Urteil des BGH vom 24.06.2010

BGH (zpo, rechtliches gehör, verhandlung, wert, sache, kaufpreis, beschwerde, anordnung, betrag, partei)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZR 225/09
vom
24. Juni 2010
in dem Rechtsstreit
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Juni 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, den Richter Dr. Klein, die Richterin
Dr. Stresemann und die Richter Dr. Czub und Dr. Roth
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil
des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 29. Oktober
2009 aufgehoben.
Der Rechtstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandwert des Beschwerdeverfahrens beträgt
37.377,52 €.
Gründe:
I.
Mit notariell beurkundetem und vormundschaftsgerichtlich genehmigtem
Vertrag kaufte die Beklagte von dem durch seinen Betreuer Dr. V. vertrete-
nen Kläger zwei Grundstücke zu einem Gesamtpreis von 45.329,25 €. Dabei
entfielen auf die sog. Holzung (25.542 qm à 0,75 € =) 19.157,25 € und auf das
sog. Grünland (13.086 qm à 2 € =) 26.172 €. In der Folgezeit kam es zu ver-
schiedenen Stundungen, die im Jahr 2004 in den Abschluss einer notariell be-
urkundeten und ebenfalls vormundschaftsgerichtlich genehmigten Ratenzah-
lungsvereinbarung einmündeten, die die vollständige Begleichung der Kauf-
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preisschuld bis zum 31. Dezember 2007 vorsah. Vollständig erfüllt wurde die
Forderung jedoch nicht, weil die Beklagte mittlerweile unter anderem auf dem
Standpunkt steht, der Kaufvertrag sei wegen sittenwidriger Überhöhung des
Kaufpreises nichtig. Der Kläger fordert die Begleichung der noch offenen Kauf-
preisverbindlichkeit, die er inklusive Zinsen mit 37.597,64 € beziffert.
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Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten
ist überwiegend erfolglos geblieben. Das Oberlandesgericht hat den ausgeur-
teilten Betrag lediglich auf 35.086,76 € reduziert. Die Revision hat es nicht zu-
gelassen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung
des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das
Berufungsgericht. Den Einwand der Sittenwidrigkeit hat das Berufungsgericht
aus zwei selbständig tragenden Gründen nicht für durchgreifend erachtet. Zum
einen liege kein für § 138 Abs. 1 BGB erhebliches auffälliges Missverhältnis vor.
Zum anderen sei die Ratenzahlungsabrede als deklaratorisches Schuldaner-
kenntnis auszulegen, wodurch es der Beklagten verwehrt sei, sich auf die Sit-
tenwidrigkeit zu berufen. Die hierzu angestellten Erwägungen verletzen jeweils
in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Beklagten auf rechtliches
Gehör (§ 544 Abs. 7 ZPO).
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1. Das Eingreifen von § 138 Abs. 1 BGB hat das Berufungsgericht mit
der Erwägung verneint, ein grobes Missverhältnis lasse sich auf der Grundlage
der eingereichten Aufstellung des Betreuers nicht feststellen. Dabei wird jedoch
- was die Beschwerde zu Recht rügt - das unter Sachverständigenbeweis ge-
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stellte Vorbringen der Beklagten übergangen, wonach der vereinbarte Kaufpreis
um mindestens 100 % überhöht sei. Hinsichtlich des „Grünlands“ betrage der
Wert des Grundstücks höchstens 1 €/qm. Mit Blick auf die „Holzung“ hat die
Beklagte im Ausgangspunkt einen Wert von 0,30 €/qm behauptet und hierzu
der Sache nach ausgeführt, auch unter Berücksichtigung eines Aufschlages für
den Zuwachswert werde das auffällige Missverhältnis nicht ausgeräumt. Zwar
ist in der Regel davon auszugehen, dass ein Gericht Vorbringen der Parteien
zur Kenntnis genommen und in Er, ,
, , f.; Senat, BGHZ 154, 288, 300). Hier liegt es
jedoch anders, weil die Verneinung eines auffälligen Missverhältnisses nur zu
erklären ist, wenn das Berufungsgericht das in Rede stehende Vorbringen un-
berücksichtigt gelassen hat. Denn der Kern des Vortrags besteht in der Be-
hauptung des unter Sachverständigenbeweis gestellten Missverhältnisses von
wenigstens 100 %, zu dessen weiterer Substantiierung die Beklagte nicht
gehalten war (vgl. nur Senat, BGH, Urt. v. 5. Oktober 2001, V ZR 237/00, NJW
2002, 429, 431). Mit den eingereichten Unterlagen sollte dieses Missverhältnis
ersichtlich nur ergänzend untermauert, nicht aber ausschließlich auf die sich
daraus ergebenden Umstände gestützt werden.
2. Auch mit Blick auf das angenommene deklaratorische Schuldaner-
kenntnis liegt eine entscheidungserhebliche Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG
vor. Entgegen der Auffassung der Beschwerde hat das Berufungsgericht nicht
bereits auf der Rechtssatzebene verkannt, dass die Annahme eines deklarato-
risches Schuldanerkenntnisses nur unter der Voraussetzung in Betracht kommt,
dass die Parteien das zwischen ihnen bestehende Schuldverhältnis insgesamt
oder in einzelnen Beziehungen dem Streit oder der Ungewissheit entziehen
wollen. Ein dem entgegen stehender Obersatz lässt sich dem Berufungsurteil
nicht entnehmen. Im Gegenteil legt es jedenfalls die Bezugnahme des Beru-
fungsurteils auf "Palandt/Sprau, § 781 Rdn. 3" zumindest außerordentlich nahe,
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dass das Berufungsgericht insoweit von zutreffenden Voraussetzungen ausge-
gangen ist. Allerdings greift auf dieser Grundlage die weitere Verfahrensrüge
durch, das Berufungsgericht habe auch insoweit jedenfalls gegen Art. 103 Abs.
1 GG verstoßen. Die Beschwerde verweist auf Parteivorbringen, auf dessen
Grundlage das Berufungsgericht außer Acht gelassen hat, dass der Kaufpreis
auch noch bei Abschluss der Ratenzahlungsvereinbarung außer Streit gewesen
und die Beklagte nach ihrem eigenen Vorbringen erst im Jahr 2007 von ihrem
Ehemann darauf aufmerksam gemacht worden sein soll, dass ein um 100 %
überhöhter Kaufpreis „gezahlt“ worden sei. Bei Berücksichtigung dieses Vor-
bringens hätte das Berufungsgericht nicht zur Annahme eines deklaratorischen
Schuldverhältnisses gelangen können.
III.
Für die neue Verhandlung und Entscheidung, die auch unter Berücksich-
tigung des übrigen Vorbringens der Beklagten im Verfahren der Nichtzulas-
sungsbeschwerde zu treffen sein wird, weist der Senat auf Folgendes hin:
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1. Mit Blick auf § 138 Abs. 1 BGB kann bei Grundstücksgeschäften ein
besonders grobes Missverhältnis bereits dann gegeben sein, wenn der Wert
der Leistung knapp doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung (vgl.
etwa Senat, Urt. v. 9. Oktober 2009, V ZR 178/08, NJW 2010, 363, 364
m.w.N.). Allerdings ist bei einem relativ geringen Wert der Kaufsache Zurück-
haltung bei der Anwendung der Vermutungsregel geboten, weil die Unterschrei-
tung des Kaufpreises umso weniger aussagekräftig ist, je geringer der absolute
Wert der Sache ist (Senat, Urt. v. 27. September 2002, V ZR 218/01, NJW-RR
283, 284; Krüger/Hertel, Der Grundstückskauf, 9. Aufl., Rdn. 75 m.w.N.). Liegt
eine solche Konstellation nicht vor, ist es in den verbleibenden Fällen eher ge-
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ringfügiger absoluter Wertdifferenz rechtlich nicht zu beanstanden, wenn ein
solches Missverhältnis erst bei einem Auseinanderklaffen von 100 % bejaht
wird. Das kommt auch hier in Betracht.
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2. Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass auch
das deklaratorische Schuldanerkenntnis unwirksam ist, wenn das dem aner-
kannten Anspruch zugrunde liegende Rechtsverhältnis nichtig ist. Etwas ande-
res gilt nur dann, wenn die Nichtigkeitsgründe nicht mehr fortbestehen (vgl. nur
BGH, Urt. v. 16. März 1988, VIII ZR 12/87, NJW 1988, 1781, 1782). Hierzu ist
jedoch nichts festgestellt.
3. Die Frage, ob das Vorbringen in dem nach Schluss der mündlichen
Verhandlung erster Instanz, aber noch vor dem anberaumten Verkündungster-
min eingegangenen Schriftsatz der Beklagten vom 10. März 2009 der Zurück-
weisung nach § 531 Abs. 2 ZPO unterliegt, hängt davon ab, ob entscheidungs-
erhebliches Vorbringen infolge eines Verfahrensmangels des Landgerichts nicht
rechtzeitig geltend gemacht worden ist (§ 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
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a) Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass der Vorsitzende des
Landgerichts den Prozessbevollmächtigten der Beklagten auf eine Einsicht-
nahme der Betreuungsakte in den Räumen des Gerichts verwiesen hat. Grund-
sätzlich steht weder der Partei noch deren Prozessbevollmächtigen das Recht
auf Übersendung der Verfahrensakten, wozu auch Beiakten gehören (Münch-
Komm-ZPO/Prütting, 3. Aufl., § 299 Rdn. 5), zu (vgl. nur BGH, Urt. v.
12. Dezember 1960, III ZR 191/59, NJW 1961, 559; Urt. v. 23. November 1972,
IX ZR 29/71, MDR 1973, 580). Ob einem Anwalt die Einsichtnahme in seiner
Kanzlei gestattet werden kann, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsit-
zenden, der bei der Ermessenausübung unter anderem zu berücksichtigen hat,
ob die Aktenversendung an Rechtsanwälte einer Übung bei dem jeweiligen Ge-
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richt entspricht (zu weiteren Gesichtspunkten etwa Stein/Jonas/Leipold, ZPO,
22. Aufl., § 299 Rdn. 13; MünchKomm-ZPO/Prütting, aaO, § 299 Rdn. 11; je-
weils m.w.N.). Beanstandet eine Partei die Anordnung des Vorsitzenden, ent-
scheidet in entsprechender Anwendung von § 140 ZPO das Gericht. Nur des-
sen Entscheidung kann im Rahmen der Anfechtung des Endurteils zur Überprü-
fung gestellt werden (BGH, Urt. v. 23. November 1972, aaO; vgl. auch Zöl-
ler/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 140 Rdn. 5 m.w.N.). Dass das Landgericht die An-
ordnung des Vorsitzenden bestätigt hätte, macht die Beklagte indessen nicht
geltend.
b) Zu prüfen haben wird das Berufungsgericht jedoch ggf., ob das Land-
gericht aufgrund des eingegangenen Schriftsatzes wieder in die mündliche Ver-
handlung hätte eintreten müssen (§ 296a Satz 2 i.V.m. § 156 ZPO). Hierzu rügt
die Beklagte zumindest der Sache nach, ihr Prozessbevollmächtigter habe in
der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht eine „großzügige Spruchfrist“
zu ergänzendem Vorbringen nach Auswertung der Betreuungsakte beantragt.
Diesem Antrag habe das Landgericht durch Anberaumung eines einmonatigen
Verkündungstermins entsprochen. Daher hätte das Landgericht das Vorbringen
der Beklagten in dem sodann eingegangenen Schriftsatz durch Wiedereröff-
nung der mündlichen Verhandlung berücksichtigen müssen. Ob diese Rüge
unter dem Blickwinkel einer fairen Verfahrensgestaltung begründet ist, hängt
davon ab, ob die Anberaumung eines „weiten Verkündungstermins“ mit der
oben wiedergegebenen Begründung angeregt worden ist. Denn nur dann konn-
te die Beklagte von einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ausge-
hen. Da aus dem Verhandlungsprotokoll lediglich die Stellung eines dahin ge-
henden „Antrages“, nicht aber dessen Begründung ersichtlich ist, besteht inso-
weit ggf. Aufklärungsbedarf.
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4. Sollte das Berufungsgericht erneut zur Begründetheit der Klage gelan-
gen, stünde einer Verzinsung der in dem ausgeurteilten Betrag enthaltenen
Zinsen das Zinseszinsverbot des § 289 Satz 1 BGB entgegen. Etwas anderes
kann sich allerdings unter den Voraussetzungen des Verzuges ergeben (§ 289
Satz 2 BGB).
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Krüger
Klein
Stresemann
Czub
Roth
Vorinstanzen:
LG Bonn, Entscheidung vom 13.03.2009 - 4 O 77/08 -
OLG Köln, Entscheidung vom 29.10.2009 - 7 U 49/09 -