Urteil des BGH vom 15.08.2006

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 252/06
Verkündet
am:
26.
September
2007
Heinekamp
Justizhauptsekretär
als
Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 307 Bk; VVG §§ 16, 34a
Die Klausel in einer Invaliditäts-Zusatzversicherung "Versicherungsschutz besteht
nicht für Invalidität, die ganz oder überwiegend eingetreten ist aufgrund angeborener
oder solcher Krankheiten, die im ersten Lebensjahr in Erscheinung getreten sind", ist
unwirksam.
BGH, Urteil vom 26. September 2007 - IV ZR 252/06 - Kammergericht
LG Berlin
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden
Richter Terno, die Richter Dr. Schlichting, Seiffert, die Richterin
Dr. Kessal-Wulf und den Richter Dr. Franke auf die mündliche Verhand-
lung vom 26. September 2007
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 6. Zivil-
senats des Kammergerichts in Berlin vom 15. August
2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entschei-
dung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens,
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger verlangt von der Beklagten Versicherungsleistungen
aus einer im April 1998 für seinen im Januar 1996 geborenen Sohn ge-
nommenen Invaliditäts-Zusatzversicherung. Dem Versicherungsverhält-
nis liegen unter anderem Allgemeine Versicherungsbedingungen für die
Invaliditäts-Zusatzversorgung von Kindern zugrunde (im Folgenden:
AVB 97), die in ihrem Abschnitt C auszugsweise wie folgt lauten:
1
"1
Wer kann versichert werden?
Die Versicherung kann für Kinder vom vollendeten ersten
bis zum vollendeten 16. Lebensjahr abgeschlossen wer-
den.
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2
Was ist durch diesen Vertrag versichert?
(Versicherungsfall)
2.1
Wir bieten Versicherungsschutz für die während
der Wirksamkeit des Vertrages durch schwere Krankheit
oder Unfall unfreiwillig eingetretene Invalidität. Als solche
gilt in diesem Zusatzvertrag eine dauernde Beeinträchti-
gung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit,
die nach den Vorschriften des Schwerbehindertengeset-
zes einen Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50
erreicht.
2.2
Als Zeitpunkt für den Eintritt der Invalidität gilt der
Zugang des Antrags auf Feststellung einer Behinderung
beim Versorgungsamt.
5
Welchen Einfluss haben Versicherungsunfähigkeit
und Ausschlüsse auf den Vertrag?
5.1
Nicht versicherbar und trotz Beitragszahlung nicht
versichert sind Personen, bei denen bereits vor Vertrags-
beginn eine Invalidität bestand.
5.2
Wird eine vor Vertragsbeginn bestehende Invalidi-
tät erst während der Wirksamkeit des Vertrages durch Be-
scheid festgestellt, erlischt der Vertrag rückwirkend ab
Beginn; bereits gezahlte Beiträge werden erstattet.
Dies gilt entsprechend, wenn wir nach 6.1 und 6.2 keine
Leistung erbringen.
6
In welchen Fällen ist der Versicherungsschutz
ausgeschlossen?
Versicherungsschutz besteht nicht für Invalidität, die ganz
oder überwiegend eingetreten ist aufgrund
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6.1
angeborener oder solcher Krankheiten, die im ers-
ten Lebensjahr in Erscheinung getreten sind."
Im September 1998 wurde beim Sohn des Klägers anlässlich einer
Lippenbändchenblutung ein ererbter Blutgerinnungsdefekt (leichte Hä-
mophilie A) diagnostiziert. Das zuständige Versorgungsamt setzte mit
Bescheid vom 24. August 2000 den Grad der Behinderung auf 20 fest.
Nachdem beim Sohn des Klägers verschiedentlich Gelenkblutungen auf-
getreten waren, gingen die behandelnden Ärzte von einer mittelschweren
Form der Hämophilie A aus. Das Versorgungsamt erhöhte den Grad der
Behinderung auf entsprechenden Antrag des Klägers mit Bescheid vom
7. Mai 2004 zunächst auf 30; im Widerspruchsverfahren erging am
12. November 2004 ein Abhilfebescheid, wonach der Grad der Behinde-
rung mit Wirkung vom 1. Mai 2003 nunmehr 80 betrug.
2
Der Kläger machte daraufhin bei der Beklagten zugunsten seines
versicherten Sohnes Rentenansprüche ab Mai 2003 geltend. Die Beklag-
te lehnte Versicherungsleistungen ab, weil gemäß Abschnitt C Ziff. 6.1
AVB 97 kein Versicherungsschutz für Invalidität bestehe, welche ganz
oder überwiegend aufgrund von angeborenen Krankheiten eingetreten
sei. Nach Ziff. 5.2 AVB 97 erlösche der Vertrag deshalb rückwirkend ab
Beginn; die vom Kläger bis dahin entrichteten Beiträge zahlte die Beklag-
te zurück.
3
Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung einer lebenslangen
monatlichen Rente in Höhe von 282 € ab April 2005, der ab Juni 2003 bis
März 2005 aufgelaufenen Rückstände in Höhe von 6.468 € nebst Zinsen
und der außergerichtlichen, nicht anrechenbaren Rechtsverfolgungskos-
ten in Höhe von 480,12 € nebst Zinsen verurteilt. Es hat die Klage ledig-
lich wegen des Rentenanspruches für den Monat Mai 2003 abgewiesen,
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weil nach Ziff. 4.2 AVB 97 die Rente erst ab dem Ersten des auf den Ein-
tritt der Invalidität folgenden Monats zu zahlen sei. Die Berufung der Be-
klagten hatte in vollem Umfang Erfolg. Mit seiner Revision erstrebt der
Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der angegriffenen Entschei-
dung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
5
I. Dieses hat ausgeführt: Der Sohn des Klägers leide unstreitig an
einer angeborenen Krankheit. Daher bestehe kein Versicherungsschutz
nach Ziff. 6.1 AVB 97. Die genannte Bestimmung sei kontrollfähig, da sie
das unter Ziff. 2 AVB 97 gegebene Hauptleistungsversprechen der Be-
klagten einschränke. Sie sei jedoch weder unklar (§ 305c Abs. 2 BGB)
noch inhaltlich unangemessen (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB).
6
Die Klausel in Ziff. 6.1 AVB 97 sei eindeutig gefasst. Sie könne
insbesondere nicht dahin ausgelegt werden, Versicherungsschutz bei
angeborenen Erkrankungen sei lediglich dann ausgeschlossen, falls die-
se im ersten Lebensjahr in Erscheinung getreten seien. Der in Ziff. 6.1
AVB 97 enthaltene Relativsatz beziehe sich nur auf die zweite Alternati-
ve, die dadurch inhaltlich näher umschrieben werde. Kein Versiche-
rungsschutz bestehe danach für angeborene oder im ersten Lebensjahr
in Erscheinung getretene Krankheiten. Der durchschnittliche Versiche-
rungsnehmer werde den Begriff der "angeborenen Krankheit" als entwe-
der genetisch bedingt oder während der Geburt entstanden verstehen.
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Auch wenn es keinen abschließenden Katalog angeborener Krankheiten
gebe, seien die bei der Geburt entstandenen Krankheiten regelmäßig
von Anfang an bekannt, die genetisch bedingten zumindest in der Mehr-
zahl der Fälle aufgrund ihrer Erscheinungsform - wie etwa beim Down-
Syndrom - oder der durch Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen
gewonnenen Erkenntnisse; bei der Bluterkrankheit sei jedenfalls der
Erbgang bekannt. Da eine Versicherbarkeit nach den Zusatzbedingungen
der Beklagten erst nach vollendetem ersten Lebensjahr bestehe, werde
die angeborene Krankheit jedenfalls bei Stellung des Versicherungsan-
trages häufig bekannt sein. Vom Leistungsausschluss nicht erfasst seien
hingegen die Erkrankungen, die erst nach der Geburt entstanden seien,
auch wenn dabei genetische Dispositionen eine Rolle gespielt hätten.
Die Abgrenzung einer bloßen genetischen Disposition von einer schon
bestehenden genetisch bedingten Erkrankung möge im Einzelfall nicht
einfach sein. Hier genüge es jedoch, den Ausschlusstatbestand eng aus-
zulegen. Die Klausel sei somit hinreichend bestimmt; ein Verstoß gegen
das Transparenzgebot nicht gegeben.
Die Klausel in Ziff. 6.1 AVB 97 weiche auch nicht von den Grund-
gedanken der gesetzlichen Regelung in §§ 16 ff. VVG ab. Eine Konstel-
lation, wonach der Versicherer von der Möglichkeit einer Risikoprüfung
vor Vertragsschluss absehe, gleichwohl aber von seiner Leistungspflicht
solche Fälle ausnehmen wolle, die aufgrund nachträglicher Feststellung
auf vor Vertragsschluss gegebene Gefahrumstände zurückzuführen sei-
en, liege hier nicht vor. Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 2. März 1994
- IV ZR 109/93 - VersR 1994, 549) habe nicht entschieden, dass Leis-
tungsausschlüsse generell eine unzulässige Aushöhlung des Versiche-
rungsschutzes darstellten, wenn sie keine rein temporären nach ihrem
Entstehungszeitpunkt eingegrenzten Risiken, sondern solche beträfen,
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die bereits vor Vertragsschluss angelegt, dem Versicherungsnehmer in-
des nicht bekannt gewesen seien und daher auch bei wahrheitsgemäßen
Angaben nicht hätten berücksichtigt werden können. Der vorliegende
Ausschluss beziehe sich auf einen bestimmten Ausschnitt von Erkran-
kungen, die anlage- oder geburtsbedingt und mit einem besonders hohen
Risiko dauerhafter Invalidität verbunden seien. Ein durchschnittlicher
Versicherungsnehmer werde nicht ohne weiteres damit rechnen, dass
die Invalidität seines Kindes aufgrund einer angeborenen Erkrankung
überhaupt versicherbar sei; denn derartige Erkrankungen würden im All-
gemeinen eher als schicksalhafte Fügung denn als versicherbares Risiko
angesehen. Die Herausnahme bestimmter Erkrankungen im Wege des
objektiven Risikoausschlusses gefährde den Vertragszweck nicht, son-
dern sei im Interesse der Begrenzung der Prämien sachgerecht und nicht
von vornherein unangemessen. Das Versicherungsvertragsgesetz sehe
auch nicht vor, dass der Versicherer alle vorvertraglich bestehenden o-
der angelegten Risiken übernehmen müsse, nach denen bei Antragstel-
lung gefragt werde, die aber noch unbekannt seien und daher wahrheits-
gemäß nicht angegeben werden könnten.
II. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
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1. Zu folgen ist dem Berufungsgericht allerdings darin, dass sich
für die Interpretation der streitbefangenen Klausel in Ziff. 6.1 AVB 97
Zweifel nicht ergeben und die Regelung daher nicht unklar im Sinne von
§ 305c Abs. 2 BGB ist.
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a) Das Berufungsgericht hat richtig gesehen, dass es zunächst ei-
ner Auslegung der betreffenden Bestimmung bedarf, weil nur so Klarheit
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über ihren Inhalt gewonnen werden kann. Allgemeine Versicherungsbe-
dingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungs-
nehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und
Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss
(vgl. BGHZ 123, 83, 85). Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkei-
ten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezial-
kenntnisse und damit - auch - auf seine Interessen an. Unklar gemäß
§ 305c Abs. 2 BGB sind Klauseln, bei denen nach Ausschöpfung der in
Betracht kommenden Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel
bleibt und mindestens zwei Auslegungen rechtlich vertretbar sind (BGHZ
112, 65, 68 f.; Senatsurteil vom 9. Juli 2003 - IV ZR 74/02 - VersR 2003,
1163 unter II 2 c). Davon ist bei Ziff. 6.1 AVB 97 nicht auszugehen.
b) Vielmehr folgt aus Wortlaut und systematischem Zusammen-
hang der Klausel, dass es um angeborene Krankheiten oder um solche
Krankheiten geht, die im ersten Lebensjahr in Erscheinung getreten sind;
der betreffende Relativsatz bezieht sich allein auf die zweite Klauselal-
ternative. Es müssen sich somit nicht auch die angeborenen Krankheiten
schon im ersten Lebensjahr äußerlich manifestiert haben. Anderenfalls
- und das wird der verständige Versicherungsnehmer ohne weiteres er-
kennen - hätte die erste Alternative keine selbständige Bedeutung; sie
wäre neben dem zweiten Klauselteil überflüssig. Es hätte genügt, allge-
mein von Krankheiten zu sprechen, die - ob angeboren oder nicht - im
ersten Lebensjahr in Erscheinung getreten sind. Das Berufungsgericht
formuliert den Klauselinhalt daher zutreffend als "angeborene oder im
ersten Lebensjahr in Erscheinung getretene Krankheiten". Danach er-
weist sich die Klausel als eindeutig.
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2. Dem Berufungsgericht ist weiter darin zuzustimmen, dass die
Klausel mit ihrem durch Auslegung gewonnenen Inhalt grundsätzlich
kontrollfähig ist. Nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB ist lediglich die Leis-
tungsbeschreibung, die den unmittelbaren Gegenstand der geschuldeten
Hauptleistung festlegt und ohne deren Vorliegen mangels Bestimmtheit
oder Bestimmbarkeit des wesentlichen Vertragsinhalts ein wirksamer
Vertrag nicht mehr angenommen werden kann, einer Überprüfung entzo-
gen. Die Vorschrift hindert eine richterliche Inhaltskontrolle hingegen
nicht, wenn die betreffende Klausel nach ihrem Wortlaut und erkennba-
ren Zweck das vom Versicherer gegebene Hauptleistungsversprechen
lediglich einschränkt, verändert, ausgestaltet oder sonst modifiziert
(BGHZ 141, 137, 141; 142, 103, 109 f.). So liegt es hier.
Das
Hauptleistungsversprechen der Beklagten wird in Ziff. 2.1
Satz 1 AVB 97 näher umschrieben. Die Beklagte bietet Versicherungs-
schutz für während der Wirksamkeit des Vertrages durch schwere
Krankheit oder Unfall unfreiwillig eingetretene Invalidität. Dieses Ver-
sprechen wird durch die streitbefangene Klausel teilweise zurückge-
nommen, indem aus dem Kreis der versicherten, auf schwerer Krankheit
oder Unfall beruhenden dauernden Beeinträchtigung der körperlichen
oder geistigen Leistungsfähigkeit solche Versicherungsfälle ausgenom-
men werden, bei denen sich die während der Wirksamkeit des Vertrages
eingetretene Invalidität auf angeborene oder solche Krankheiten zurück-
führen lässt, die im ersten Lebensjahr in Erscheinung getreten sind.
14
3. Eine inhaltliche Kontrolle von Ziff. 6.1 AVB 97 ergibt, dass die
Klausel den Versicherungsnehmer entgegen den Geboten von Treu und
Glauben unangemessen benachteiligt und daher unwirksam ist.
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a) Die Klausel entspricht bereits nicht den Erfordernissen, die sich
aus dem Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) ergeben. Der Ver-
wender Allgemeiner Versicherungsbedingungen ist gehalten, Rechte und
Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar dar-
zustellen. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass eine Klausel in ihrer
Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständ-
lich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben auch, dass sie die wirt-
schaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lässt, wie dies
nach den Umständen gefordert werden kann. Ist der Verwender diesem
Gebot nicht gefolgt, liegt schon darin eine unangemessene Benachteili-
gung des anderen Vertragspartners (BGHZ 136, 394, 401 f.; 141, 137,
143; 147, 354, 361 f.).
(1) Der Versicherungsnehmer wird anhand einer Gesamtschau der
Versicherungsbedingungen zu dem Schluss kommen, dass darin unter-
schieden wird zwischen dem Invaliditätseintritt, der Invaliditätsfeststel-
lung und dem Nachweis bzw. der Geltendmachung der Invalidität. Als In-
validität gilt nach Ziff. 2.1 AVB 97 eine dauernde Beeinträchtigung der
körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit, die nach den Vorschriften
des Schwerbehindertengesetzes einen Grad der Behinderung von we-
nigstens 50 erreicht; für den Zeitpunkt ihres Eintritts ist nach Ziff. 2.2
AVB 97 auf den Zugang des Antrags auf Feststellung einer Behinderung
beim Versorgungsamt abzustellen. Die Invalidität wird ferner durch Be-
scheid des Versorgungsamtes festgestellt und durch dessen Vorlage
nachgewiesen und geltend gemacht (Ziff. 3.1 AVB 97). Diese Vorausset-
zungen sind hier gegeben.
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(2) Der Versicherungsnehmer erkennt ebenso, dass Versiche-
rungsschutz allein dann besteht, wenn die Invalidität (erst) während der
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Wirksamkeit des Vertrages eingetreten ist. Das ergibt sich für ihn sowohl
aus Ziff. 2.1 AVB 97 ("für die während der Wirksamkeit des Vertrages
durch schwere Krankheit oder Unfall unfreiwillig eingetretene Invalidität")
als auch aus Ziff. 5.1 und 5.2 AVB 97. Den Bestimmungen unter Ziff. 1
AVB 97 ist überdies zu entnehmen, dass die Versicherung überhaupt nur
für Kinder vom vollendeten ersten Lebensjahr an abgeschlossen werden
kann. Für eine Invalidität, die bereits im ersten Lebensjahr eingetreten
ist, kann von vornherein kein Versicherungsschutz begründet werden,
weil bei Abschluss des Versicherungsvertrages kein versicherbares Inte-
resse besteht. Wenn die versicherte Person bereits invalide ist, kann sie
für die Zukunft gegen dieses Risiko nicht (mehr) versichert werden (vgl.
Senatsurteil vom 25. Januar 1989 - IVa ZR 189/87 - VersR 1989, 351 un-
ter 1).
(3) Tritt aber die Invalidität während bestehenden Vertrages ein, so
ist grundsätzlich Versicherungsschutz gegeben. Die Regelung unter
Ziff. 6.1 AVB 97 enthält daher einen Ausschlusstatbestand, wenn es dort
heißt, Versicherungsschutz bestehe nicht für Invalidität, die ganz oder
überwiegend eingetreten sei aufgrund angeborener oder solcher Krank-
heiten, die im ersten Lebensjahr in Erscheinung getreten seien. Es gel-
ten dann nach Ziff. 5.2 Satz 2 AVB 97 dieselben Rechtsfolgen, wie sie in
Ziff. 5.2 Satz 1 AVB 97 formuliert werden. Der Vertrag soll rückwirkend
ab Beginn erlöschen; bereits gezahlte Beiträge werden erstattet.
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(4) Dadurch wird dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer
zwar hinreichend transparent, dass der Versicherer unter anderem immer
dann keine Leistungen erbringen will, wenn die während bestehenden
Vertrages eingetretene Invalidität auf einer angeborenen Krankheit be-
ruht, wie dies nach den Feststellungen des Berufungsgerichts beim Sohn
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des Klägers als Folge einer ererbten Blutgerinnungsstörung der Fall ist.
Dem Versicherungsnehmer erschließt sich aber nicht hinreichend, wann
von einer "angeborenen Krankheit" auszugehen ist, weil ihm dieser Be-
griff nicht näher erläutert wird. Die Klausel veranschaulicht ihm nicht, un-
ter welchen Voraussetzungen von einer "angeborenen Krankheit" auszu-
gehen ist. Der bloße Hinweis in den Informationen und Erklärungen zum
Versicherungsantrag auf angeborene und geburtsbedingte Krankheiten
"wie Mongolismus etc.", reicht dafür nicht aus. Es ist für den Versiche-
rungsnehmer - selbst bei enger Auslegung, wie sie für Ausschlussklau-
seln geboten ist (BGHZ 88, 228, 231) - daher nicht ohne weiteres durch-
schaubar, wann er Versicherungsschutz erwarten kann und wann dieser
ausgeschlossen sein soll.
(5) Ohne Zweifel erfasst die Klausel solche Beeinträchtigungen der
körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit, die bei Abschluss des
Geburtsvorgangs äußerlich erkennbar werden und sich als "angeborene
Krankheiten" ohne weiteres feststellen lassen. Darin erschöpft sich der
Anwendungsbereich der Klausel jedoch ersichtlich nicht, denn solche
Beeinträchtigungen wären zugleich "im ersten Lebensjahr in Erscheinung
getreten". Dem Versicherungsnehmer wird dennoch nicht vor Augen ge-
führt, was der Versicherer unter dem unscharfen Begriff der "angebore-
nen Krankheiten" sonst verstehen möchte, ob also insbesondere auch
solche Erkrankungen unter den Ausschlusstatbestand fallen sollen, die
auf einer bestimmten ("angeborenen") genetischen Disposition beruhen.
Dieser Umstand gewinnt vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass im
Zuge des medizinischen Fortschritts immer mehr - bis dahin nicht als
"angeboren" erkannte und eingeordnete - Erkrankungen auf eine geneti-
sche Veranlagung zurückzuführen sind, die bereits bei Geburt bestanden
hat, auch wenn die darauf beruhende Erkrankung erst zu einem wesent-
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lich späteren Zeitpunkt in Erscheinung tritt. Es bleibt allein dem Versi-
cherungsnehmer überlassen, den Begriff der "angeborenen Krankheiten"
zu interpretieren und die wirtschaftlichen Risiken abzuschätzen, die für
ihn mit der Klausel in Ziff. 6.1 AVB 97 verbunden sein können, obwohl es
Aufgabe des Versicherers wäre, ihm diese mit der gebotenen Transpa-
renz zu verdeutlichen.
b) Zudem ist die von der Beklagten verwendete Klausel inhaltlich
unangemessen, weil sie mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzli-
chen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist, und
auch wesentliche Rechte und Pflichten, die sich aus der Natur des Ver-
trages ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks
gefährdet ist (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB).
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(1) Die Klausel unterliegt zum einen durchgreifenden Bedenken,
soweit ausnahmslos alle angeborenen Krankheiten vom Leistungsaus-
schluss erfasst werden; der Versicherer möchte auf diese Weise sämtli-
che vor Beginn des Vertrages durch "angeborene Krankheiten" angeleg-
te Versicherungsfälle von seiner Leistungspflicht ausnehmen.
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Durch einen derart weit reichenden Leistungsausschluss werden
Sinn und Zweck des hier genommenen Versicherungsvertrages verfehlt.
Die vom Kläger für seinen Sohn abgeschlossene Zusatzversicherung ist
darauf gerichtet, die versicherte Person vom vollendeten ersten bis zum
vollendeten 16. Lebensjahr gegen das Risiko einer Invalidität "durch
schwere Krankheit oder Unfall" abzusichern. Gerade in dieser Lebens-
spanne tritt krankheitsbedingte Invalidität typischerweise nicht dadurch
ein, dass sich eine "schwere Krankheit" neu entwickelt, sondern sie be-
ruht häufig darauf, dass sich eine "angeborene Krankheit" in einer dau-
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ernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähig-
keit manifestiert. In einem Leistungsausschluss, der solche "angebore-
nen Krankheiten" ohne jede Eingrenzung umfasst, liegt daher eine die
Erreichung des Vertragszweckes gefährdende Einschränkung der Haupt-
leistungspflicht des Versicherers und des damit korrespondierenden An-
spruchs auf Versicherungsschutz.
(2) Nach Ziff. 6.1 AVB 97 sind zum anderen neben den angebore-
nen auch alle sonstigen Krankheiten ausgenommen, die im ersten Le-
bensjahr der versicherten Person "in Erscheinung getreten" sind. Diese
Formulierung schließt jedenfalls ein Verständnis nicht aus, dass nicht nur
dem späteren Versicherungsnehmer bei Antragstellung bereits bekannte
und bewusste Erkrankungen gemeint sind, sondern der Leistungsaus-
schluss auch zum Tragen kommen soll, wenn die Erkrankung bei ledig-
lich objektiver Betrachtung hervorgetreten ist, unabhängig davon, ob der
Antragsteller diese erkennt oder erkennen konnte. Dafür spricht gerade
die Wortwahl "in Erscheinung getreten", die weiter reicht als ein Abstel-
len auf solche Erkrankungen, von denen der Versicherungsnehmer
Kenntnis hat. Die Eintrittspflicht des Versicherers hängt damit auch da-
von ab, ob bei Betrachtung ex post davon auszugehen ist, dass die spä-
ter zur Invalidität führende Erkrankung - wenn nicht vom Versicherungs-
nehmer selbst, so doch von vertragsfremden Personen - anhand be-
stimmter Anzeichen hätte festgestellt und als solche eingeordnet werden
können.
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Mit diesem Inhalt der Klausel weicht die Beklagte bei Erkrankun-
gen, die im ersten Lebensjahr der versicherten Person in Erscheinung
getreten sind, zu Ungunsten des Versicherungsnehmers von den Grund-
gedanken der §§ 16 ff. VVG ab (§ 34a VVG).
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aa) Nach den Vorschriften der §§ 16 ff. VVG hat der Versiche-
rungsnehmer bei der Schließung des Vertrages alle ihm bekannten Um-
stände, die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind, dem Versiche-
rer anzuzeigen; aufgrund der angezeigten Umstände hat der Versicherer
sodann eine Risikoprüfung vorzunehmen und zu entscheiden, ob er den
Antrag auf Versicherungsschutz annehmen möchte. Werden hinsichtlich
dem Versicherungsnehmer bekannter Umstände unrichtige oder unvoll-
ständige Angaben gemacht, sehen die §§ 16 ff. VVG dafür entsprechen-
de Sanktionen vor.
Diese Regelungen sollen zwischen den Parteien des Versiche-
rungsvertrages eine Ausgewogenheit der für beide Seiten wichtigen Ab-
schätzung der jeweiligen Gefahrenlage vor Vertragsschluss gewährleis-
ten. Der Versicherungsnehmer soll gegen den Willen des Versicherers
keinen Wissensvorsprung bezüglich derjenigen Umstände behalten dür-
fen, die für die Beurteilung von Bedeutung sind, ob sich im Laufe der
Versicherung voraussichtlich ein Versicherungsfall ereignen wird oder
nicht. Dementsprechend bezieht sich die gesetzliche Anzeigeobliegen-
heit, bei deren Verletzung der Versicherer durch Rücktritt leistungsfrei
werden kann, auch nur auf Gefahrumstände, die dem Versicherungs-
nehmer bekannt sind, nicht dagegen auf ihm unbekannt gebliebene. Ob
der Versicherer von der ihm gesetzlich eingeräumten Risikoprüfungs-
möglichkeit mit vorangehenden Fragen zu Gefahrumständen Gebrauch
macht und damit gegebenenfalls im Versicherungsfall Leistungsfreiheit
erlangen kann, steht allerdings grundsätzlich in seinem Belieben. Da
sich Leistungsfreiheit aber nur aus einer (schuldhaft begangenen) Ver-
letzung der Anzeigeobliegenheit herleiten lässt, kann er, wenn er die
Möglichkeit zur Risikoprüfung genutzt hat, nur dann zurücktreten, wenn
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ein dem Versicherungsnehmer bekannter Gefahrumstand ihm - gefragt
oder ungefragt - nicht mitgeteilt worden ist (vgl. Senatsurteile vom
2. März 1994 - IV ZR 109/93 - VersR 1994, 549 unter 2 b; vom
7. Februar 1996 - IV ZR 155/95 - VersR 1996, 486 unter 3).
bb) Der Versicherer entzieht sich dieser vom Gesetz vorgesehenen
Risikoverteilung dadurch, dass er formularmäßig Leistungsausschlüsse
für Vorerkrankungen vorsieht, selbst wenn diese dem Versicherungs-
nehmer (schuldlos) unbekannt geblieben sind. Die Vereinbarung eines
solchen Leistungsausschlusses, der - wie hier - an die Stelle einer auf
den Einzelfall bezogenen Risikoprüfung treten soll, wie sie vom Gesetz
gefordert ist, läuft der dem Schutz des Versicherungsnehmers dienenden
Bestimmung des § 34a VVG und der im Rahmen der §§ 16 ff. VVG dem
Versicherer obliegenden Gefahrtragung zuwider. Wenn die Leistungs-
pflicht des Versicherers nicht mehr davon abhängen soll, dass er nach
eigenverantwortlicher Abschätzung der ihm vom Versicherungsnehmer
offenbarten Gefahrenlage die Absicherung gegen die wirtschaftlichen
Folgen eines von beiden Parteien nur für möglich gehaltenen zukünftigen
Ereignisses (hier: Eintritt der Invalidität) übernommen hat, wäre zugleich
seine Hauptleistungspflicht unzulässig ausgehöhlt (vgl. Senatsurteil vom
2. März 1994 aaO unter 2 c); auch deshalb ist die Klausel unwirksam.
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4. Soweit sich die Beklagte darauf beruft, ihr Schreiben vom
5. Januar 2005 sei - ebenso wie ihre daran anschließenden Schreiben -
zumindest konkludent als Erklärung des Rücktritts im Sinne des § 20
VVG zu verstehen, kann dem nicht gefolgt werden. In diesen Schreiben
lehnt die Beklagte Versicherungsschutz unter Hinweis auf Ziff. 6.1 AVB
97 ab, nicht aber bezieht sie sich darauf, der Kläger habe die von ihr ge-
stellten Gesundheitsfragen unrichtig beantwortet, insbesondere eine ihm
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bekannte Eigenschaft der Kindesmutter als Konduktorin der Bluterkrank-
heit nicht offenbart.
III. Das Berufungsgericht wird daher zu klären haben, ob - wie von
der Beklagten geltend gemacht - Invalidität bereits bei Abschluss des
Vertrages vorlag.
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Terno Dr. Schlichting Seiffert
Dr. Kessal-Wulf
RiBGH Dr. Franke ist
durch Urlaub an der
Unterschrift verhindert.
Terno
Vorinstanzen:
LG Berlin, Entscheidung vom 15.11.2005 - 7 O 121/05 -
KG Berlin, Entscheidung vom 15.08.2006 - 6 U 175/05 -