Urteil des BGH vom 21.11.2012

BGH: plötzlicher kindstod, wehrlosigkeit, gesamtstrafe, angriff, säugling, überforderung, bundesanwaltschaft, konzentration, überwachung, sicherheit

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 309/12
vom
21. November 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. November
2012, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Becker,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Dr. Berger,
Dr. Eschelbach
und die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Ott,
Richter am Landgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Limburg an der Lahn vom 8. März 2012 im Fall
II. 3 der Urteilsgründe sowie im Ausspruch über die Gesamt-
strafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags in drei Fällen zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Die auf die Verurteilung im
Fall II. 3 der Urteilsgründe und den Ausspruch über die Gesamtstrafe be-
schränkte, vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwalt-
schaft ist begründet.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts tötete die Angeklagte im
Oktober 2004 ihre zwei Wochen alte Tochter Katharina, indem sie ihr das
Spucktuch so weit wie möglich in den Mund stopfte und ihr gleichzeitig für ca.
15 Minuten die Nase zuhielt. Die Angeklagte handelte dabei aus einem Gefühl
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der Überforderung heraus, weil sie das schreiende Kind nicht beruhigen konn-
te. Nachdem dieses nicht mehr atmete, verständigte sie den Notarzt. Eine Ob-
duktion ergab keinen Hinweis auf einen unnatürlichen Tod, weshalb man von
einem plötzlichen Kindstod als Todesursache ausging (Fall II. 1). Im August
2006 tötete die Angeklagte in einer vergleichbaren Situation ihren eineinhalb
monatigen Sohn Daniel auf dieselbe Art und Weise. Als Todesursache wurde
wiederum plötzlicher Kindstod angenommen (Fall II. 2). Für ihren im März 2009
geborenen Sohn Dennis verschrieben die Ärzte nunmehr einen Über-
wachungsmonitor, der den Herzschlag und die Atmung des Kindes während
des Schlafs kontrollieren sollte. Sie empfahlen der Angeklagten und ihrem
Ehemann, das Kind nachts nicht alleine schlafen zu lassen. Der Ehemann der
Angeklagten schlief daher zunächst mit seinem Sohn im Schlafzimmer, wäh-
rend die Angeklagte im Wohnzimmer schlief. Nach etwa vier Wochen schlief
die Angeklagte mit dem Säugling im Schlafzimmer, während ihr Ehemann
nachts wach blieb. Er verbrachte die Nächte damit, am Bett des Kindes zu wa-
chen und spielte zwischendurch am PC. Den Überwachungsmonitor schlossen
die Eheleute lediglich rund vier Stunden am Tag an. Am 25. Juni 2009 gegen
5.00 Uhr morgens weckte der Ehemann die Angeklagte. Während diese auf-
stand, legte er sich schlafen. Um 5.53 Uhr schaltete die Angeklagte den Über-
wachungsmonitor aus. Sie fütterte ihren Sohn und legte ihn über die Schulter.
Als er zu schreien begann, geriet sie erneut in eine Situation der Überforderung
und tötete ihn auf dieselbe Art und Weise wie ihre anderen Kinder. Als der
Säugling nicht mehr atmete, weckte sie ihren Ehemann, der sofort mit Reani-
mationsmaßnahmen begann. Die Angeklagte verständigte um 6.04 Uhr den
Notarzt (Fall II. 3).
Das Landgericht hat die Angeklagte in allen drei Fällen wegen Tot-
schlags verurteilt. Es hat im Fall II. 3 der Urteilsgründe auch unter Berücksichti-
gung einer möglichen Arg- und Wehrlosigkeit des Kindesvaters als schutzberei-
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tem Dritten nicht feststellen können, dass die Angeklagte heimtückisch im Sin-
ne des § 211 Abs. 2 StGB handelte. Der Ehemann der Angeklagten sei nicht
als schutzbereiter Dritter zugegen gewesen, denn er habe bereits geschlafen.
Die Angeklagte habe diesen auch nicht zur Tatbegehung weggelockt. Ihren
Entschluss, ihren Sohn Dennis zu töten, habe die Angeklagte vielmehr erst ge-
fasst, nachdem sich ihr Ehemann bereits von sich aus schlafen gelegt hatte.
II.
Diese Erwägungen des Landgerichts sind rechtsfehlerhaft. Das Landge-
richt hat die Voraussetzungen eines "Heimtückemordes" verkannt. Dies führt
zur Aufhebung des Urteils im Fall II. 3 der Urteilsgründe. Der Wegfall der in die-
sem Fall verhängten Einzelstrafe hat die Aufhebung des Ausspruchs über die
Gesamtstrafe zur Folge.
1. Zutreffend hat das Landgericht für die Frage der Heimtücke nicht auf
eine Arg- und Wehrlosigkeit des Kleinkindes abgestellt, da dieses aufgrund
seines Alters noch zu keinerlei Argwohn oder Gegenwehr fähig war (vgl. BGH,
Urteil vom 4. November 1952 - 2 StR 261/52, BGHSt 4, 11, 13), sondern auf
die Arg- und Wehrlosigkeit eines im Hinblick auf das Kind schutzbereiten Drit-
ten
(
vgl. BGH, Urteil vom 7. Juni 1955 - 5 StR 104/55, BGHSt 8, 216, 218;
BGH, Urteil vom 2. Oktober 1962 - 1 StR 299/62, BGHSt 18, 37, 38). Die Be-
gründung, mit der das Landgericht das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit
des Ehemanns der Angeklagten als schutzbereiten Dritten abgelehnt und im
Ergebnis das Mordmerkmal der Heimtücke verneint hat, beruht dagegen auf
der Anwendung eines falschen rechtlichen Maßstabs.
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a) Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist es nicht erforderlich, dass
der potentiell schutzbereite Dritte "zugegen" ist. Schutzbereiter Dritter ist viel-
mehr jede Person, die den Schutz eines Kleinkindes vor Leib- und Lebensge-
fahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick
der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem
Täter vertraut (vgl. BGH, Urteil vom 7. Juni 1955 - 5 StR 104/55, BGHSt 8, 216,
219; BGH, Urteil vom 10. März 2006 - 2 StR 561/05, NStZ 2006, 338, 339 f.).
Der schutzbereite Dritte muss auf Grund der Umstände des Einzelfalls den
Schutz allerdings auch wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumli-
che Nähe erforderlich ist (BGH, Urteil vom 18. Oktober 2007 - 3 StR 226/07,
NStZ 2008, 93, 94).
Der Ehemann der Angeklagten war der Vater des Kindes. Die bisherigen
Feststellungen lassen auf seine Schutzbereitschaft schließen. Er lebte mit dem
Kind in einem Haushalt und wachte regelmäßig über dessen Schlaf. Offen ge-
führte Angriffe auf dessen Leben hätte er bemerkt und wäre diesen entgegen-
getreten. Aufgrund der räumlichen Nähe im Nebenzimmer und der Konzentrati-
on auf das Kind wäre er zum wirksamen Schutz des Kindes auch in der Lage
gewesen. Tatsächlich konnte er aber den tödlichen Angriff auf das Leben sei-
nes Kindes nicht abwehren, da er sich im Vertrauen auf die Angeklagte schla-
fen gelegt hatte, ohne mit einem Angriff auf das Leben des Kindes zu rechnen.
b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts scheitert ein Ausnutzen
der Arg- und Wehrlosigkeit des zur Tatzeit schlafenden Ehemanns auch nicht
daran, dass die Angeklagte diesen nicht weglockte und damit dessen Arg- und
Wehrlosigkeit nicht herbeiführte, ihn also weder von der Überwachung des Kin-
des ablenkte noch sonst gezielt in Sicherheit wog. Für das Ausnutzen der Arg-
und Wehrlosigkeit eines schutzbereiten Dritten ist es - wie bei der Heimtücke
gegenüber dem Tatopfer selbst, bei der es nicht darauf ankommt, ob der Täter
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die Arglosigkeit herbeiführte oder bestärkte (vgl. BGH, Urteil vom 10. März
2006 - 2 StR 561/05, NStZ 2006, 338, 339) - vielmehr ausreichend, dass der
Täter die von ihm erkannte Arglosigkeit des Dritten bewusst zur Tatbegehung
ausnutzt, und zwar unabhängig davon, worauf diese beruht (vgl. BGH, Be-
schluss vom 13. Oktober 2005 - 5 StR 401/05, NStZ-RR 2006, 43; BGH, Urteil
vom 18. Oktober 2007 - 3 StR 226/07, NStZ 2008, 93, 94).
2. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Anwen-
dung des zutreffenden rechtlichen Maßstabes zu einer Verurteilung wegen
Heimtückemords gekommen wäre. Auch vor dem Hintergrund der Spontanität
des Tatentschlusses sowie des psychischen Zustands der Angeklagten bei
Tatbegehung erscheint es nicht ausgeschlossen, dass insbesondere noch wei-
tere Feststellungen zur subjektiven Tatseite der Heimtücke der Angeklagten
getroffen werden können. Die Sache bedarf daher in dem aufgezeigten Umfang
neuer Verhandlung und Entscheidung.
Becker
Appl
Berger
Eschelbach
Ott
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