Urteil des BGH vom 15.01.2001
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
II ZB 1/00
vom
15. Januar 2001
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ : nein
BGHR : ja
ZPO § 234 Abs. 2
Die dem Korrespondenzanwalt einer Partei unbekannte Zustellung eines Urteils, von
dessen Verkündung er weiß, wird für ihn grundsätzlich - mit der Folge des Beginns
der Wiedereinsetzungsfrist gemäß § 234 Abs. 2 ZPO - erkennbar, wenn ihm der Ko-
stenfestsetzungsbeschluß, erst recht, wenn ihm eine Vollstreckungsandrohung der
Gegenseite (ohne Sicherheitsleistung) übermittelt wird.
BGH, Beschl. v. 15. Januar 2001 - II ZB 1/00 - OLG Schleswig
LG Itzehoe
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Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 15. Januar 2001 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. h.c. Röhricht und die Richter Dr. Hesselberger,
Prof. Dr. Goette, Dr. Kurzwelly und Kraemer
beschlossen:
Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluß des 5. Zivilsenats
des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig
vom 5. Januar 2000 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewie-
sen.
Beschwerdewert: 2.826,64 DM
Gründe:
I. Die klagende GmbH gehört zu einer von dem Beklagten veräußerten
Unternehmensgruppe und hat gegen ihn mit der Klage Erstattungsansprüche
auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage geltend gemacht. Das klagabweisende
Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 16. Februar 1998 wurde der erstinstanzli-
chen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, Rechtsanwältin H. , am 20. Fe-
bruar 1998 zugestellt. Sie sandte es - gemäß ihrer eidesstattlichen Versiche-
rung - am selben Tag an den Verkehrsanwalt der Klägerin, Rechtsanwalt
M. , weiter - unter Beifügung eines Begleitschreibens mit Hinweisen auf die
Berufungsfrist sowie darauf, daß sie ohne ausdrückliche Weisung nichts ver-
anlassen werde. Die Sendung ging bei Rechtsanwalt M. - nach dessen
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eidesstattlicher Versicherung - nicht ein. Das Urteilsergebnis hatte er schon am
16. Februar 1998 bei dem Landgericht telefonisch abgefragt. Am 9. März 1998
übersandte ihm Rechtsanwältin H. den Kostenfestsetzungsantrag des Be-
klagten und am 2. April 1998 den Kostenfestsetzungsbeschluß des Landge-
richts vom 19. März 1998 mit dem Anfügen, daß die festgesetzten Kosten zur
Vermeidung einer Zwangsvollstreckung bis 15. April 1998 zu zahlen seien. Mit
Schreiben vom 6. April 1998 bat Rechtsanwalt M. die Rechtsanwältin H.
um Unterrichtung, falls der Beklagte die für eine Zwangsvollstreckung erforder-
liche Sicherheit geleistet habe. Am 8. April 1998 übermittelte ihm Rechtsanwäl-
tin H. ein Schreiben der Prozeßbevollmächtigten des Beklagten vom
7. April 1998 mit der Aufforderung, die festgesetzten Kosten zur Vermeidung
von Vollstreckungsmaßnahmen bis zum 21. April 1998 zu zahlen. Mit Telefax
vom 16. April 1998 erbat Rechtsanwalt M. von den Prozeßbevollmächtig-
ten des Beklagten den Nachweis der Sicherheitsleistung und erhielt von dort
am 17. April 1998 (Freitag) die Mitteilung, daß das zugrundeliegende Urteil
inzwischen rechtskräftig sein dürfte. Er antwortete darauf mit Schreiben vom
20. April 1998, das Urteil sei nach seiner Kenntnis bisher nicht zugestellt wor-
den. Gleichzeitig übermittelte er seine Korrespondenz mit den Prozeßbevoll-
mächtigten des Beklagten per Telefax an Rechtsanwältin H. , die ihn am
Abend des 20. April 1998 über die Urteilszustellung vom 20. Februar 1998 in-
formierte.
Das Berufungsgericht hat den am 4. Mai 1998 eingereichten Wiederein-
setzungsantrag und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Dage-
gen richtet sich die sofortige Beschwerde der Klägerin.
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II. Die gemäß §§ 238 Abs. 2 Satz 1, 519 b Abs. 2 ZPO zulässige soforti-
ge Beschwerde ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht den Wie-
dereinsetzungsantrag der Klägerin wegen Verfristung gemäß § 234
Abs. 1 ZPO für unzulässig erachtet und ihre Berufung wegen Versäumung der
Berufungsfrist des § 516 ZPO verworfen.
1. Gemäß § 234 Abs. 2 ZPO beginnt die Wiedereinsetzungsfrist mit dem
Ablauf des Tages, an dem das Hindernis für die Einhaltung der primären Frist
- hier der Berufungsfrist gemäß § 516 ZPO - behoben ist. Im vorliegenden Fall
lag nach dem Vortrag der Klägerin das Hindernis für die Einhaltung der Beru-
fungsfrist darin, daß ihre Verkehrsanwälte die Zustellungsnachricht ihrer er-
stinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten vom 20. Februar 1998 anscheinend
nicht erhielten und deshalb von der Urteilszustellung bis zum Ablauf der Beru-
fungsfrist keine Kenntnis hatten. Ob bis dahin ein der Klägerin zuzurechnendes
Verschulden der von ihr beauftragten Anwälte mitgewirkt hat (§ 233 ZPO),
kann dahinstehen. Im Sinne von § 234 Abs. 2 ZPO "behoben" ist ein Fristwah-
rungshindernis jedenfalls dann, wenn sein Fortbestehen nicht mehr als unver-
schuldet angesehen werden kann. Das ist der Fall, sobald die Partei oder ihr
Prozeßbevollmächtigter bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt die Versäu-
mung hätte erkennen können und müssen (Sen.Beschl. v. 13. Dezember 1999
- II ZR 225/98, NJW 2000, 592 m.w.N.). Das gilt auch bei einem entsprechen-
den Verschulden eines von der Partei beauftragten Verkehrsanwalts (vgl. BGH,
Beschl. v. 10. Oktober 1995 - XI ZB 17/95, VersR 1996, 606; v. 22. November
1990 - I ZB 13/90, MDR 1991, 676).
2. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, hätte Rechtsanwalt
M. bereits den ihm am 2. April 1998 übersandten Kostenfestsetzungsbe-
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schluß, spätestens aber die ihm am 9. April 1998 zugegangene Androhung der
Vollstreckung durch die Prozeßbevollmächtigten des Beklagten zum Anlaß
nehmen müssen, sich unverzüglich bei dem Landgericht oder bei Rechtsan-
wältin H. nach einer etwa erfolgten Zustellung des Urteils zu erkundigen
(vgl. Musielak/Grandel, ZPO 2. Aufl. § 234 Rdn. 4; Zöller/Greger, ZPO 22. Aufl.
§ 233 Rdn. 23, Seite 694, jeweils m.w.N.). Er wußte aufgrund seiner telefoni-
schen Anfrage bei dem Landgericht, daß das Urteil am 16. Februar verkündet,
der Verkündungstermin also nicht etwa verlegt worden war. Ihm mußte als An-
walt klar sein, daß ein verkündetes Urteil regelmäßig zunächst (durch die Ge-
schäftsstelle) zur Zustellung hinausgegeben wird, bevor die Kostenfestsetzung
(durch den Kostenbeamten) erfolgt. Es mag sein, daß gelegentlich von dieser
Regel abgewichen oder auch ein Urteil vor vollständiger Abfassung - unter
Verstoß gegen § 310 Abs. 2 ZPO - verkündet wird, wie die Klägerin vorträgt.
Darauf darf sich ein Rechtsanwalt aber nicht ohne Vergewisserung verlassen,
erst recht nicht darauf, daß ein Kostenfestsetzungsbeschluß sogar vor Abfas-
sung des Urteils erlassen sein könnte. Zumindest hätte Rechtsanwalt M. im
weiteren Verlauf aus der mit Vollstreckungsandrohung verbundenen Mahnung
der Prozeßbevollmächtigten des Beklagten vom 7. April 1998 entnehmen kön-
nen und müssen, daß diese - wie auch schon Rechtsanwältin H. in ihrem
Schreiben vom 2. April 1998 - von der Vollstreckbarkeit des Urteils ohne die in
ihm angeordnete Sicherheitsleistung (§ 708 Nr. 11 ZPO), mithin von der
Rechtskraft des Urteils ausgingen, was ihn zur unverzüglicher Nachfrage noch
am 9. April oder spätestens am 14. April 1998 (Dienstag nach Ostern) hätte
veranlassen müssen.
3. Unbehelflich ist die Rüge der Klägerin, das Berufungsgericht hätte ihr
vor Erlaß des angefochtenen Beschlusses gemäß Art. 103 GG und § 139 ZPO
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Gelegenheit geben müssen, sich zu der allein auf das Verhalten von Rechts-
anwalt M. abstellenden Beurteilungsweise zu äußern. Denn mit dieser Be-
urteilung mußte die Klägerin schon aufgrund der von ihr selbst vorgetragenen
Umstände und der Hinweise in den Schriftsätzen des Beklagten vom 30. Juli
und 16. Dezember 1998 rechnen. Eine zusätzliche Sachverhaltsaufklärung
gemäß § 139 ZPO war und ist hier - anders als im Fall erkennbar unklarer oder
ergänzungsbedürftiger Angaben (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 6. Mai 1999
- VII ZB 6/99, NJW 1999, 2284 m.w.N.) - nicht geboten. Keiner Entscheidung
bedarf hier, ob auch Rechtsanwältin H. ein (der Klägerin zuzurechnendes)
Versäumnis insofern zur Last fällt, als sie die aus dem Schreiben des Rechts-
anwalts M. vom 6. April 1998 ersichtliche Unkenntnis von der inzwischen
eingetretenen Rechtskraft des Urteils nicht unverzüglich durch entsprechenden
Hinweis behoben hat.
Röhricht
Hesselberger
Goette
Kurzwelly
Kraemer