Urteil des BGH vom 12.12.2003

BGH (zpo, schuldner, antrag, interesse, einkünfte, pfändung, sozialhilfe, anordnung, unterhalt, durchführung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IXa ZB 209/03
vom
12. Dezember 2003
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
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Der IXa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Kreft, die Richter Raebel, Dr. Boetticher, von Lienen und die Richterin
Dr. Kessal-Wulf
am 12. Dezember 2003
beschlossen:
Dem Schuldner wird zur Durchführung der Rechtsbeschwer-
de unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. Nassall Prozeß-
kostenhilfe bewilligt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners wird der Be-
schluß der XI. Zivilkammer des Landgerichts Karlsruhe vom
30. Juni 2003 aufgehoben.
Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin gegen den Be-
schluß des Amtsgerichts Karlsruhe vom 1. April 2003 wird
zurückgewiesen.
Die Kosten der Rechtsmittelverfahren trägt die Gläubigerin.
Der Antrag des Schuldners auf Erlaß einer einstweiligen An-
ordnung ist erledigt.
Wert des Beschwerdegegenstands: 3.067,68 Euro.
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Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat mit Beschluß vom 27. November 1996 zugunsten
von Unterhaltsforderungen der Gläubigerin, der geschiedenen Ehefrau des
Schuldners, dessen Ansprüche auf Rentenzahlung gegen die Drittschuldner
zu 1 und 2 gepfändet. Mit Beschluß vom 3. Juli 1997 hat das Vollstreckungsge-
richt auf Antrag des Schuldners den pfändungsfreien Betrag auf 1.491,30 DM
monatlich angehoben. Die Unterhaltsrückstände sind seit Februar 2003 getilgt,
der Anspruch der Gläubigerin auf laufenden Unterhalt beläuft sich gegenwärtig
auf 255,64 Euro.
Seit Ende Januar 2002 lebt der Schuldner in einem Seniorenzentrum.
Die Renteneinkünfte des Schuldners betragen 727,70 Euro (BfA) und
511,14 Euro (VBL), zusammen 1.238,84 Euro. Sein Bedarf beläuft sich nach
seiner Einstufung in die Pflegeklasse III seit dem 1. Juni 2002 auf monatlich
1.681,11 Euro. Nach Aufnahme des Schuldners in das Seniorenzentrum hat
die Sozial- und Jugendbehörde der Stadt Karlsruhe rückwirkend zu dessen
Rente Hilfe in besonderen Lebenslagen gewährt. Im Januar 2003 hat der Be-
treuer des Schuldners die Aufhebung des Pfändungs- und Überweisungsbe-
schlusses mit dem Ziel begehrt, den bei der VBL-Rente vorgenommenen Ab-
zug des laufenden Unterhalts von 255,64 Euro zu beseitigen. Das Amtsgericht
hat mit Beschluß vom 1. April 2003 den pfändungsfreien Betrag auf
1.681,11 Euro mit der Begründung angehoben, die Einkünfte des Schuldners
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aus Versorgungsbezügen reichten nicht aus, den sozialhilferechtlichen Mehr-
bedarf zu decken.
Gegen diesen Beschluß hat sich die Gläubigerin mit der rechtszeitig
eingelegten sofortigen Beschwerde gewandt, der das Amtsgericht nicht abge-
holfen hat. Die Gläubigerin hat geltend gemacht, sie sei aufgrund ihrer eigenen
Altersrente von 846,17 Euro und laufenden Belastungen von 355,53 Euro drin-
gend auf den Unterhalt angewiesen. Das Landgericht hat den Beschluß des
Amtsgerichts aufgehoben und den Antrag des Schuldners auf Anhebung des
pfändungsfreien Betrags abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Schuldner mit
der zugelassenen Rechtsbeschwerde.
Mit seinem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung begehrt er
bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde die Hinterlegung des abge-
zogenen Unterhalts.
II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und auch im
übrigen zulässige Rechtsbeschwerde des Schuldners ist begründet. Damit er-
ledigt sich auch der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts läßt sich das Ziel des An-
trags nach § 850f Abs. 1 ZPO nicht mehr erreichen, das Existenzminimum des
Schuldners zu sichern und das Eintreten des Sozialhilfeträgers zu verhindern,
weil dieser in jedem Fall Zahlungen für den Schuldner erbringen müsse. In ei-
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nem solchen Fall sei es dem Schuldner regelmäßig gleichgültig, wie hoch der
Sozialhilfeanteil sei. Von seinen Einkünften habe er keinen direkten Vorteil,
weil sie entweder von der Gläubigerin gepfändet oder zur Deckung der Sozial-
hilfeaufwendungen herangezogen würden. Dagegen sei Grund der Vollstrek-
kung ein privilegierter Unterhaltsanspruch der geschiedenen Ehefrau nach
§ 850d ZPO. Unter diesen Umständen sei die dem Wortlaut des § 850f Abs. 1
ZPO widersprechende und nur in Ausnahmefällen in Betracht kommende völli-
ge Pfandfreigabe der Einkünfte des Schuldners nicht gerechtfertigt.
2. Die Rechtsbeschwerde meint dagegen, die Auffassung des Be-
schwerdegerichts laufe darauf hinaus, daß die Gläubigerin ihre titulierte Forde-
rung auf Kosten des Sozialhilfeträgers befriedigen könne. Das Interesse der
Allgemeinheit gehe auch dahin, für den Schuldner möglichst wenig Sozialhilfe
aufwenden zu müssen, um den Lebensunterhalt des Sozialhilfeberechtigten zu
sichern. Das Beschwerdegericht habe es im übrigen unterlassen festzustellen,
daß der Gläubigerin durch die Anhebung des pfändungsfreien Betrages ein
Nachteil entstehen würde, der schwerer zu bewerten sei als der besondere
Nachteil, der dem Schuldner aus dem Zusammentreffen der Pfändung mit sei-
nen erhöhten Lasten erwachse.
3. Der Ansicht des Beschwerdegerichts ist nicht zu folgen.
a) Nach § 850f Abs. 1 ZPO kann das Vollstreckungsgericht dem Schuld-
ner auf Antrag von dem nach den Bestimmungen der § 850c, § 850d und
§ 850i ZPO pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens einen Teil belassen,
wenn er nachweist, daß bei Anwendung der Pfändungsfreigrenzen entspre-
chend der Anlage zu § 850c ZPO der notwendige Lebensunterhalt für sich und
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die Personen, denen er Unterhalt zu gewähren hat, nicht gedeckt ist
(Buchst. a) oder besondere Bedürfnisse aus persönlichen oder beruflichen
Gründen es erfordern, die Pfändungsfreigrenze heraufzusetzen (Buchst. b),
sofern überwiegende Belange des Gläubigers nicht entgegenstehen. Schon
nach seinem Wortlaut gilt § 850f Abs. 1 Buchst. a und b ZPO uneingeschränkt
auch für die Vollstreckung von Ehegattenunterhalt. Die Bestimmung steht im
Zusammenhang mit der des § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO und geht der Regelung
in § 850d Abs. 1 Satz 3 ZPO vor (vgl. OLG Frankfurt am Main NJW-RR 2000,
220; Zöller/Stöber, ZPO 24. Aufl. § 850d Rn. 10; Thomas/Putzo, ZPO 25. Aufl.
§ 850f Rn. 1; Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO
62. Aufl. § 850f Rn. 3; Stein/Jonas/Brehm ZPO 21. Aufl. § 850f Rn. 7). Die Vor-
schrift soll im Interesse des Schuldners sicherstellen, daß diesem nach
Durchführung der Pfändungsmaßnahme das Existenzminimum verbleibt. Sie
soll zugleich im Interesse der Allgemeinheit, die die Mittel für ergänzende So-
zialhilfeleistungen aufzubringen hat, verhindern, daß der Gläubiger zu ihren
Lasten befriedigt wird. Der Pfändungsschutz nach § 850f Abs. 1 ZPO ist zu
gewähren, wenn die Vermeidung von Sozialhilfeleistungen oder besondere
Bedürfnisse des Schuldners einen weitergehenden Freibetrag erfordern und
nicht überwiegende Belange des Gläubigers entgegenstehen (Stöber, Forde-
rungspfändung 13. Aufl. Rn. 1175a). Dies macht die Abwägung der Belange
des Schuldners und des Gläubigers im Einzelfall erforderlich. Dabei kann auch
zu berücksichtigen sein, ob der Gläubiger bei Anwendung des § 850f Abs. 1
ZPO selbst in eine Notlage gerät (Zöller/Stöber aaO § 850f Rn. 7).
b) Nach diesem Maßstab ist es rechtlich nicht zu beanstanden, daß das
Amtsgericht angesichts des erhöhten Bedarfs des Schuldners den pfandfreien
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Betrages nach § 850f Abs. 1 ZPO angehoben und das Einkommen des
Schuldners derzeit pfändungsfrei gestellt hat.
aa) Der Schuldner lebt in einem Seniorenheim und ist hinsichtlich der
Aufwendungen für den Heimaufenthalt und die Pflege in erheblichem Umfang
und dauerhaft auf Hilfe in besonderen Lebenslagen angewiesen. Selbst bei
vollständiger Freistellung seiner Einkünfte von der Pfändung nach § 850f
Abs. 1 ZPO kann das Eintreten des Sozialhilfeträgers nicht vermieden werden.
Da jedoch die Vorschrift nicht nur ein Absinken des nach der Pfändung verblei-
benden Einkommens des Schuldners unter den Sozialhilfesatz verhindern,
sondern auch vermeiden soll, daß eine Befriedigung des Gläubigers auf Ko-
sten der Allgemeinheit erfolgt, ist es auch von Bedeutung, in welchem Umfang
die Allgemeinheit zum Lebensunterhalt des Schuldners beitragen muß, wenn
dessen eigene, ihm dazu zur Verfügung stehenden Einkünfte infolge der Pfän-
dung durch den Gläubiger geschmälert sind. Das Interesse der Allgemeinheit
und der Sozialhilfeträger muß deshalb auch dahin gehen, möglichst wenig So-
zialhilfe für den Schuldner aufzuwenden, um den - hier sogar erhöhten - Le-
bensunterhalt des Schuldners zu sichern. § 850f Abs. 1 ZPO schützt damit das
Interesse der Allgemeinheit und der Sozialhilfeträger ebenso wie die Anpas-
sung der Pfändungsfreigrenzen in § 850c ZPO (vgl. Entwurf eines Siebten Ge-
setzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen, BT-Drucks, 14/6812, S. 8 und
9).
bb) Demgegenüber kann nach den bisherigen Feststellungen
- jedenfalls zur Zeit - nicht davon ausgegangen werden, daß überwiegende
Belange der Gläubigerin den Interessen der Allgemeinheit entgegenstehen.
Sie hat lediglich vorgetragen, daß sie eine eigene Altersrente von 846,17 Euro
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erhält, von denen sie laufende Belastungen in Höhe von 355,53 Euro zu
bestreiten habe. Damit fehlen nähere Angaben über ihre Lebens- und Vermö-
gensverhältnisse, etwa, ob die Gläubigerin in einem Eigenheim lebt, ob sie Er-
sparnisse hat oder über Kapitaleinkünfte verfügt oder ob ihr Unterhaltsansprü-
che gegen Dritte zustehen. Ohne nähere Feststellungen überwiegt das Inter-
esse der Allgemeinheit an einer Anhebung der Pfändungsfreigrenze, damit die
Hilfe für die Heim- und Pflegekosten reduziert werden kann; allein der Um-
stand, daß der Gläubigerin ein titulierter Ehegattenunterhalt zusteht, führt zu
keinem anderen Ergebnis. Deshalb kann hier dahingestellt bleiben, ob anders
zu entscheiden wäre, wenn die Gläubigerin ohne den titulierten Ehegattenun-
terhalt aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse gezwungen
sein sollte, selbst Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, nur um den für den
Schuldner zuständigen Sozialhilfeträger zu entlasten. Hierüber wird gegebe-
nenfalls das Vollstreckungsgericht auf Antrag neu zu befinden haben.
Kreft Raebel Boetticher
v. Lienen Kessal-Wulf