Urteil des BGH vom 20.11.2012
Führungsschiene Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ZR 95/11
Verkündet am:
20. November 2012
Anderer
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Führungsschiene
PatG § 88 Abs. 1, § 119 Abs. 5; ZPO § 359
Zur Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens im
Patentnichtigkeitsverfahren nach neuem Recht.
BGH, Beschluss vom 20. November 2012 - X ZR 95/11 - Bundespatentgericht
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 16. Oktober 2012 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck,
die Richter Gröning, Dr. Grabinski und Dr. Bacher sowie die Richterin Schuster
beschlossen:
I.
Der Senat ist auf Grund der mündlichen Verhandlung zu folgender vorläu-
figer Bewertung gelangt:
1.
Das Streitpatent betrifft eine Führungsschiene für einen Kraftfahr-
zeugsitz mit Anbauteilen zur Anbindung des Sitzgestells oder eines Sicher-
heitsgurtes. Der Streitpatentschrift zufolge werden bei den bekannten Kraftfahr-
zeugsitzen zur Anbringung von Sitzgestellen Befestigungswinkel oder Rohr-
schellen verwendet, die mit Nieten oder Schrauben fixiert werden. Derartige
Befestigungsstellen müssten, um die unter Umständen sehr hohen, bei Zu-
sammenstößen möglichen Kräfte aufzunehmen, sehr massiv ausgebildet sein,
was vergleichsweise viel Material und Bauraum beanspruche.
Der Erfindung liegt deshalb das Problem zugrunde, Mittel zur Anbindung
von Anbauteilen an Führungsschienen eines Kraftfahrzeugsitzes zur Verfügung
zu stellen, die sich durch eine hohe Belastbarkeit bei geringem Materialeinsatz
auszeichnen und sich für eine automatisierte Fertigung eignen.
Dafür schlägt Patentanspruch 1 eine Führungsschiene für einen Kraftfahr-
zeugsitz mit Anbauteilen zur Anbindung eines Sitzgestells oder eines Sicher-
heitsgurtes vor, bei der wenigstens ein Teil der Anbauteile zumindest mit einem
Teilbereich stumpf auf eine Oberfläche der Führungsschiene aufgesetzt und
durch Laserschweißen mit der Führungsschiene verbunden ist. Hierdurch soll
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bei geringer thermischer Belastung der zu verbindenden Bauteile eine hoch
belastbare Verbindung bereitgestellt werden.
2.
Als Fachmann ist ein mehrjährig auf dem Gebiet der Konstruktion
von Kraftfahrzeugsitzen tätiger Maschinenbauingenieur anzusehen, der gege-
benenfalls in ein Entwicklerteam eingebunden ist, in dem ihm erforderlichenfalls
fertigungs- und verbindungstechnische Kenntnisse vermittelt werden.
3.
Im Stand der Technik waren als Lösungen, an die aus fachmänni-
scher Sicht für die Weiterentwicklung der Anbindung von Kraftfahrzeug-
Sitzgestellen oder Sicherheitsgurten angeknüpft werden konnte, vorzufinden:
a)
die Verbindung von Anbauteilen durch Schrauben oder Nie-
ten, wie sie etwa in den deutschen Offenlegungsschriften
196 16 915 oder 197 15 626 als Stand der Technik beschrie-
ben ist;
b)
stumpf im Schutzgasschweißverfahren angeschweißte Anbau-
teile wie bei den D. -Baureihen W 124 (Anlagenkonvolut
D1 und Anlage M&N10, Bezugszeichen B2 und B3) oder
W 201 verwirklicht;
c)
nach der Behauptung der Klägerin ferner Laserschweißen mit
überlappenden Anbauteilen beim A. (Anlagenkonvolut
D2).
4.
Der Senat vermag auf der Grundlage des bisherigen Sach- und
Streitstandes nicht abschließend zu beurteilen, ob der Fachmann Anlass hatte,
bei der Lösung des technischen Problems auf die in D1 offenbarte Lösung zu-
rückzugreifen und diese dahin weiterzuentwickeln, dass stumpf auf die Füh-
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rungsschiene aufgesetzte Anbauteile durch Laserschweißen mit der Führungs-
schiene verbunden werden.
a) Die Laserschweißtechnologie wurde zwar schon vor dem Prioritätstag
von verschiedenen Autoherstellern in einzelnen Bereichen eingesetzt (s. dazu
das Privatgutachten von Prof. Dr. H. [M&N6]: BMW ab 1987, Daimler ab
1991, VW ab 1996; auch das Gutachten von Prof. Dr. R. vom 27. Januar
2010; zur Verbreitung vgl. M&N7 und dort insbesondere das Diagramm nach
S. 6 sowie - zum Laser-Remoteschweißen bei Pkw-Sitzkomponenten - die 2009
nachveröffentlichte Anlage M&N8, dort insbesondere S. 26 li. Sp.; das Hand-
buch von Dilthey, erschienen im Jahr 2000, Anlagen E4 und M&N14, wird von
den Parteien kontrovers erörtert, vgl. einerseits Schriftsatz Rechtsanwälte E.
vom 22. Juni 2012 S. 37 ff. unter Bezugnahme auf E4 und Schriftsatz
Rechtsanwälte J. vom 17. September S. 24 ff. unter Bezug-
nahme auf M&N14). In der vor dem Prioritätstag veröffentlichten Entgegenhal-
tung M&N1 (Fachbuchreihe Schweißtechnik, erschienen 1994, S. 116: "I-Naht/
Kehl-Naht am T-Stoß - im Karosseriebereich wegen der erheblichen Toleranzen
und Positionierprobleme nicht geeignet") und auch noch in einer im Jahr 2005
veröffentlichten Ausarbeitung (M&N9 S. 2 li. Sp. oben) werden aber Vorbehalte
gegen die Herstellung von T-Stoß-Verbindungen im Karosseriebau geäußert.
Andererseits befasst sich unter anderem die deutsche Patentschrift 43 41 255
(Anlage D4; Patentinhaberin: D. AG) mit Schweißverbindungen an
T-Stößen; die Schrift beschreibt ein Verfahren zum Laserstrahlschweißen von
Bauteilen und weist dabei auf "normale in der Automobilindustrie verwandte
Bleche" hin (Beschreibung Spalte 2 Z. 32 ff.).
Das Patentgericht hat angenommen, dass die grundsätzliche Eignung des
Laserschweißverfahrens - u.a. aufgrund der D4 - für den Fachmann auf der
Hand gelegen habe, zumal gerade die Fügesituation der Anbauteile an der Füh-
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rungsschiene des Sitzes besonders für das Laserschweißen geeignet sei, weil
die Laserstrahlachse vorteilhaft in die Fügezone gelenkt werden könne. Die in
der M&N1 angesprochenen Toleranz- und Positionierungsprobleme bezögen
sich im Karosseriebereich auf in der Regel nicht geradlinige Verläufe von ge-
pressten oder gestanzten Blechteilen der Fahrzeugkarosserie; solche Positio-
nierprobleme träten bei einer Verbindung zwischen einer Führungsschiene und
einem Anbauteil regelmäßig nicht auf, da die Führungsschiene ihrem Zweck
entsprechend sehr formhaltig sein müsse. Die Beklagte ist dem letzteren Argu-
ment mit der Behauptung entgegengetreten, dass der Fachmann von einem
geradlinigen Verlauf der Aufsatzfläche, u.a. im Hinblick auf die Auswirkungen
der erforderlichen Abkantungen des Bleches und der Einbringung von Öffnun-
gen nicht habe ausgehen können. Sie hat ferner die Auffassung vertreten, dass
die Entgegenhaltung D4 notwendig die Gewährleistung eines - bei der Lösung
des Streitpatents zu vermeidenden - Fügespaltes zwischen den zu verbinden-
den Bauteilen voraussetze, der zwar nicht zwingend durchgängig exakt diesel-
be Höhe aufweisen müsse, aber für eine praktische Umsetzung des Verfahrens
eine Mindesthöhe nicht unter- und eine Maximalhöhe nicht überschreiten dürfe
(Schriftsatz der Beklagten vom 17. September 2012 S. 21 f. und Berufungsbe-
gründung S. 22 ff.), und dass ferner aus fachmännischer Sicht der Vorschlag
der D4, einen Fügespalt durch aufgeschmolzenes Material aufzufüllen, das sich
aus dem in der Schrift beschriebenen Materialüberstand speist, im Zusammen-
hang mit der Verbindung eines Anbauteils mit der Sitzführungsschiene nicht in
Betracht gezogen worden wäre. Schließlich hat die Beklagte geltend gemacht,
dass die auf dem hier in Rede stehenden Fachgebiet tätigen Unternehmen über
keine praktischen Erfahrungen mit dem Laserschweißen verfügt hätten.
b) Die Parteien haben ferner kontrovers diskutiert, ob und inwiefern aus
der Sicht des Fachmanns am Prioritätstag die in der D1 verwirklichte, aber bei
den Nachfolgeserien der betreffenden Fahrzeugmodelle nicht aufgegriffene T-
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Stoß-Verbindung zwischen Anbauteilen und Führungsschiene Anlass gab, eine
solche T-Stoß-Verbindung nunmehr mittels Laserschweißens zu realisieren.
5. Es bedarf daher der weiteren Klärung, ob für den Fachmann Veranlas-
sung bestand, den Einsatz der Laserschweißtechnologie dort in Erwägung zu
ziehen, wo T-Stoß-Schweißverbindungen zur Verbindung von Anbauteilen und
Führungsschiene bereits verwirklicht worden waren, oder ob der Einsatz dieser
Technologie zur Herstellung einer T-Stoß-Verbindung in dem hier zu beurtei-
lenden Zusammenhang aufgrund der allgemein geäußerten Vorbehalte, des
Gangs der Entwicklung auf dem Gebiet der Konstruktion von Fahrzeugsitzen
und ihrer Führungsschienen und der Ausbildung und Erfahrung der auf diesem
Gebiet tätigen Fachleute und ihrer Einschätzung der Vor- und Nachteile der
bisher verwirklichten Lösungen eher fernlag.
II.
Es soll ein schriftliches Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt
werden, welche fachlichen Gesichtspunkte für und welche Gesichtspunkte ge-
gen die Annahme sprechen, dass ein mit der Lösung des technischen Problems
befasster Fachmann am Prioritätstag (13. September 2001) Anbauteile zur An-
bindung eines Sitzgestells oder eines Sicherheitsgurts an die Sitzführungs-
schiene stumpf aufgesetzt und durch Laserschweißen mit der Führungsschiene
verbunden hätte?
Bei der Beantwortung dieser Frage soll der Sachverständige insbesondere
auch auf folgende Gesichtspunkte eingehen:
1.
Inwieweit ergaben sich aus den Verhältnissen und Gegebenheiten in
den mit der Entwicklung solcher Konstruktionen befassten Unternehmen, dem
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Stand der Technik im Bereich der Laserschweißtechnologie am Prioritätstag,
den Hinweisen, die der Fachmann der Literatur zu den Einsatzmöglichkeiten
des Laserschweißens entnehmen konnte, und den konkreten Verhältnissen bei
der Verbindung eines Anbauteils mit der Führungsschiene und deren Formhal-
tigkeit Ansatzpunkte dafür, auf dem vom Streitpatent beschrittenen Weg eine
Lösung für das dem Streitpatent zugrunde liegende Problem zu suchen?
2.
Bot aus fachlicher Sicht die Lehre der D4 vor dem Hintergrund der
Verbreitung und des Stands des Laserschweißens in der Automobilindustrie
eine Anregung für die Verwendung des Laserschweißens bei stumpf aufgesetz-
ten Anbauteilen der Führungsschiene oder konnte sie eher Veranlassung ge-
ben, in diesem Zusammenhang von der Laserschweißtechnologie Abstand zu
nehmen?
3.
Was spricht dafür und was spricht dagegen, dass der Fachmann bei
der Lösung des dem Streitpatent zugrunde liegenden Problems in Erwägung
gezogen hätte, auf die in der D1 verwirklichte T-Stoß-Verbindung zurückzugrei-
fen? Hatte in diesem Zusammenhang der Umstand Bedeutung, dass die Lö-
sung der D1 keiner aktuellen "Sitzgeneration" eines Automobilherstellers zu-
grunde lag? Deutete bei der Lösung gemäß D1 das Vorhandensein des auch
als "Gurtschwert" bezeichneten Bauteils aus fachmännischer Sicht darauf hin,
dass stumpf angeschweißte Anbauteile unter Festigkeits- und damit zugleich
Sicherheitsgesichtspunkten einer Unterstützung bedürfen? Wenn ja, hatte die-
ser Umstand Bedeutung für die Erwägung, eine T-Stoß-Verbindung im Laser-
schweißverfahren zu realisieren (vgl. dazu insbesondere Berufungsbegründung
S. 27 ff. = SenA Bl. 38 ff.; Schriftsatz vom 22. Juni 2012 S. 24 ff. = SenA
Bl. 113 ff.; Schriftsatz vom 17. September 2012 S. 9 ff. = SenA Bl. 144 ff.)?
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4.
Welche Schlussfolgerungen ergaben sich aus fachlicher Sicht aus
dem Umstand, dass die zu verbindenden Teile bei der in D2 offenbarten Lö-
sung überlappend verschweißt wurden, hinsichtlich der Möglichkeit eines
stumpfen Anschweißens? Zur Beantwortung dieser Frage soll unterstellt wer-
den, dass die Lösung gemäß D2 bereits vor dem Prioritätstag eingesetzt wurde.
III.
1.
Den Parteien wird aufgegeben, innerhalb eines Monats jeweils min-
destens zwei Vorschläge für fachlich qualifizierte unabhängige Sachverständige
zu machen, die der Senat mit der Erstellung des Gutachtens beauftragen kann.
Die für die andere Partei bestimmten Abschriften des betreffenden Schriftsatzes
sollen über den Senat zugeleitet werden, der dies erst veranlassen wird, wenn
ihm die Vorschläge beider Seiten vorliegen.
2. Dem gerichtlichen Sachverständigen sollen von den Parteien auch die
von ihnen in der mündlichen Verhandlung vor dem Patentgericht und dem Se-
nat vorgeführten Musterstücke zur Vorbereitung D1 zur Verfügung gestellt wer-
den.
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3.
Die Anforderung eines Auslagenvorschusses (§ 17 Abs. 3 GKG)
bleibt vorbehalten.
Meier-Beck
Gröning
Richter am Bundes-
gerichtshof Dr. Grabinski
kann wegen Urlaubs
nicht unterschreiben.
Meier-Beck
Bacher
Schuster
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 13.04.2011 - 5 Ni 1/10 (EU) -
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