Urteil des BGH vom 22.11.2004

BGH (akten, verhandlung, verfügung, zpo, sache, versehen, amtsenthebung, zustellung, termin, verkündung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
NotZ 23/04
Verkündet am:
22. November 2004
Freitag
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
vom
22. November 2004
in dem Verfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
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BNotO §§ 111 Abs. 4, 50 Abs. 3 Satz 3; BRAO §§ 40 Abs. 4, 41; FGG §§ 16, 27
Abs. 1 Satz 2; ZPO § 547 Nr. 6
Ein nach mündlicher Verhandlung ergangener Beschluß des Notarsenats (hier im
gerichtlichen Vorschaltverfahren gemäß § 50 Abs. 3 Satz 3 BNotO) ist "nicht mit
Gründen versehen", wenn er nicht binnen fünf Monaten nach der Verhandlung voll-
ständig schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der
Geschäftsstelle übergeben worden ist.
Dies gilt unabhängig davon, ob die Beschlußformel verkündet oder die Entscheidung
insgesamt durch Zustellung bekannt gemacht worden ist (Anschluß an BGH, Be-
schluß vom 18. Juni 2001 - AnwZ (B) 10/00 - NJW-RR 2001, 1642).
BGH, Beschluß vom 22. November 2004 - NotZ 23/04- OLG Frankfurt am Main
wegen Feststellung der Voraussetzungen für die Amtsenthebung
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Der Bundesgerichtshof, Senat für Notarsachen, hat durch den Vor-
sitzenden Richter Schlick, die Richter Galke, Wendt sowie die Notare
Dr. Doyé
und
Dr. Ebner
auf
die
mündliche
Verhandlung
vom
22. November 2004
beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der
auf den 20. Mai 2003 datierte Beschluß des 2. Notar-
senats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main aufge-
hoben.
Die Sache wird zur neuen Behandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das
Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf
50.000 €
festgesetzt.
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Gründe:
I. Der 1942 geborene Antragsteller ist seit 1971 als Rechtsanwalt
zugelassen und seit 1985 Notar mit dem Amtssitz in U. .
Mit Verfügung vom 27. Juli 2001 hat ihn der Präsident des Landge-
richts Frankfurt am Main vorläufig seines Amtes als Notar enthoben, weil
seine wirtschaftlichen Verhältnisse und die Art seiner Wirtschaftsführung
die Interessen der Rechtsuchenden gefährdeten (§§ 54 Abs. 1 Nr. 2, 50
Abs. 1 Nr. 8 BNotO). Dieser Einschätzung hat sich die Präsidentin des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main aufgrund der Vielzahl gegen ihn
geführter Prozesse und Vollstreckungsmaßnahmen sowie seiner außer-
ordentlich hohen Verschuldung und Belastungen angeschlossen und ihm
mit Bescheid vom 26. April 2002 angekündigt, daß sie aus diesen Grün-
den seine endgültige Amtsenthebung gemäß § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO in
Aussicht nehme. Gegen den auf den 20. Mai 2003 datierten Beschluß
des Oberlandesgerichts, mit dem sein Antrag auf gerichtliche Entschei-
dung gegen die Verfügung vom 26. April 2002 gemäß § 50 Abs. 3 Satz 3
BNotO zurückgewiesen worden ist, richtet sich die sofortige Beschwerde
des Antragstellers.
II. Das zulässige Rechtsmittel (§§ 111 Abs. 4 BNotO, 42 Abs. 4
BRAO) hat insoweit Erfolg, als es zur Aufhebung der angefochtenen Ent-
scheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesge-
richt führt. Der Beschluß leidet an einem erheblichen Verfahrensmangel.
Eine Entscheidung in der Sache selbst hält der Senat nicht für sachdien-
lich.
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1. a) Der genaue Verlauf des Verfahrens vor dem Oberlandesge-
richt ist den Akten nicht sicher zu entnehmen.
Nach Eingang des Antrages auf gerichtliche Entscheidung am
5. Juni 2002 ist Termin auf den 1. November 2002 anberaumt worden.
Verhandlungs- und Verkündungsprotokolle enthalten die Akten nicht.
Nach einer von der Antragsgegnerin dem Senat aus ihren Akten übermit-
telten Protokollabschrift hat am 15. November 2002 ein Verhandlungs-
termin vor dem Oberlandesgericht stattgefunden, in dem eine Entschei-
dung im schriftlichen Verfahren nicht vor dem 16. Dezember 2002 ange-
kündigt worden ist. Es gibt in den Akten keinen Anhalt dafür, daß unter
dem Beschlußdatum vom 20. Mai 2003 ein Verhandlungs- oder Verkün-
dungstermin stattgefunden hat. Im Gegenteil findet sich dort zunächst
eine Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 2. Juni 2002, ein Protokoll
aus einem anderen Verfahren (offenbar das im selben Termin verhandel-
te vorläufige Amtsenthebungsverfahren) zu diesen Akten zu nehmen.
Gemäß weiterer Verfügung von diesem Tag ist dem notariellen Beisitzer
ein Beschlußentwurf nebst Akten zur Prüfung und - wenn kein Bera-
tungsbedarf bestehe - zur Unterschrift zugeleitet worden.
Nach diesem durch die Akten ausgewiesenen Verfahrensgang
müssen nach einer mündlichen Verhandlung, aufgrund der die Entschei-
dung erlassen worden ist (§ 111 Abs. 4 BNotO i.V. mit § 40 Abs. 2 Satz 1
BRAO), weit mehr als fünf Monate vergangen sein, bis die gemäß § 111
Abs. 4 BNotO i.V. mit § 41 Abs. 1 BRAO mit Gründen versehene Ent-
scheidung von allen Richtern unterschrieben der Geschäftsstelle zur Zu-
stellung zugeleitet worden ist. Der Beschluß ist daher als "nicht mit
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Gründen versehen" zu behandeln (§ 111 Abs. 4 BNotO i.V. mit § 40
Abs. 4 BRAO, § 27 Abs. 1 Satz 2 FGG, § 547 Nr. 6 ZPO).
b) Es entspricht einem mittlerweile für alle Prozeßarten anerkann-
ten Grundsatz, daß ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaß-
tes Urteil "nicht mit Gründen versehen" ist, wenn Tatbestand und Ent-
scheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schrift-
lich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäfts-
stelle übergeben worden sind (vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Ge-
richtshöfe des Bundes, Beschluß vom 27. April 1993 - GmS-OGB 1/92 -
NJW 1993, 2603; BGH, Urteil vom 29. Oktober 1986 - IVa ZR 119/85 -
NJW 1987, 2446; Zöller/Vollkommer, ZPO 24. Aufl. § 310 Rdn. 5 und
Zöller/Gummer, aaO § 547 Rdn. 10 m.w.N.). Insbesondere hat der Bun-
desgerichtshof entschieden, daß der im Zulassungsverfahren gemäß
§ 40 BRAO ergangene Beschluß des Anwaltsgerichtshofes an einem we-
sentlichen Verfahrensmangel leidet (§ 40 BRAO i.V. mit § 27 Abs. 1
Satz 2 FGG, § 551 Nr. 7 ZPO a.F.), wenn er nicht binnen fünf Monaten
nach mündlicher Verhandlung vollständig schriftlich niedergelegt, von
den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle überge-
ben worden ist, gleichviel ob die Beschlußformel verkündet oder die Ent-
scheidung insgesamt durch Zustellung bekannt gemacht worden ist (Be-
schluß vom 18. Juni 2001 - AnwZ (B) 10/00 - NJW-RR 2001, 1642; vgl.
auch Beschluß vom 30. September 1997 - AnwZ (B) 11/97 - NJW-RR
1998, 267).
Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für das gerichtliche Vor-
schaltverfahren gemäß § 50 Abs. 3 Satz 3 BNotO, auf das die einschlä-
gigen Verfahrensvorschriften der Bundesrechtsanwaltsordnung entspre-
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chend anzuwenden sind (§ 111 Abs. 4 Satz 2 BNotO, vgl. BGHZ 44, 65;
Schippel, BNotO 7. Aufl. § 50 Rdn. 40). Tragender Gesichtspunkt für den
übergreifenden verfahrensrechtlichen Grundsatz ist, daß infolge des ab-
nehmenden richterlichen Erinnerungsvermögens nach mehr als fünf Mo-
naten nicht mehr gewährleistet ist, daß der Eindruck von der mündlichen
Verhandlung und das auf dieser Grundlage Beratene noch absolut zuver-
lässig Niederschlag in den viel später abgefaßten Gründen der Entschei-
dung finden. Dieser Gesichtspunkt trifft genauso zu für das gerichtliche
Vorschaltverfahren bei einer in Aussicht genommenen Amtsenthebung
eines Notars. Es geht um die "Vermeidung von Fehlerinnerung" und da-
mit um Gründe der Rechtssicherheit (GmS-OGB aaO), die auch in die-
sem Verfahren Beachtung verlangen. Dafür, daß insoweit geringere An-
forderungen zu stellen sein könnten als im verfahrensrechtlich gleich
ausgestalteten Zulassungsverfahren gemäß § 40 BRAO, gibt es keine
rechtliche Grundlage (vgl. BGH aaO NJW-RR 1998, 267).
2. Dem Senat erscheint es angezeigt, die Sache nach dem Rechts-
gedanken des § 538 Abs. 2 Satz 1 ZPO an das Oberlandesgericht zu-
rückzuweisen. Angesichts des zugrunde zu legenden Zeitablaufs seit der
mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht von knapp zwei
Jahren und der in diesem Zeitraum vorgetragenen Änderungen der Ver-
hältnisse beim Antragsteller, erscheint es sachdienlich, dem Oberlan-
desgericht eine neue - gleichsam erste - Beurteilung vorzubehalten. Da-
bei geht es zunächst ganz wesentlich um die Erfassung der nunmehr be-
stehenden, sich nach Aktenlage erheblich anders darstellenden wirt-
schaftlichen Situation des Antragstellers, als sie dem angefochtenen Be-
schluß zugrunde gelegt ist, mithin um den für die Entscheidungsreife
maßgeblichen Verfahrensstoff, und nicht etwa im wesentlichen um
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Rechtsfragen (vgl. BGH aaO NJW-RR 2001, 642 unter II 1 b). Die An-
tragsgegnerin räumt in ihrer Stellungnahme vom 22. Oktober 2004 ein,
daß sich die finanzielle Situation des Antragstellers gegenüber dem Zu-
stand ihrer Verfügung vom 26. April 2002 und der angefochtenen Ent-
scheidung stabilisiert zu haben scheint.
Schlick Galke Wendt
Doyé Ebner