Urteil des BGH vom 01.12.2000
BGH (vergewaltigung, hauptverhandlung, aufhebung, einlassung, gruppe, teil, ergebnis, abend, eltern, geschlechtsverkehr)
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StR 237/00
vom
1. Dezember 2000
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 1. Dezember 2000 einstimmig be-
schlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Bad Kreuznach vom 14. Februar 2000 mit den Feststellun-
gen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer
Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Seine hiergegen eingelegte, auf die
Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision führt mit der
Sachrüge zur Aufhebung des Urteils. Auf die Verfahrensrügen kommt es daher
nicht an; insbesondere kann offenbleiben, ob die Umstände der Aktenübersen-
dung an das Beschwerdegericht nicht nur Anlaß zu rechtlichen Bedenken,
sondern auch zur Besorgnis der Befangenheit geben konnten.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts zwang der Angeklagte, der
Vorstandsmitglied des Musikvereins seines Heimatdorfes N. ist, welchem auch
die 1980 geborene Nebenklägerin bis 1997 angehörte, diese am 3. Juni 1995
am Rande einer Festveranstaltung in Münster/Westfalen mit Gewalt zum Ge-
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schlechtsverkehr und zum Oralverkehr. Am Tattag war eine Gruppe von Mit-
gliedern des Musikvereins, unter ihnen der Angeklagte und die Nebenklägerin,
zum Bundesmusikfest nach Münster gefahren. Gegen 17.30 Uhr nahm der
Verein an einem sogenannten Wertungsspielen teil, dessen Ergebnis im Rah-
men einer Großveranstaltung in einem Festzelt am Abend des 3. Juni gegen
21.00 Uhr bekanntgegeben wurde. Die Nebenklägerin verließ zwischen 23.00
Uhr und 24.00 Uhr das Festzelt, um die Toilette aufzusuchen. Unterwegs traf
sie auf den Angeklagten, der sie gegen ihren Widerstand etwa 200 m über ei-
nen Parkplatz zerrte, sie dann zunächst unter Gewaltanwendung küßte und
betastete, sodann gewaltsam entkleidete und zu Boden stieß und, obwohl sie
ihn bat, von ihr abzulassen, Oralverkehr und anschließend ungeschützten Ge-
schlechtsverkehr mit ihr ausführte. Anschließend begab sich der Angeklagte in
das Festzelt. Die Nebenklägerin ging einige Zeit später ebenfalls in das Zelt
zurück und berichtete ihrer Freundin H., der Angeklagte habe sie am Toilet-
tenwagen festgehalten, zur Seite gezogen und aufgefordert, sein Ge-
schlechtsteil anzufassen; sie habe sich aber losmachen können; es sei "nichts
passiert".
Im weiteren Verlauf des Musikfestes tat die Nebenklägerin so, als sei
nichts geschehen. Sie verschwieg die Tat auch in der Folgezeit und nahm bis
1997 weiter an den Veranstaltungen des Musikvereins teil. Nach den Feststel-
lungen des Landgerichts hatte dies seinen Grund darin, daß die Nebenklägerin
seit ihrem 12. Lebensjahr von einem - im Verfahren unbekannt gebliebenen -
nahen Angehörigen sexuell mißbraucht und zum Geschlechtsverkehr gezwun-
gen worden war; dies wollte sie keinesfalls offenbaren. Im Jahr 1997 entwik-
kelte sich bei der Nebenklägerin eine schwere psychosomatische Symptomatik,
die unter anderem zu einer psychogenen Lähmung der Beine sowie zu schwe-
rer Depressivität und Autoaggression führte; die Nebenklägerin befindet sich
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seither in stationärer psychotherapeutischer Behandlung, deren Dauer nicht
absehbar ist. Über die Tat berichtete sie erstmals einen Monat nach ihrer Auf-
nahme in eine Klinik für Psychosomatik im August 1997; den Mißbrauch durch
ihren Angehörigen verschwieg sie auch in der Folgezeit; sie offenbarte dies
erstmals in der Hauptverhandlung.
Der Angeklagte hat die Tat bestritten und insbesondere behauptet, am
Tatabend die Festveranstaltung gar nicht besucht zu haben. Das Landgericht
hat diese Einlassung als widerlegt angesehen.
2. Zwar ist der Tatrichter von Rechts wegen nicht gehalten, im Urteil
sämtliche Überlegungen mitzuteilen, auf welche er seine Überzeugung von
einem bestimmten Geschehensablauf stützt. Mitzuteilen sind aber die wesentli-
chen Erwägungen. Diese müssen in sich widerspruchsfrei sein und dürfen kei-
ne Lücken aufweisen; die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, daß sich der
Tatrichter mit den wesentlichen Beweisergebnissen und möglichen Widersprü-
chen zwischen ihnen auseinandergesetzt und ihre Gewichtung für seine Über-
zeugungsbildung an zutreffenden Maßstäben orientiert hat. Die Anforderungen,
welche an eine vom Revisionsgericht überprüfbare Darstellung der Beweiser-
gebnisse und der Beweiswürdigung zu stellen sind, bestimmen sich dabei vor
allem auch nach der Schwierigkeit der Beweislage im Einzelfall. Diesen Grund-
sätzen genügt das angefochtene Urteil nicht. Daß die Urteilsgründe die Ergeb-
nisse der Beweiserhebung durchweg nur kursorisch mitteilen, begründet hier
jedenfalls insoweit einen Rechtsfehler, als den Feststellungen möglicherweise
widersprechende Beweisergebnisse nur beiläufig erwähnt werden, jedoch offen
bleibt, welche Bedeutung sie für die Überzeugungsbildung des Tatrichters er-
langt haben.
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a) Die Einlassung des Angeklagten, er sei am Tatabend überhaupt nicht
im Festzelt gewesen, hat das Landgericht als "lebensfremd" angesehen und für
unglaubhaft erachtet. Die Urteilsgründe teilen mit, daß die als Zeugen ver-
nommenen Mitglieder des Musikvereins übereinstimmend bekundet haben, den
Angeklagten nicht gesehen zu haben; er sei auch auf den zahlreichen von ver-
schiedenen Teilnehmern im Festzelt gefertigten Lichtbildern nicht zu sehen.
Das Landgericht hat dem keine Bedeutung beigemessen, weil es sich um eine
viereinhalb Jahre zurückliegende, für die Zeugen völlig belanglose Tatsache
handele und überdies in dem Zelt mehrere tausend Menschen versammelt ge-
wesen seien. Dies gilt aber nicht für die Fotos und ist mit der Feststellung kaum
vereinbar, die Mitglieder des Vereins hätten den Abend gemeinsam feiernd
verbracht (UA S. 4). Jedenfalls unklar erscheint insoweit auch die Erwägung,
es sei lebensfremd anzunehmen, daß der Angeklagte als Vorstandsmitglied die
Festveranstaltung nicht besucht hätte. Ersichtlich waren die Mitglieder der Rei-
segruppe aus N. nicht einzeln unter die mehreren tausend Besucher verstreut,
sondern als Gruppe zusammen; das Fehlen eines Vorstandsmitglieds konnte
daher - etwa für die übrigen Vorstandsmitglieder - durchaus von solcher Be-
deutung sein, daß es ihnen in Erinnerung blieb. Nicht bedacht hat das Landge-
richt, daß nach den Feststellungen die Geschädigte ihrer Freundin H. erzählte,
der Angeklagte habe sie am Toilettenwagen aufgefordert, sein Geschlechtsteil
in die Hand zu nehmen, und daß auch der Angeklagte sich zu dieser Zeit wie-
der in das Zelt begeben hatte. Die Offenbarung eines derart entwürdigenden
sexualbezogenen Verhaltens des bei den Teilnehmern als angesehener Bürger
bekannten Angeklagten mußte bei der Zeugin H. Empörung und ein solches
Maß an Aufmerksamkeit gerade für die Person des Angeklagten hervorrufen,
daß der Hinweis auf die Belanglosigkeit seiner Anwesenheit jedenfalls für sie
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nicht gilt. Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, ob das Landgericht dies
gesehen hat; was die Zeugin H. ausgesagt hat, ist nicht mitgeteilt.
b) Auch die Erörterung des Offenbarungs- und Aussageverhaltens der
Nebenklägerin und der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage weist
Lücken auf. Das Landgericht hat festgestellt, die Eltern der Nebenklägerin
hätten im August 1997 bei einem Klinikbesuch von der Vergewaltigung erfah-
ren; daraufhin habe sich das Gerücht verbreitet; man sei dann vom Jahr 1993
als Tatzeit und dem Heimatdorf N. als Tatort ausgegangen (UA S. 5). Es ist
den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, ob diese falschen Annahmen auf An-
gaben der Nebenklägerin gegenüber ihren Eltern beruhten, was diese über die
Schilderungen ihrer Tochter ihnen gegenüber ausgesagt haben und ob sie
überhaupt hierzu vernommen worden sind.
c) Nicht ausreichend sind auch die äußerst knappen, nur wenige Zeilen
umfassenden Ausführungen über den Inhalt der Gutachten von zwei Sachver-
ständigen zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin. Sie beschränken sich auf
die Aufzählung einiger von der Sachverständigen M.-B. angewandter Testver-
fahren sowie die Mitteilung, die Kammer habe die Gutachten verstanden und
geprüft und sei zum selben Ergebnis gekommen. Was der Sachverständige Dr.
W. ausgesagt hat und zu welchen Fragen er überhaupt gehört wurde, ist im
Urteil nicht erwähnt. Eine solch knappe, die rechtliche Überprüfung durch das
Revisionsgericht praktisch ausschließende Zusammenfassung des Beweiser-
gebnisses reicht hier angesichts der Besonderheiten des Einzelfalles nicht aus.
3. Im Hinblick auf die Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung im übrigen
kann dahinstehen, ob das von der Revision auch mit der Sachrüge geltend
gemachte Fehlen der Erörterung des Umstands, daß die Vernehmung der Ne-
benklägerin in der Hauptverhandlung nicht zu Ende geführt wurde und daß
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wegen ihrer Vernehmungsunfähigkeit Fragen des Angeklagten an sie nicht ge-
stellt werden konnten, zur Aufhebung des Urteils führen müßte; aus den Ur-
teilsgründen ergibt sich hierzu nichts. Eine so gewichtige Besonderheit bei der
Aussage der einzigen Belastungszeugin wäre im Urteil jedenfalls darzulegen.
Jähnke Detter Bode
Rothfuß Fischer