Urteil des BGH vom 19.04.2006

BGH (unter drogeneinfluss, persönlichkeitsstörung, schuldfähigkeit, stgb, aufhebung, unterbringung, nachteil, strafkammer, strafzumessung, beurteilung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 106/06
vom
19. April 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 19. April 2006 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Saarbrücken vom 8. September 2005 mit
den zugehörigen Feststellungen, mit Ausnahme derjeni-
gen zu den äußeren Tatgeschehen, aufgehoben
a) in den Fällen II. 3 bis 6 der Urteilsgründe (Taten
zum Nachteil der Nebenklägerin Anke B. ),
b)
im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und
c)
soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer
Entziehungsanstalt angeordnet worden ist.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
3.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im
Verkehr (Fall II. 1), wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Bedrohung in
zwei Fällen (Fälle II. 2 und 6), wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzli-
cher Körperverletzung (Fall II. 3), wegen vorsätzlicher Körperverletzung (Fall
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II. 4) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung
(Fall II. 5) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten
verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Au-
ßerdem hat es als weitere Rechtsfolge der Verurteilung im Fall II. 1 der Urteils-
gründe eine Maßregelanordnung nach §§ 69, 69 a StGB getroffen. Mit seiner
auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision wen-
det sich der Angeklagte gegen dieses Urteil, soweit er in den Fällen II. 3 bis 6
(Taten zum Nachteil der Nebenklägerin Anke B. ) verurteilt worden ist.
Das insoweit wirksam beschränkte Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus
der Beschlussformel ersichtlichen weitgehenden Erfolg; im Übrigen ist es unbe-
gründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Urteil kann, soweit es infolge der Rechtsmittelbeschränkung der
revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt, nicht bestehen bleiben, weil die
Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten durch das Landgericht durch-
greifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
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Die Strafkammer ist dem psychiatrischen Sachverständigen gefolgt, der
den Angeklagten als dissoziale Persönlichkeit mit emotional instabilen Persön-
lichkeitsanteilen beschrieben hat, bei dem zudem eine Polytoxikomanie vorlie-
ge. Der langjährige, wahllose Konsum psychotroper Substanzen habe beim
Angeklagten zu einer Destabilisierung seiner Persönlichkeit bei gleichzeitiger
Zunahme aggressiven Verhaltens unter Drogeneinfluss geführt. Bei der Schuld-
fähigkeitsbeurteilung hat das Landgericht in Übereinstimmung mit dem Sach-
verständigen nur auf das Maß der akuten Betäubungsmittelbeeinflussung des
Angeklagten bei Begehung der Taten abgestellt und in den Fällen II. 5 und 6
der Urteilsgründe die Voraussetzungen erheblich verminderter Steuerungsfä-
higkeit gemäß § 21 StGB im Sinne einer krankhaften seelischen Störung bejaht,
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in den Fällen II. 3 und 4 das Vorliegen dieser Voraussetzungen hingegen sicher
ausgeschlossen.
Ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten durch das Zusammenwirken der
vom Sachverständigen diagnostizierten Persönlichkeitsstörung und des bei al-
len Taten festgestellten Drogeneinflusses vollständig ausgeschlossen war, hat
das Landgericht nicht erörtert. Dessen hätte es aber schon deshalb bedurft,
weil insbesondere in den Fällen II. 5 und 6 der Grad der Drogenbeeinflussung
des Angeklagten bereits für sich genommen schon so erheblich war, dass die
Annahme von Schuldunfähigkeit jedenfalls unter Berücksichtigung der Persön-
lichkeitsstörung des Angeklagten nicht von vornherein ausschied.
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Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte im Fall II. 5 vor Tatbege-
hung nicht nur Amphetamin, Diazepam und Haschisch konsumiert, sondern,
nachdem der Versuch, weitere Betäubungsmittel zu besorgen, fehlgeschlagen
war, Blüten eines Engelstrompetenbaums gepflückt und konsumiert. Der Ge-
nuss dieser Pflanzen hatte bei ihm zu Wahnvorstellungen geführt. Die der Ver-
urteilung im Fall II. 6 zu Grunde liegende Tat beging er, nachdem er einen
durch den Konsum von Cannabis, Amphetamin und Ecstasy hervorgerufenen
Rauschzustand über drei Tage hinweg durch die Einnahme weiterer Drogen
aufrechterhalten und diese Zeit - seinen unwiderlegten Angaben gegenüber
dem psychiatrischen Sachverständigen zufolge - ohne Schlaf verbracht hatte.
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Das Landgericht hat weder die angesichts dieser Umstände gebotene
Gesamtbetrachtung zu der Frage, ob die massive Drogenbeeinflussung im Zu-
sammenwirken mit der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten zu einem voll-
ständigen Ausschluss seiner Schuldfähigkeit geführt haben konnte (vgl. BGHR
StGB § 20 Ursachen, mehrere 2 und § 21 Ursachen, mehrere 13), vorgenom-
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men, noch hat es sich in nachvollziehbarer Weise mit dem Schweregrad der
Persönlichkeitsstörung auseinandergesetzt. So ist etwa die Annahme, der An-
geklagte weise im kognitiven Bereich und in seinem Wesen lediglich "diskrete"
Veränderungen auf, nicht mit Tatsachen belegt. Sie ist zudem nicht in Einklang
zu bringen mit der Vielzahl der festgestellten autoaggressiven Verhaltensweisen
des Angeklagten im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit bzw. im Vor-
feld der Begehung der Taten. In Anbetracht der Besonderheiten und der Erheb-
lichkeit dieser Auffälligkeiten genügt der bloße Hinweis des Landgerichts, beim
Angeklagten zeichne sich eine "erhöhte Tendenz" zu autoaggressivem Verhal-
ten in Konfliktsituationen bzw. zur Spannungsabfuhr ab, hier nicht aus, um
Rückschlüsse darauf zu ziehen, inwieweit seine Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit
auch durch die Persönlichkeitsstörung beeinflusst war. Zur Beurteilung der
Schuldfähigkeit hätte es vielmehr einer umfassenden, vertieften Auseinander-
setzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten unter besonderer Berücksichti-
gung der bei ihm auch außerhalb seines strafbaren Handelns zu Tage getrete-
nen Auffälligkeiten bedurft.
2. Der Senat hebt das Urteil, soweit es angefochten ist, mit Ausnahme
der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen in
vollem Umfang auf, um dem neuen Tatrichter die Möglichkeit zu geben, die
Schuldfähigkeit des Angeklagten umfassend neu zu prüfen. Zwar liegt in den
Fällen II. 3 und 4 eine Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nach
den bisher getroffenen Feststellungen zur akuten Betäubungsmittelbeeinflus-
sung im Tatzeitpunkt nicht in gleicher Weise nahe wie in den Fällen II. 5 und 6.
Dennoch ist auch insoweit eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten im Hinblick
auf die bislang unzureichende Erörterung des Schweregrads der Persönlich-
keitsstörung nicht gänzlich auszuschließen.
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Die Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen II. 3 bis 6 zieht die Auf-
hebung der Gesamtfreiheitsstrafe und des Ausspruchs über die Anordnung der
Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach sich.
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3. Der Senat weist darauf hin, dass auch die Erwägungen zur Strafzu-
messung nicht frei von rechtlichen Bedenken sind. Das Landgericht hat im
Rahmen der Strafzumessung wiederholt darauf abgestellt, die fortschreitende
Dissozialisierung und die bislang - trotz Kenntnis seiner Neigung zu aggressi-
ven Handlungen unter Drogeneinfluss - nicht bzw. erfolglos therapierte Drogen-
abhängigkeit habe den Angeklagten in eine Lage gebracht, Straftaten mit stei-
gender Intensität zu begehen. Dies lässt besorgen, dass die Strafkammer die
Art der Lebensführung des Angeklagten rechtsfehlerhaft zu seinem Nachteil
berücksichtigt hat. Diese darf ihm strafschärfend nur dann angelastet werden,
soweit sie mit der Tat selbst in einem Zusammenhang steht, der Rückschlüsse
auf eine höhere Tatschuld zulässt (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Vorleben 3).
Dies könnte zumindest dann zweifelhaft sein, wenn der Angeklagte auf Grund
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seiner Drogenabhängigkeit von einem derart starken Drang zur Aufnahme von
Betäubungsmitteln beherrscht war, dass seine Fähigkeit, diesem Drang zu wi-
derstehen, eingeschränkt war (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung
33 und 38).
Ri'inBGH Solin-Stojanović
ist infolge urlaubsbedingter
Abwesenheit an der
Unterschrift gehindert.
Tepperwien Maatz Tepperwien
Ernemann Sost-Scheible