Verur-
teilte bis zum 3. März 2001 zwei Drittel der Strafe verbüßt. Sodann wurde die
Vollstreckung zunächst zur Teilverbüßung anderer Freiheitsstrafen unterbro-
chen (§ 454 b Abs. 2 StPO) und später mit Zustimmung des Amtsgerichts Ba-
lingen durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Hechingen vom 31. August
2001 ab 3. September 2001 gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG zurückgestellt mit
der Maßgabe, daß die Therapiezeit nicht auf die Strafe angerechnet werde,
weil bereits zwei Drittel der Strafe verbüßt seien. Auch die Staatsanwaltschaf-
ten Heilbronn und Rottweil stellten die Vollstreckung der dortigen Reststrafen
zurück. Nach erfolgreichem Verlauf wurde der Verurteilte am 3. Februar 2002
aus der Therapie bei der staatlich anerkannten Drogenhilfe Tübingen entlas-
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sen. Es ist nunmehr darüber zu entscheiden, ob die Restfreiheitsstrafe zur Be-
währung ausgesetzt werden kann. Für die von den Staatsanwaltschaften Heil-
bronn und Rottweil zu vollstreckenden Strafen ist die Strafaussetzung bereits
erfolgt. Die Staatsanwaltschaft Hechingen hat am 14. Mai 2002 bei dem Amts-
gericht Balingen beantragt, die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem
Urteil vom 16. Juni 1998 gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG zur Bewährung aus-
zusetzen. Das Amtsgericht Balingen - bestätigt im Beschwerdeverfahren durch
das Landgericht Hechingen - und die auswärtige Strafvollstreckungskammer
Pforzheim des Landgerichts Karlsruhe haben sich für unzuständig erklärt, über
den Antrag der Staatsanwaltschaft Hechingen zu entscheiden. Die Staatsan-
waltschaft Hechingen hat beantragt, gemäß § 14 StPO das zuständige Gericht
zu bestimmen (zur Antragsbefugnis vgl. Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 14
Rdn. 13 m.w.N.).
II.
Die Entscheidung über die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Be-
währung obliegt dem Amtsgericht Balingen.
Nach der Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG und
dem Abschluß der Drogentherapie ist das Gericht des ersten Rechtszugs auch
dann gemäß § 36 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 BtMG für die Entschei-
dung über die Strafaussetzung zur Bewährung zuständig, wenn die Therapie-
zeit nicht auf die Strafe angerechnet wird, weil der Verurteilte bereits vor der
Therapie zwei Drittel der Strafe verbüßt hatte. In diesen Fällen geht die Zu-
ständigkeit für die Aussetzungsentscheidung entgegen der Ansicht des Amts-
gerichts Balingen nicht deshalb auf die Strafvollstreckungskammer über, weil
die Therapiezeit nicht auf die Strafe angerechnet werden kann.
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§ 36 Abs. 5 Satz 1 BtMG überträgt die nach den Absätzen 1 bis 3 zu
treffenden Entscheidungen dem Gericht des ersten Rechtszugs. Absatz 1 er-
faßt die Fälle, in denen sich der Verurteilte nach der Zurückstellung der Straf-
vollstreckung (§ 35 BtMG) in einer staatlich anerkannten Einrichtung hat be-
handeln lassen. Diese Therapiezeit wird bis zur Erledigung von zwei Dritteln
obligatorisch auf die Strafe angerechnet. Nach Abschluß der Therapie setzt
das Gericht bei günstiger Prognose die Reststrafe zur Bewährung aus. Ab-
satz 2 ermöglicht die Aussetzung der Reststrafe auch dann, wenn die Abhän-
gigkeitsbehandlung in einer staatlich nicht anerkannten Einrichtung erfolgt ist.
In diesen Fällen ist die Anrechnung der Therapiezeit auf die Strafe aber nicht
obligatorisch, vielmehr steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob
die Zeit der Behandlung ganz oder zum Teil auf die Strafe angerechnet wird
(§ 36 Abs. 3 BtMG; vgl. Körner, BtMG 5. Aufl. § 36 Rdn. 34; Fran-
ke/Wienroeder, BtMG 2. Aufl. § 36 Rdn. 11).
Der hier zu beurteilende Vollstreckungsverlauf, bei dem zwei Drittel der
Strafe nicht durch Anrechnung, sondern schon vor der Zurückstellung durch
Verbüßung erledigt sind und die Therapie somit auch nicht vor Erreichen der
Zwei-Drittel-Verbüßung abgeschlossen wurde, wird vom Wortlaut des § 36
Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG nicht unmittelbar erfaßt. Bei dem Verurteilten
N. besteht die Besonderheit, daß die Voraussetzungen des § 36
Abs. 1 und 2 BtMG bei formaler Betrachtung deshalb nicht in vollem Umfang
gegeben sind, weil er die tatbestandsmäßigen Anforderungen dieser Vor-
schriften übererfüllt hat. Soweit § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG in Betracht kommt,
hatte der Verurteilte schon vor der obligatorischen Anrechnung der Therapie-
zeit in einer staatlich anerkannten Einrichtung zwei Drittel der Strafe verbüßt;
soweit Absatz 2 in Betracht kommt, hat der Verurteilte die Therapie in einer
staatlich anerkannten Einrichtung absolviert und nicht nur in einer Einrichtung,
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bei der die Anrechnung der Therapiezeit von einer Ermessensentscheidung
des Gerichts abhängt. Es würde jedoch Sinn und Zweck der Zurückstellung der
Strafvollstreckung widersprechen, die Anwendbarkeit des § 36 Abs. 1 Satz 3
BtMG nur deswegen zu verneinen, weil der Verurteilte durch die Verbüßung
von zwei Dritteln der Strafe bereits mehr an Vorleistung erbracht hat, als diese
Vorschrift für eine Strafaussetzung zur Bewährung erfordert. Dies gilt um so
mehr, als die Strafaussetzung nach einer staatlich nicht anerkannten Therapie
nach § 36 Abs. 2 BtMG auch dann möglich ist, wenn diese Therapie nicht ge-
mäß § 36 Abs. 3 BtMG auf die Strafe angerechnet wird. Dies zeigt, daß die An-
rechnung der Therapiezeit auf die Strafe nach dem Regelungskonzept des §
36 BtMG nicht notwendige Voraussetzung für eine Strafaussetzung zur Bewäh-
rung ist. Auch wenn somit der Wortlaut des § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG den vor-
liegenden Fall nicht unmittelbar erfaßt, ist er nach Sinn und Zweck der Rege-
lung jedenfalls entsprechend anwendbar (so zutreffend schon LG Offenburg
StV 1996, 218).
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Dies hat zur Folge, daß gemäß § 36 Abs. 5 Satz 1 BtMG das Amtsge-
richt Balingen als Gericht des ersten Rechtszugs darüber zu entscheiden hat,
ob die Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 16. Juni 1998 zur Bewährung
ausgesetzt werden kann. Die Zuständigkeit einer Strafvollstreckungskammer
kommt daher nicht in Betracht.
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