Urteil des BGH vom 13.03.2017
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 210/10
vom
28. Oktober 2010
in der Freiheitsentziehungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
FamFG § 23 Abs. 1 Satz 4, § 417 Abs. 1
Ein nicht unterschriebener verfahrensleitender Antrag (hier: Antrag auf Freiheitsent-
ziehung) ist wirksam, wenn sich aus anderen Umständen eine der Unterschrift ver-
gleichbare Gewähr für den Urheber des Antrags und dessen Willen ergibt, den An-
trag in den Rechtsverkehr zu bringen.
AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1; AsylVfG § 14 Abs. 3
Wird ein aus der Haft heraus gestellter Asylantrag nicht binnen vier Wochen nach
Eingang des Antrags bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unbeacht-
lich oder offensichtlich unbegründet abgelehnt, kommt eine Anordnung oder Fort-
dauer der Abschiebungshaft auf der Grundlage des Haftgrundes der unerlaubten Ein-
reise (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) nicht in Betracht.
BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10 - LG Bochum
AG
Bochum
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Oktober 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, die Richter
Dr. Czub und Dr. Roth und die Richterin Dr. Brückner
beschlossen:
Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Ver-
fahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Rinkler beigeordnet.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
der 7. Zivilkammer des Landgerichts Bochum vom 14. Juli 2010
aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
Gründe:
I.
Der Betroffene, ein serbischer Staatsangehöriger, der zu einem nicht nä-
her festgestellten Zeitpunkt in das Bundesgebiet einreiste, konnte bei seiner
Festnahme im Juli 2008 weder einen Reisepass noch einen Aufenthaltstitel
vorweisen. Er befand sich anschließend in Untersuchungshaft und wurde An-
fang 2009 wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei
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Jahren und drei Monaten verurteilt. Während des Ermittlungsverfahrens hatte
die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zu einer Abschiebung verweigert. Nach
Rechtskraft des Strafurteils teilte der Anwalt des Betroffenen mit, dass ein Vor-
gehen nach § 456a StPO nicht gewünscht werde. Die Strafhaft sollte bis zum
1. Oktober 2010 andauern. Die Beteiligte zu 2 bat die Justizvollzugsanstalt, jede
Änderung der Inhaftierung des Betroffenen mitzuteilen.
Unter dem 9. Oktober 2009 stellte der Betroffene aus der Strafhaft her-
aus einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nach-
folgend Bundesamt) durch Bescheid vom 16. November 2009 als offensichtlich
unbegründet ablehnte. Durch eine seit Mai 2010 bestandskräftige Verfügung
wurde der Betroffene aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und unter Andro-
hung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert.
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Nachdem die Beteiligte zu 2 am 7. Juni 2010 fernmündlich über die vor-
zeitige Haftentlassung des Betroffenen informiert worden war, ordnete das
Amtsgericht auf ihren Antrag nach persönlicher Anhörung des Betroffenen, zu
der ein Dolmetscher nicht hinzugezogen war, am selben Tag die Haft zur Siche-
rung der Abschiebung für die Dauer von drei Monaten an. Am 18. Juni 2010
suchte ein Mitarbeiter der Beteiligten zu 2 den Betroffenen wegen der zur Be-
schaffung der Ersatzpapiere erforderlichen Antragstellung auf. Dieser verwei-
gerte die Mitwirkung. Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde
des Betroffenen hat das Landgericht ihn unter Beteiligung eines Dolmetschers
persönlich angehört; das Rechtsmittel ist ohne Erfolg geblieben.
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Mit der Rechtsbeschwerde erstrebt der sich aufgrund eines Verlänge-
rungsbeschlusses noch in Abschiebungshaft befindliche Betroffene die Feststel-
lung, dass Haftanordnung und Beschwerdeentscheidung ihn in seinen Rechten
verletzt haben.
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II.
Das Beschwerdegericht hält den Betroffenen aufgrund unerlaubter Ein-
reise für vollziehbar ausreisepflichtig und den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 AufenthG für gegeben, da nicht festgestellt werden könne, dass er mit
gültigem Visum eingereist sei. Sein Asylantrag habe der Anordnung von Siche-
rungshaft nicht entgegengestanden. Dass er sich der Abschiebung nicht entzie-
hen werde, habe der Betroffene nicht glaubhaft gemacht. Nach Mitteilung der
Zentralen Ausländerbehörde sei davon auszugehen, dass Passersatzpapiere
so rechtzeitig beschafft werden könnten, dass die Abschiebung innerhalb von
drei Monaten möglich sei. Auf die Rechtmäßigkeit der Sicherungshaft habe es
keinen Einfluss, sollte der Betroffene, wie er behauptet, bei dem Amtsgericht
nicht über seine Rechte nach dem Wiener Übereinkommen über konsularische
Beziehungen (nachfolgend: WÜK) belehrt worden sein. Denn eine Verletzung
dieser Vorschrift berühre den sachlichen Inhalt der Entscheidung über die Frei-
heitsentziehung nicht. Im Übrigen sei eine Belehrung nach Aktenlage nicht un-
terblieben und die Glaubwürdigkeit der Behauptung des Betroffenen zumindest
zweifelhaft. Unerheblich sei, dass das Amtsgericht keinen Dolmetscher hinzu-
gezogen habe, denn die Beteiligte zu 2 habe im Beschwerdeverfahren vorge-
tragen, dass der Betroffene auf Nachfrage des Amtsgerichts erklärt habe, kei-
nen Dolmetscher zu wollen; dem sei der Betroffene im Beschwerdeverfahren
nicht entgegengetreten. Das Abschiebungsverfahren sei dem Beschleuni-
gungsgebot gemäß betrieben worden, insbesondere habe die Beteiligte zu 2
versucht, den Betroffenen aus der Untersuchungshaft heraus abzuschieben.
Zudem sei die Ausweisungsverfügung erst am 18. Mai 2010 bestandskräftig
geworden. Bis zu der Mitteilung vom 7. Juni 2010 habe die Beteiligte zu 2 nicht
damit rechnen müssen, dass der Betroffene vor dem 1. Oktober 2010 aus der
Strafhaft entlassen werde; sie habe die Beschaffung von Passersatzpapieren,
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die eine zeitlich eng begrenzte Gültigkeit besäßen, deshalb an diesem Datum
ausrichten dürfen.
III.
Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthafte und auch im
Übrigen zulässige (§ 71 Abs. 1 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet.
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1. a) Ohne Erfolg bleibt allerdings die Rüge, die Abschiebungshaft des
Betroffenen sei wegen der Verletzung von Art. 36 Abs. 1 Buchst. b WÜK rechts-
widrig. Zwar begründet die unterbliebene Belehrung eines Ausländers über sein
Recht, die Unterrichtung seiner konsularischen Vertretung zu verlangen, anders
als das Beschwerdegericht meint, einen Verfahrensmangel, der die Rechtswid-
rigkeit der Freiheitsentziehung zur Folge hat (Senat, Beschluss vom 6. Mai
2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212); denn die Belehrung ist unerlässlicher
Bestandteil eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens (vgl. BVerfG, NJW 2007,
499, 500 f.; Senat, aaO). Der Betroffene macht mit der Rechtsbeschwerde aber
nicht geltend, dass es an einer Belehrung überhaupt gefehlt habe; er rügt ledig-
lich, dass diese nicht im Rahmen der Anhörung vor Erlass der Haftanordnung,
sondern "möglicherweise" im Anschluss an die Haftanordnung und damit ver-
spätet erfolgt sei. Das ist indessen unzutreffend; eine Belehrung des Betroffe-
nen anlässlich der Haftaufnahme, wie sie sich hier in dem Aufnahmeersuchen
für den Vollzug vom 7. Juni 2010 (Abschnitt III Nr. 2) dokumentiert ist, reicht aus
(Senat, Beschluss vom 15. Juli 2010 - V ZB 10/10, juris Rn. 9).
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b) Unerheblich ist auch der Einwand, es sei möglich, dass der Betroffene
die ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers erfolgte Belehrung über seine
Rechte nicht verstanden habe, weshalb das Beschwerdegericht im Zuge der
nach § 26 FamFG gebotenen Sachaufklärung hierzu nähere Feststellungen
hätte treffen müssen. Da der Betroffene dem Vortrag der Beteiligten zu 2 im
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Beschwerdeverfahren, er habe auf Nachfrage des Amtsgerichts erklärt, keinen
Dolmetscher zu wollen, nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht
entgegengetreten ist, bestand für dieses kein Anlass zu weiterer Sachaufklä-
rung.
2. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist das Beschwerde-
gericht im Ergebnis auch zutreffend davon ausgegangen, dass der dem Amts-
gericht vorgelegte Haftantrag - obwohl nicht unterschrieben - rechtswirksam
war. Ob der Haftanordnung ein vollständiger Antrag der zuständigen Behörde
zugrunde lag, ist allerdings als Verfahrensvoraussetzung in jeder Lage des Ver-
fahrens zu prüfen (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax
2010, 210, 211).
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a) Dass der sich bei den Akten befindliche Haftantrag der Beteiligten zu 2
keine Unterschrift trägt, steht seiner Wirksamkeit nicht entgegen.
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Nach der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 4 FamFG, die bestimmt, dass
ein verfahrenseinleitender Antrag von dem Antragsteller oder dessen Bevoll-
mächtigten unterschrieben sein soll, ist eine Unterschrift im Regelfall erforder-
lich, andererseits nicht in jedem Fall unverzichtbar. Zwar wollte der Gesetzge-
ber in Abkehr von der bestehenden Regelung, nach der das Fehlen der Unter-
schrift nicht die Unwirksamkeit des Antrags zur Folge hatte (vgl. Jansen/Baro-
nin von König, FGG, 3. Aufl., § 11 Rn. 28, 29), aus Gründen der Rechtsklarheit
bestimmen, dass ein verfahrenseinleitender Antrag zu unterschreiben ist (Ent-
wurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den
Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FGG-Reformgesetz -,
BT-Drucks. 16/6308, S. 186). Gleichzeitig hat er unter Hinweis auf § 253 Abs. 4
i.V.m. § 130 Nr. 6 ZPO aber auf den Standard anderer Verfahrensordnungen
verwiesen (Entwurf eines FGG-Reformgesetzes, aaO), für die anerkannt ist,
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dass eine eigenhändige Unterschrift ausnahmsweise entbehrlich sein kann (vgl.
BGH, Urteil vom 10. Mai 2005 - XI ZR 128/04, NJW 2005, 2086, 2088; Be-
schluss vom 14. Februar 2006 - VI ZB 44/05, NJW 2006, 1521, 1522). Das gilt
etwa dann, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift ver-
gleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen ergibt, das Schreiben
in den Rechtsverkehr zu bringen. Dazu muss aus dem Schriftstück der Inhalt
der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht,
hinreichend zuverlässig entnommen werden können; außerdem muss festste-
hen, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt,
sondern dass es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugelei-
tet worden ist (BGH, Urteil vom 10. Mai 2005 - XI ZR 128/04, aaO). Dass der
Gesetzgeber für das FamFG-Verfahren strengere Voraussetzungen schaffen
wollte, kann angesichts der Ausgestaltung von § 23 Abs. 1 Satz 4 FamFG als
Soll-Vorschrift nicht angenommen werden (ebenso BK-Bahrenfuss/Rüntz,
FamFG [2009], § 23 Rn. 21; Keidel/Sternal, FamFG, 16. Aufl., § 23 Rn. 42;
Brinkmann in Schulte-Bunert/Weinreich, FamFG, 2. Aufl., § 23 Rn. 27; ein-
schränkend Jacoby in Bork/Jacoby/Schwab, FamFG [2009], § 23 Rn. 15; aA
Bumiller/Harders, FamFG [2009], § 23 Rn.14; Reinken in Horndasch/Viefhues,
Kommentar zum Familienverfahrensrecht, § 23 Rn. 8).
Demnach ist der Haftantrag hier wirksam. Ausweislich des Protokolls
vom 7. Juni 2010 ist der nicht unterschriebene, der Beteiligten zu 2 jedoch zwei-
felsfrei zuzuordnende Antrag im Beisein von zwei Mitarbeitern der Beteiligten zu
2 mit dem Betroffenen erörtert worden. Damit stand seine Urheberschaft und
die Übernahme der Verantwortung der Beteiligten zu 2 für ihn vor Anordnung
der Freiheitsentziehung fest.
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b) Anders als die Rechtsbeschwerde meint, enthält der Haftantrag auch
hinreichende Angaben zu den Voraussetzungen der Freiheitsentziehung. Not-
wendig sind insbesondere Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu
den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der
Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417
Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG; vgl. Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB
218/09, aaO; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn.10, juris).
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Hinsichtlich der Ausreisepflicht konnte die Beteiligte zu 2 auf die Auswei-
sungsverfügung vom August 2009 und deren Bestandskraft hinweisen (vgl. Se-
nat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, Rn. 10 ff., juris), weil dem Ge-
richt hierdurch eine hinreichende Tatsachengrundlage für seine Entscheidung
und gegebenenfalls für weitere Ermittlungen (Senat, Beschluss vom 29. April
2010 - V ZB 218/09, aaO) zugänglich gemacht wurde und auch der Betroffene
zu erkennen vermochte, woraus seine Ausreisepflicht abgeleitet wurde. Dass
Angaben zu der Zustellung der Verfügung und dagegen eingelegter Rechtsmit-
tel fehlten, führt entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht zu der
Unwirksamkeit des Antrags. Ebenso wenig waren Angaben zu dem Asylantrag
des Betroffenen zwingend erforderlich; hätte dieser Antrag der Ausweisungs-
verfügung entgegengestanden, wäre dies nämlich von dem Betroffenen im
Verwaltungsrechtsweg geltend zu machen, also nicht von dem Haftrichter zu
prüfen gewesen.
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Unbegründet ist ferner die Rüge, die Erforderlichkeit der Haft im An-
schluss an die Strafhaft sei in dem Antrag nicht dargelegt worden. Insoweit
reichte es aus, dass die Beteiligte zu 2 angab, von der vorzeitigen Haftentlas-
sung des Betroffenen überrascht worden zu sein. Inwieweit sie Bemühungen
unternommen hatte, diesen aus der Strafhaft abzuschieben, musste sich aus
dem Antrag nicht ergeben. Dass die Angaben zu der Erforderlichkeit der Haft
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dem Amtsgericht möglicherweise Anlass gaben, den Sachverhalt weiter aufzu-
klären (§ 26 FamFG) und insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Be-
schleunigungsgebots und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit näher zu
prüfen, stellt die Zulässigkeit des Haftantrags nicht in Frage.
3. Rechtsfehlerhaft ist dagegen die Annahme des Beschwerdegerichts,
die Voraussetzungen des Haftgrundes der unerlaubten Einreise gemäß § 62
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG hätten vorgelegen.
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a) Allerdings ist davon auszugehen, dass der Betroffene ohne den erfor-
derlichen Aufenthaltstitel und damit unerlaubt eingereist ist (§ 14 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG). Gegen die Schlussfolgerung des Beschwerdegerichts, da der Be-
troffene das von ihm behauptete Visum nicht vorlegen könne, sei davon auszu-
gehen, dass er keinen Aufenthaltstitel besitze, wendet sich die Rechtsbe-
schwerde vergeblich. Da der Betroffene nach den Feststellungen des Be-
schwerdegerichts weder genaue Angaben zu dem Visum noch zu dem Zeit-
punkt seiner Einreise gemacht hat und auch nicht anzugeben vermochte, wo
sich das Visum befindet, durfte das Beschwerdegericht ohne weitere Sachauf-
klärung davon ausgehen, dass es ein solches nicht gibt.
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Auch musste das Beschwerdegericht aus dem Umstand, dass der Be-
troffene über Frankreich nach Deutschland eingereist sein soll, nicht folgern,
dass er über ein sog. Schengenvisum verfügt haben müsse. Anders als in der
Senatsentscheidung vom 17. Juni 2010 (V ZB 3/10, Rn. 14 ff., juris) liegen nicht
im Ansatz Anhaltspunkte dafür vor, dass der Betroffene im Besitz eines zum
Aufenthalt im Schengengebiet berechtigenden Dokuments gewesen sein könn-
te. Dieser hat nicht einmal behauptet, mit einem gültigen Pass eingereist zu
sein. Die Pflicht des Beschwerdegerichts, die entscheidungserheblichen Tatsa-
chen von Amts wegen zu ermitteln, geht nur so weit, wie das Vorbringen der
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Beteiligten zu weiteren Erkundigungen Anlass gibt (Senat, Beschluss vom
10. Juni 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1174 f. Rn. 38).
b) Das Beschwerdegericht verkennt indessen, dass bei dem Haftgrund
des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG die vollziehbare Ausreisepflicht auf der
unerlaubten Einreise beruhen muss (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neurege-
lung des Asylverfahrens, BT-Drucks. 12/2062, S. 45; Senat, Beschluss vom
18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 21, juris). Eine zwischenzeitliche Aufent-
haltsgestattung - beispielsweise aufgrund eines Asylantrags - lässt die Ursäch-
lichkeit entfallen (vgl. OLG Oldenburg, InfAuslR 2002, 307; OVG Saarlouis,
InfAuslR 2001, 172, 173; Hailbronner, aaO, § 62 AufenthG Rn. 39 [Stand: De-
zember 2008]; Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens,
aaO). An der Ursächlichkeit der unerlaubten Einreise für die vollziehbare Aus-
reisepflicht fehlt es hier.
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Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts ist davon auszuge-
hen, dass der Betroffene mit einem am 9. Oktober 2009 bei dem Bundesamt
eingegangenen Antrag um Asyl nachgesucht und dass dieser Antrag zu einer
Aufenthaltsgestattung geführt hat (§ 55 Abs. 1 Satz 1 und 3 i.V.m. § 14 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 AsylVfg). Daraus, dass § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 3 AsylVfG
die Anordnung von Abschiebungshaft zulässt, wenn der Ausländer den Asylan-
trag, wie hier, aus der Strafhaft heraus stellt, folgt nichts anderes. Zweck dieser
Regelung ist, zu verhindern, dass der Ausländer in einem solchen Fall wegen
der mit dem Asylantrag verbundenen Aufenthaltsgestattung nicht in Abschie-
bungshaft genommen werden darf oder aus dieser zu entlassen ist (vgl. Senat,
Beschluss vom 28. Februar 2001 - V ZB 8/01, BGHReport 2001, 341, 342; Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung straf-, ausländer- und asylverfahrensrechtli-
cher Vorschriften, BT-Drucks. 13/4948, S. 10 f.). Dies gilt aber nur, wenn der
Antrag binnen vier Wochen als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet
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abgelehnt wird; andernfalls ist der Betroffene aus der Abschiebungshaft zu ent-
lassen (§ 14 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG). Folglich unterbricht ein Asylantrag die Ur-
sächlichkeit der unerlaubten Einreise für die vollziehbare Ausreisepflicht jeden-
falls dann, wenn er - wie hier - nicht innerhalb von vier Wochen als unbeachtlich
oder offensichtlich unbegründet abgelehnt wird (vgl. OVG Saarlouis, InfAuslR
2001, 172, 173); die Anordnung oder Fortdauer der Abschiebungshaft auf der
Grundlage von § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kommt dann nicht mehr in
Betracht.
4. Rechtsfehlerhaft ist ferner die Annahme des Beschwerdegerichts, An-
ordnung und Fortdauer der Haft seien nicht deshalb unzulässig, weil feststeht,
dass die Abschiebung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat,
nicht innerhalb von drei Monaten nach Anordnung der Haft durchgeführt werden
kann (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG).
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Die in diesem Zusammenhang notwendige Prognose muss auf einer hin-
reichend vollständigen Tatsachengrundlage basieren und sich auf alle im kon-
kreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Ab-
schiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (BVerfG, NJW 2009,
2659, 2660). Erforderlich sind konkrete Feststellungen zu dem Verfahrensab-
lauf und zu dem Zeitraum, in dem die einzelnen Schritte unter normalen Bedin-
gungen durchlaufen werden. Der Tatrichter darf sich insoweit nicht auf die Wie-
dergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde beschränken, die Abschie-
bung werde voraussichtlich innerhalb von drei Monaten stattfinden können. So-
weit diese keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es ihm gemäß § 26
FamFG, diese durch Nachfragen zu ermitteln (vgl. Senat, Beschluss vom
18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 22, juris, mwN).
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Diesen Anforderungen genügt die angefochtene Entscheidung nicht. Die
Prognose stützt sich allein auf die Angabe der Beteiligten zu 2, die mit der
Passersatzpapierbeschaffung befasste Zentrale Ausländerbehörde habe mit
Schreiben vom 28. Juni 2010 mitgeteilt, die Papiere würden trotz fehlender Mit-
wirkung des Betroffenen binnen acht Wochen vorliegen; sodann könne zeitnah
ein Rückflug gebucht werden. Zu Recht wendet der Betroffene hiergegen ein,
dass nicht nachvollziehbar sei, auf welcher Tatsachengrundlage die Einschät-
zung der Zentralen Ausländerbehörde beruht; insbesondere haben sich weder
die Beteiligte zu 2 noch die Zentrale Ausländerbehörde auf die bundesweite
Fallsammlung der Zentralen Ausländerbehören über die Ausstellung von Pass-
ersatzpapieren oder auf Erfahrungen aus kürzlich vollzogenen Abschiebungen
nach Serbien bezogen.
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5. Nicht frei von Rechtsfehlern ist schließlich die Einschätzung des Be-
schwerdegerichts, die Beteiligte zu 2 sei dem Beschleunigungsgebot gerecht
geworden.
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a) Das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei
Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 46, 194, 195) ist auch schon während des
Laufs der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu beachten; es
ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen
unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Ab-
schiebungshaft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (Senat,
Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 18, juris; Beschluss vom
10. Juni 2010 - V ZB 205/09, Rn. 16, juris). Die Ausländerbehörde ist deshalb
verpflichtet, die Abschiebung während der Strafhaft des Betroffenen so vorzu-
bereiten, dass sie unmittelbar im Anschluss an die Strafhaft durchgeführt wer-
den kann (OLG Oldenburg, InfAuslR 2006, 281; vgl. Hailbronner, aaO, § 62
AufenthG Rn. 33, Stand: Dezember 2008).
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b) Dass die Beteiligte zu 2 dieser Verpflichtung in jeder Hinsicht nachge-
kommen ist, lässt sich den bisher getroffenen Feststellungen nicht entnehmen.
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Zwar hatte sie keinen Anlass, vor Eintritt der Rechtskraft ihrer Auswei-
sungsverfügung, also vor dem 18. Mai 2010, die Abschiebung des Betroffenen
vorzubereiten, insbesondere Ersatzpapiere für ihn zu beschaffen (vgl. Senat,
Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97, 98). Auch
kann ihr entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht vorgeworfen
werden, dass sie sich nach diesem Zeitpunkt nicht um eine Abschiebung aus
der Strafhaft gemäß § 456a StPO heraus bemüht hat. Da der Betroffene im
September 2009 erklärt hatte, ein solches Vorgehen nicht zu wünschen und die
Beteiligte zu 2 angesichts der noch nicht bestandskräftigen Ablehnung seines
Asylantrags nicht davon ausgehen musste, dass sich seine Einstellung zwi-
schenzeitlich geändert hatte, stellt es ein widersprüchliches und damit unbe-
achtliches Verhalten dar, wenn der Betroffene der Beteiligten zu 2 nunmehr
vorwirft, ihr Verhalten habe, obwohl seinen Wünschen entsprechend, das Be-
schleunigungsgebot verletzt.
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Jedoch kann nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht davon
ausgegangen werden, dass die Beteiligte zu 2 im Mai 2010 darauf vertrauen
durfte, dass eine vorzeitige Haftentlassung des Betroffenen ausgeschlossen
war, oder dass sie aufgrund der an die Justizvollzugsanstalt gerichteten Bitte,
Veränderungen mitzuteilen, von einer solchen frühzeitig erfahren würde. Viel-
mehr hätte es nach Eintritt der Bestandskraft der Ausweisungsverfügung einer
Kontaktaufnahme mit der Vollstreckungsbehörde bedurft, um festzustellen, ob
mit einer - in der Praxis nicht ungewöhnlichen - vorzeitigen Haftentlassung zu
rechnen war. Darauf, dass sie von Amts wegen unterrichtet werden würde,
konnte die Beteiligte zu 2 nicht vertrauen, insbesondere ist eine entsprechende
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Unterrichtung nicht in der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen vorgese-
hen (vgl. Nr. 42 MiStra).
Die an die Justizvollzugsanstalt gerichtete Bitte um Mitteilung etwaiger
Veränderungen wäre nur ausreichend gewesen, wenn die Beteiligte zu 2 damit
rechnen konnte, von dieser frühzeitig, also mehrere Wochen vor einer geplan-
ten Entlassung, entsprechend unterrichtet zu werden; dass es sich so verhält,
ist von dem Beschwerdegericht nicht festgestellt worden. Dagegen spricht im
Übrigen, dass die Beteiligte zu 2 dem Anruf einer Sozialarbeiterin der Vollzugs-
anstalt am 8. April 2010, in der diese fragte, ob es aufenthaltsbeendende Maß-
nahmen gebe, offenbar keine Bedeutung beigemessen hat. Zudem ist nicht
nachvollziehbar, warum das Beschwerdegericht meint, die Beteiligte zu 2 habe
aus diesem Anruf keine Rückschlüsse auf eine vorzeitige Entlassung des Be-
troffenen ziehen können, die (nach Eintritt der Bestandskraft der Ausweisungs-
verfügung) Erkundigungen bei der Vollstreckungsbehörde nahegelegt hätten.
Ein anderer möglicher Hintergrund der Nachfrage ist nicht ersichtlich und wird
von dem Beschwerdegericht auch nicht genannt.
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Schließlich verkennt das Beschwerdegericht, dass ein Verstoß gegen
das Beschleunigungsgebot auch darin liegen kann, dass der Betroffene nach
der Anordnung der Abschiebungshaft aus bislang nicht geklärten Gründen erst
elf Tage später, nämlich am 18. Juni 2010, von einem Mitarbeiter der Beteilig-
ten zu 2 aufgesucht worden ist.
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IV.
Der Beschluss des Beschwerdegerichts ist daher aufzuheben (§ 74
Abs. 5 FamFG). Die Sache ist an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen,
da der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden kann (§ 74 Abs. 6 Satz 2
FamFG). Dem Beschwerdegericht ist Gelegenheit zu der bislang unterbliebe-
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nen Prüfung zu geben, ob die Voraussetzungen des von dem Amtsgericht an-
genommenen Haftgrunds nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG vorgelegen
haben. Ferner erfordert die von dem Betroffenen beantragte Feststellung, dass
ihn die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung in seinen Rechten ver-
letzt haben, aus den dargelegten Gründen weitere Sachverhaltsermittlungen
(§ 26 FGG) zu der Beachtung des Beschleunigungsgebots und zu den Voraus-
setzungen des § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG; dabei ist zu beachten, dass die
Voraussetzungen dieser Vorschrift von dem Beschwerdegericht unter Berück-
sichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung erkennbaren Verlaufs
des Abschiebungsverfahrens geprüft werden müssen. Erschien eine Abschie-
bung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, zu diesem Zeit-
punkt nicht mehr innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der Si-
cherungshaft) möglich, hätte die Haft nicht aufrechterhalten werden dürfen (vgl.
Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris).
Krüger Stresemann Czub
Roth
Brückner
Vorinstanzen:
AG Bochum, Entscheidung vom 07.06.2010 - 18 XIV 1012 B -
LG Bochum, Entscheidung vom 14.07.2010 - I-7 T 266/10 -