Urteil des BGH vom 26.02.2008

BGH (stpo, hauptverhandlung, freispruch, prüfung, bewertung, wochenende, anzahl, anklage, verhandlung, zeitpunkt)

5 StR 284/08
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 17. September 2008
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. September 2008
beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-
gerichts Braunschweig vom 26. Februar 2008 gemäß § 349
Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der
Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine Jugendschutzkammer des Landgerichts Göttin-
gen zurückverwiesen.
G r ü n d e
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen
Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen unter Einbeziehung von anderwei-
tig rechtskräftig verhängten Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier
Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Sei-
ne Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Das Landgerichts hat folgende Feststellungen getroffen:
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Der Angeklagte lebte von seiner Ehefrau getrennt. Seine gemeinsa-
men Kinder besuchten ihn „im Wesentlichen“ alle zwei Wochen über das
Wochenende. Zwischen Ostern 2006 und dem 10. September 2006 miss-
brauchte der Angeklagte seine im Jahr 1994 geborene Tochter, die Neben-
klägerin, indem er ihren äußeren Genitalbereich massierte und mit einem
Finger in die Scheide eindrang. Ein solches Geschehen ereignete sich min-
destens dreimal auf dem Sofa des Wohnzimmers und mindestens dreimal im
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Bett des Angeklagten. Bei einer weiteren Tat auf dem Sofa führte der Ange-
klagte eine Flasche in die Scheide der Nebenklägerin ein. Als diese vor
Schmerzen schrie, führte er stattdessen seinen Finger ein.
Von der Anklage erhobene weitere Vorwürfe des sexuellen Miss-
brauchs konnten nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden.
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2. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht
stand (vgl. BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht
abgedruckt). Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tathergang und
der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten allein auf die
Angaben der Nebenklägerin gestützt. Den an diese Beweiskonstellation zu
stellenden Anforderungen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 14;
§ 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 8; Indizien 2) werden die Urteilsgründe
nicht gerecht.
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Die für die Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der Angaben der Ne-
benklägerin für das Landgericht maßgebliche Wertung, ihre Angaben wiesen
einen „großen Detailreichtum“ auf und seien „im wesentlichen konstant“, fin-
det in den Urteilsfeststellungen keine Stütze. Zudem setzen sich die beweis-
würdigenden Erwägungen nicht mit allen Umständen, die geeignet sind, die
Entscheidung zu beeinflussen, in einer für das Revisionsgericht nachvoll-
ziehbaren Weise auseinander.
a) Die Darstellung aller Taten erschöpft sich allein in der Schilderung
eines serienhaft wiederholten sexuellen Kerngeschehens. Der vermeintliche
Detailreichtum ist jedenfalls für die Sachverhaltsfeststellung oder die Be-
gründung der Beweiswürdigung nicht fruchtbar gemacht worden.
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So bleibt die Bewertung des Landgerichts, die Nebenklägerin habe
Details geschildert, die sie ohne reales Erleben nicht habe wissen können,
unbelegt und bietet daher kein nachvollziehbares Kriterium für die Glaubhaf-
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tigkeit der Angaben. Der allein angeführte Umstand, dass die bei den Taten
zwölf Jahre alte Nebenklägerin in der Hauptverhandlung „das Anlegen von
Strümpfen und Strumpfhalter minutiös“ beschreiben konnte, lässt kaum
Rückschlüsse auf die Erlebnisfundiertheit der hiermit nicht unmittelbar ver-
knüpften Schilderungen der Taten zu.
In diesem Zusammenhang hätte auch die Feststellung der Anzahl der
Taten sorgfältiger Erörterung bedurft. Das Landgericht gründet dies auf die
Angaben der Geschädigten, es sei „eigentlich an jedem Wochenende“ zu
einem sexuellen Übergriff gekommen, es habe aber auch Wochenenden ge-
geben, an denen nichts passiert sei. Insgesamt seien die „Übergriffe oft ge-
schehen“, „mehr als zweimal auf dem Sofa“ und „mehr als zweimal im Bett
des Angeklagten“; zudem habe es den besonderen Fall mit der Flasche ge-
geben. Eine Einbettung in zeitliche Gegebenheiten – mit Ausnahme des ers-
ten festgestellten Übergriffs sind keine Tageszeiten genannt – oder eine Ver-
knüpfung mit sonstigen individualisierenden Geschehnissen ist nicht belegt.
So erschließt sich weder, anhand welcher Umstände die Nebenklägerin die
Anzahl der Taten benennen konnte, noch, worin das Landgericht bei diesen
Schilderungen den Detailreichtum gesehen hat.
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b) Auch die Bewertung der Angaben als konstant findet in den Urteils-
feststellungen keine Stütze. Vielmehr hat das Landgericht „Abweichungen“
im Aussageverhalten der Nebenklägerin ausgemacht, die „einige Details“
vergessen, aber „einige wichtige Details“ erstmals in der Hauptverhandlung
bekundet habe. Die im Hinblick auf diese Besonderheiten erforderliche ge-
schlossene Darstellung ihrer damaligen und ihrer Angaben in der Hauptver-
handlung lässt das Landgericht dennoch vermissen und legt auch nicht alle
selbst als solche erkannten Abweichungen dar. Insbesondere hätte die ge-
wichtige Aussageerweiterung, der Angeklagte habe zunächst eine Flasche
eingeführt – wobei für dieses einzig beträchtlich markante Detail offensicht-
lich zugrunde gelegt wird, dass dies nur einen ergänzenden Handlungsteil
bei einer von der Anklage erfassten Tat darstellt –, sorgfältiger in den Blick
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genommen werden müssen. Auf dieser Grundlage lässt sich die Wertung,
die Angaben erfüllten das Glaubhaftigkeitskriterium der Konstanz, revisions-
rechtlich nicht überprüfen.
Die Feststellungen in Bezug auf die Aussageentstehung sind zudem
lückenhaft. Den Urteilsgründen lässt sich hierzu lediglich entnehmen, dass
die Nebenklägerin ihrer Mutter am 10. September 2006 erzählt habe, dass
der Angeklagte an ihre Scheide gefasst habe. Unter welchen Umständen sie
diese Vorwürfe im Sinne der festgestellten Taten erweitert hat, teilt das
Landgericht nicht mit. Auch die Gründe für ein solches divergierendes Offen-
barungsverhalten bleiben unerörtert.
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c) Eine nähere Auseinandersetzung mit den beträchtlichen psychi-
schen Auffälligkeiten der Nebenklägerin lässt das Landgericht bei der Prü-
fung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ebenfalls vermissen.
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d) Die Sicht des Landgerichts, es gebe keine Anhaltspunkte für eine
unzutreffende Belastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin, lässt
unbeachtet, dass sie Vorwürfe für einen weitergehenden Tatzeitraum gegen
ihn erhoben hat, diesbezüglich aber ein Freispruch erfolgt ist. Ob dieses
Rückschlüsse auf ein Belastungsmotiv zulässt – wozu indes die Mitteilung
der den Freispruch tragenden Gründe erforderlich gewesen wäre –, bleibt
unerörtert.
3. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Al-
ternative StPO Gebrauch.
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Sollte sich das neue Tatgericht abermals von der Schuld des Ange-
klagten überzeugen, so wird es bei der Prüfung der Voraussetzungen einer
nachträglichen Gesamtstrafenbildung Folgendes zu beachten haben: Die
den bisher einbezogenen Strafen zugrunde liegenden Taten sind sämtlich
vor dem Strafbefehl des Amtsgerichts Bad Gandersheim vom 2. März 2005
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begangen worden. Wäre dieser noch nicht vollstreckt – wobei auf die bislang
ungeklärte Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen
Verhandlung abzustellen ist (BGH NStZ-RR 2006, 232; Fischer, StGB
55. Aufl. § 55 Rdn. 37a) – so würde diese Vorverurteilung Zäsurwirkung ent-
falten. Dann käme eine Gesamtstrafenbildung mit den bisher einbezogenen
Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Duisburg vom 17. April 2007 nicht in
Betracht.
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