Urteil des BGH vom 26.10.2006

BGH (stpo, anklage, einstellung, staatsanwaltschaft, verhandlung, fortsetzung, rechtsmittel, freispruch, verurteilung, strafkammer)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 290/06
vom
26. Oktober 2006
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u. a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26. Oktober
2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Winkler,
Pfister,
von Lienen,
Hubert
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
in der Verhandlung,
Richter am Landgericht bei der Verkündung
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklä-
gerin wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 29. März
2006 mit den Feststellungen aufgehoben.
Das dem Beschluss des Landgerichts vom 28. März 2006 über
die Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO in den Fällen 1 bis 4, 6
bis 9, 13 bis 16, 18, 20 und 22 der Anklage (15 Fälle) nachfol-
gende Verfahren wird eingestellt; im Umfang der Einstellung
fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Ausla-
gen des Angeklagten der Staatskasse zur Last.
Im danach verbleibenden Umfang wird die Sache zu neuer
Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden
Kosten der Rechtsmittel und die der Nebenklägerin dadurch
entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Straf-
kammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Mit der zugelassenen Anklage ist dem Angeklagten der sexuelle Miss-
brauch seiner Tochter in 22 Fällen zur Last gelegt worden. Das Landgericht hat
den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen in allen Fällen freigesprochen.
Hiergegen wenden sich die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin mit ihren
jeweils auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revi-
sionen. Die Rechtsmittel führen zur Aufhebung des Urteils und zur Einstellung
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des Verfahrens, soweit das angefochtene Urteil die in der Hauptverhandlung
gemäß § 154 Abs. 2 StPO ausgeschiedenen Taten zum Gegenstand hat.
1. Der - nach dem Inhalt des angefochtenen Urteils - auch in den Fällen
1 bis 4, 6 bis 9, 13 bis 16, 18, 20 und 22 der Anklage erfolgte Freispruch des
Angeklagten kann nicht bestehen bleiben. Das Landgericht hat das Verfahren
hinsichtlich dieser Fälle auf Antrag der Staatsanwaltschaft am Ende der Be-
weisaufnahme gemäß § 154 Abs. 2 StPO - ersichtlich in Verbindung mit § 154
Abs. 1 Nr. 1 StPO - eingestellt. Deshalb war insoweit das Verfahren vom Erlass
des Einstellungsbeschlusses an nicht mehr gerichtlich anhängig (vgl. BGHSt
10, 88; 30, 197; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. § 154 Rdn. 17 m. w. N.). Da die
Voraussetzungen für die Fortsetzung des Verfahrens nach § 154 Abs. 4 und 5
StPO nicht erfüllt sind, insbesondere der nach § 154 Abs. 5 StPO erforderliche
Wiederaufnahmebeschluss nicht vorliegt und eine stillschweigende Wiederauf-
nahme - was sich bereits aus dem Wortlaut von § 154 Abs. 5 StPO ergibt - zur
Fortsetzung des gerichtlichen Verfahrens nicht genügt, bildet der Einstellungs-
beschluss vom 28. März 2006 ein im Revisionsverfahren von Amts wegen zu
beachtendes Verfahrenshindernis, das zur Einstellung des dem Beschluss
nachfolgenden Verfahrens gemäß § 260 Abs. 3 StPO zwingt (vgl. BGH, Urt.
vom 20. März 1980 - 2 StR 5/80; Beulke in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl.
§ 154 Rdn. 82; BayObLG NStZ 1992, 403). Dies hat zur Folge, dass der Ein-
stellungsbeschluss nach wie vor in Kraft ist und die betroffenen Taten (nur)
durch einen Wiederaufnahmebeschluss gemäß § 154 Abs. 5 StPO wieder in
das Verfahren einbezogen werden könnten.
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2. Im Übrigen muss das angefochtene Urteil aufgehoben werden, weil
die Beweiswürdigung des Landgerichts sachlichrechtlicher Prüfung nicht Stand
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hält. Auf die von beiden Beschwerdeführern erhobenen - inhaltsgleichen - Ver-
fahrensrügen kommt es deshalb nicht an.
Das Landgericht hat eine vollständig erfundene Aussage der Nebenklä-
gerin ebenso ausgeschlossen wie eine Falschbelastung des Angeklagten im
Rahmen eines Komplotts seiner Familie. Es ist hinsichtlich der Aussage der
Geschädigten zu dem Beweisergebnis gelangt, dass sie zu einigen sexuellen
Übergriffen "konstant und mit einigen Details angefüllt" berichtet hat. Dies gelte
insbesondere für die Vorfälle in der Wohnung in der D. Straße in M.
(Fälle 10 und 11 der Anklage), den Vorfall im Ziegenstall in H.
(Fall 17 der Anklage) sowie für die sexuellen Handlungen im Hühnerstall in R.
(Fall 21 der Anklage). Die unter den Gesichtspunkten von Konstanz und
Konkretisierung gegebenen Mängel in den Angaben der Nebenklägerin zu an-
deren Taten hätten jedoch zu dem Ergebnis führen müssen, dass die Aussage
"im Ganzen" nicht ausreichend sei, um konkrete Feststellungen hinsichtlich ein-
zelner begangener Taten mit einer für eine Verurteilung erforderlichen Sicher-
heit treffen zu können.
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Dem kann aus rechtlichen Gründen nicht gefolgt werden. Das Landge-
richt hätte nämlich der Frage näher nachgehen müssen, ob eine Verurteilung
des Angeklagten wegen der konstant und konkret geschilderten Taten in Be-
tracht kommt, zumal die Aussagen der Nebenklägerin zu diesen Taten nach
Überzeugung der Strafkammer dafür gesprochen haben, dass es in den Jahren
des gemeinsamen Zusammenlebens "durchaus zu Übergriffen auch sexueller
Art durch den Angeklagten" gekommen ist. Bei der gegebenen Sachlage kann
auch der die übrigen Taten betreffende Freispruch nicht bestehen bleiben. Die
Sache bedarf vielmehr insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
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3. Für den Fall, dass auch der neue Tatrichter die Zuziehung eines
aussagepsychologischen Sachverständigen für erforderlich halten sollte,
was sich jedenfalls mit Blick auf das Alter der Nebenklägerin nicht von
selbst versteht, könnte sich die Beauftragung eines anderen Sachverstän-
digen empfehlen.
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Tolksdorf Winkler Pfister
von Lienen Hubert