Urteil des BGH vom 24.07.2013

BGH: juristische person, faktisches organ, arglistige täuschung, geschäftsführer, anklageschrift, rechtshilfe, organhaftung, verordnung, verwaltung, erfüllung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IV ZR 110/12
vom
24. Juli 2013
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzen-
de Richterin Mayen, die Richter Wendt, Felsch, die Richterin
Harsdorf-Gebhardt und den Richter Dr. Karczewski
am 24. Juli 2013
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Revision ge-
gen das Urteil des Oberlandesgerichts München - 7. Zivil-
senat - vom 29. Februar 2012 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO
aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfa h-
rens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 360.000
Gründe:
I. Mit einer vorweggenommenen Deckungsklage begehrt die Kläg e-
rin die Feststellung, dass die Beklagte als Rechtsnachfolgerin des Ver-
kehrshaftungsversicherers der P. GmbH verpflichtet ist,
ihrer Versicherungsnehmerin wegen des Abhandenkommens von fünf
Lastwagenladungen mit Druckern und Druckpatronen des Herstellers
H.
im Gesamtwert von etwa 540.000 € Deckungsschutz zu
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gewähren. Die Klägerin hatte es als Spediteurin im Juni 2007 überno m-
men, den Transport der genannten Waren an Kunden des Herstellers in
den Niederlanden und Großbritannien zu organisieren. Dazu hatte sie d ie
K. AG und Co. KG beauftragt, die ihrerseits die Versich e-
rungsnehmerin als Subunternehmerin eingesetzt hatte.
Die fünf Lastwagenladungen erreichten ihren Bestimmungsort
nicht, weil unstreitig der bei der Versicherungsnehmerin tätig e Zeuge
Adnan P. nach einem mit Mittätern vorgefassten Plan veranlasst hat-
te, dass das Transportgut am 29. Juni 2007 in D. auf andere LKW-
Anhänger zu dem Zweck verladen und beiseite geschafft wurde, um die
Ladung als gestohlen zu melden und in Wahrheit anderweitig zu verkau-
fen. Teile der Ladung konnten von der Polizei in B . sichergestellt
werden.
Die Klägerin verpflichtete sich gegenüber H. im Ver-
gleichswege zur Leistung von Schadensersatz in Höhe von 450.000
€.
Die K. AG und Co. KG trat ihre Schadensersatzansprüche
gegen die inzwischen insolvente Versicherungsnehmerin an die Klägerin
ab. Der Insolvenzverwalter bestreitet diese zur Insolvenztabelle ang e-
meldete Schadensersatzforderung in voller Höhe. Die Klägerin macht ein
eigenes Interesse geltend, die Eintrittspflicht der Beklagten gegenüber
der Versicherungsnehmerin gerichtlich feststellen zu lassen.
In der Sache streiten die Parteien vorwiegend darüber, inwieweit
das Verhalten des Zeugen Adnan P. sowohl bei Abschluss des Ver-
sicherungsvertrages als auch bei der Verschiebung des Transportgutes
der Versicherungsnehmerin zuzurechnen ist. P. und andere sind von
der Staatsanwaltschaft Duisburg (122 Js 16/08) angeklagt, einen ban-
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denmäßigen Betrug verübt zu haben. Das Hauptverfahren vor dem
Landgericht Duisburg war zur Zeit der Berufungsverhandlung noch nicht
abgeschlossen.
II. In den Vorinstanzen hatte die Klage Erfolg. Das Berufungsge-
richt hat der Klägerin ein eigenes Feststellungsinter esse zugebilligt, weil
wegen der Untätigkeit des Insolvenzverwalters die Gefahr bestehe, das s
der Klägerin als Haftpflichtgläubigerin der Deckungsanspruch der Vers i-
cherungsnehmerin als Befriedigungsobjekt verlorengehe.
In der Sache sei der Beklagten nicht der für eine Nichtigkeit des
Versicherungsvertrages nach den §§ 134, 138 BGB erforderliche Nac h-
weis gelungen, dass der zu Beginn des Jahres 2007 in Kraft getretene
Versicherungsvertrag nur Zweck und Teil des Ziels gewesen sei, eine
kriminelle Vereinigung zu bilden und mittels der Versicherungsnehmerin
Straftaten zu begehen. Dazu fehle es schon an substantiiertem Vortrag,
denn auch die vorgenannte Anklageschrift enthalte keine entspreche n-
den Hinweise. Soweit unstreitig Adnan P. das Beiseiteschaffen des
Transportguts organisiert habe, sei die Beklagte - sowohl mit Blick auf
den Abschluss des Versicherungsvertrages und eine dabei angeblich
verübte arglistige Täuschung des Versicherers als auch im Hinblick auf
eine vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalles (§ 152 VVG
a.F.) - den Beweis schuldig geblieben, dass P. als Repräsentant der
Versicherungsnehmerin gehandelt habe. Der im Ermittlungsverfahren
vernommene Bruder des Zeugen P. habe den Mitangeklagten Kazim
I. als den "eigentlichen Boss" der Versicherungsnehmerin bezeichnet,
der im Hintergrund alle wichtigen Entscheidungen gefällt und entschie-
den habe, die fünf Lastwagenladungen verschwinden zu lassen.
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Anderes hätte sich allenfalls aus der mit Beweisbeschluss vom
12. September 2011 angeordneten Vernehmung der Zeugen T . ,
Adnan P. und Galyna P. ergeben können, doch stehe den beiden
letztgenannten Zeugen ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht
nach den §§ 384 Nr. 2, 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zu, von dem sie Gebrauch
gemacht hätten. Der in den Niederlanden ordnungsgemäß geladene
Zeuge T. sei unerreichbar, da er zur mündlichen Verhandlung vom
25. Januar 2012 ohne Angabe von Entschuldigungsgründen nicht e r-
schienen sei und der Zeugenladung auch nicht folgen müsse. Eine Ver-
nehmung des Zeugen im Wege der Rechtshilfe komme nicht in Betracht,
da die erkennenden Richter in Anbetracht des schwierigen Sachverhalts
auf einen persönlichen Eindruck von ihm nicht verzichten könn ten.
III. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führt zur Zulas-
sung der Revision unter gleichzeitiger Aufhebung des angefochtenen U r-
teils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht gemäß
§ 544 Abs. 7 ZPO. Dieses hat den Anspruch der Beklagten auf Gewä h-
rung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserhebli-
cher Weise verletzt, weil es deren Antrag auf Vernehmung des Zeugen
T. übergangen hat.
1. Die Beklagte hat unter anderem eingewandt, sie sei leistungs-
frei, weil die Versicherungsnehmerin den Versicherungsfall vorsätzlich
herbeigeführt habe. Insoweit ist entscheidend, inwieweit der Versich e-
rungsnehmerin das Verhalten des Zeugen Adnan P. zugerechnet
werden kann. Die Beklagte hat sich insoweit das wesentliche Ermit t-
lungsergebnis aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Duisburg
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(122 Js 16/08) als Vortrag zu Eigen gemacht. Danach soll, obwohl offizi-
ell der Zeuge T. und die damalige Freundin und jetzige Ehefrau
des Zeugen Adnan P. zu Geschäftsführern der Versicherungsnehme-
rin berufen worden waren, in Wahrheit der Zeuge Adnan P . als fakti-
scher Geschäftsführer für die Versicherungsnehmerin verantwortlich g e-
wesen sein. Auf Antrag der Beklagten hat das Berufungsgericht deshalb
mit Beschluss vom 12. September 2011 unter anderem die Vernehmung
des Zeugen T. angeordnet und im Wege der Rechtshilfe seine La-
dung an seinem niederländischen Wohnsitz veranlasst.
2. Von der Vernehmung des Zeugen, auf dessen Aussage es nach
der Lösung des Berufungsgerichts ankam, durfte es nicht absehen. Sie
ist nur deshalb unterblieben, weil der Zeuge trotz ordnungsgemäßer L a-
dung ohne Angabe von Gründen nicht vor Gericht erschienen ist. Zu U n-
recht hat das Berufungsgericht den Zeugen schon deshalb als une r-
reichbar angesehen. Zwar findet die Vorschrift des § 244 Abs. 3 Satz 2
StPO im Zivilprozessrecht entsprechende Anwendung (Se natsbeschlüs-
se vom 21. September 2011 - IV ZR 38/09, VersR 2011, 1563 Rn. 16;
vom 12. September 2012 - IV ZR 177/11, NJW -RR 2013, 9 Rn. 14, je-
weils m.w.N.), jedoch sind an die Annahme der Unerreichbarkeit eines
Zeugen strenge Anforderungen zu stellen. Die Ablehnung eines Beweis-
antrags wegen Unerreichbarkeit des Zeugen ist nur dann gerechtfertigt,
wenn das Gericht unter Beachtung seiner Aufklärungspflicht alle der B e-
deutung des Zeugnisses entsprechenden Bemühungen zur Beibringung
des Zeugen vergeblich entfaltet hat und keine begründete Aussicht b e-
steht, das Beweismittel in absehbarer Zeit beizubringen (vgl. BGH, Urteil
vom 3. Mai 2006 - XII ZR 195/03, BGHZ 168, 79 Rn. 25 m.w.N.). Diese
Voraussetzungen sind nicht gegeben, wenn das Gericht - wie hier - seine
Nachforschungen auf die Verfügbarkeit des Zeugen am Terminstag e be-
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schränkt hat und nicht der Frage nachgegangen ist, ob er in absehbarer
Zeit vernommen werden kann (BGH aaO). Hier hat sich das Berufungs-
gericht nicht einmal bemüht, herauszufinden, ob dem Nichterscheinen
des Zeugen eine grundsätzliche Weigerung, vor Gericht auszusagen,
zugrunde lag oder lediglich eine sonstige Verhinderung. Im Übrigen hat
es nicht geprüft, ob der Zeuge außerhalb der Gerichtsstelle im Wege der
Bild- und Tonübertragung (§ 128a Abs. 2 ZPO) oder auch durch die Mit-
glieder des Prozessgerichts in den Niederlanden hätte vernommen we r-
den können (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juli 2010 - V ZR 238/09, juris
Rn. 7). Insbesondere die von § 363 Abs. 3 ZPO i.V.m. Art. 17 der Ver-
ordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 (ABl. EG Nr. L
174 S. 1) eröffnete Möglichkeit einer unmittelbaren Zeugenvernehmung
in den Niederlanden hat es ersichtlich nicht in E rwägung gezogen.
IV. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden. Soweit
sich die Beklagte gegen die Bejahung des Feststellungsinteresses der
Klägerin wendet und sich nach § 12 Abs. 3 VVG a.F. für leistungsfrei
hält, greifen ihre Rügen nicht durch. Für die neue Verhandlung weist der
Senat auf Folgendes hin:
Bei der Frage, inwieweit das Verhalten des Zeugen Adnan P .
der Versicherungsnehmerin im Rahmen des § 152 VVG a.F. oder des
§ 123 BGB zuzurechnen ist, muss zwischen einer Organhaf tung nach
den §§ 31, 89 BGB (vgl. dazu OLG Köln VersR 1995, 205; MünchKomm-
VVG/Wandt, § 28 Rn. 99) und einer Repräsentantenhaftung unterschi e-
den werden.
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Juristische Personen - wie die Versicherungsnehmerin - handeln
durch ihre Organe. Deren rechtsgeschäftliches Verhalten ist mithin un-
mittelbar als Verhalten der juristischen Person selbst zu werten. Eine
solche Organhaftung kommt auch dann in Betracht, wenn einer natürli-
chen Person durch die allgemeine Betriebsregelung und Handhabung
bedeutsame und der juristischen Person wesensmäßige Funktionen zur
selbständigen eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass
die juristische Person insoweit durch ein faktisches Organ vertreten wird
(BGH, Urteil vom 30. Oktober 1967 - VII ZR 82/65, BGHZ 49, 19 unter 1
a; vgl. auch Urteil vom 11. Juli 2005 - II ZR 235/03, WM 2005, 1706 un-
ter I 1). Nicht erforderlich ist es insoweit, dass die Tätigkeit in der Sa t-
zung der juristischen Person vorgesehen oder die betreffende natürliche
Person ordnungsgemäß mit rechtsgeschäftlicher Vertretungsmacht aus-
gestattet ist. Ihr Aufgabenbereich braucht sich auch nicht innerhalb der
geschäftsführenden Verwaltungstätigkeit der juristischen Person zu b e-
wegen (BGH aaO). Der Annahme, eine Person sei faktischer Geschäft s-
führer einer juristischen Person, steht es nicht notwendigerweise entg e-
gen, wenn für die juristische Person daneben formell weitere Geschäft s-
führer bestellt sind.
Repräsentant ist, wer in dem Geschäftsbereich, zu dem das versi-
cherte Risiko gehört, aufgrund eines Vertretungs- oder ähnlichen Ver-
hältnisses an die Stelle des Versicherungsnehmers getreten ist. Repr ä-
sentant kann zum einen sein, wer befugt ist, selbständig in einem gewis-
sen, nicht ganz unbedeutenden Umfang für den Versicherungsnehmer zu
handeln (Risikoverwaltung). Übt jemand aufgrund eines Vertretungs-
oder ähnlichen Verhältnisses die Verwaltung des Versicherungsvertrages
eigenverantwortlich aus, kann dies zum anderen unabhängig von einer
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Risikoverwaltung für seine Repräsentantenstellung (Vertragsverwaltung)
sprechen (vgl. Senatsurteil vom 21. April 1993 - IV ZR 34/92, BGHZ 122,
250 unter 3 a und ständig).
Unter den genannten Aspekten wird das Berufungsgericht die Fr a-
ge der Zurechnung des Verhaltens des Zeugen Adnan P . neu zu prü-
fen haben. Dabei wird insbesondere auch danach zu fragen sein, ob und
inwieweit die Klägerin die auf die vorgenannte Anklageschrift gestützten
Behauptungen der Beklagten zur Rolle des Zeugen P . bei der Versi-
cherungsnehmerin ausreichend substantiiert bestritten hat, eine Beweis-
aufnahme mithin überhaupt erforderlich sein wird.
Mayen Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Vorinstanzen:
LG München I, Entscheidung vom 15.04.2010 - 16 HKO 24467/09 -
OLG München, Entscheidung vom 29.02.2012 - 7 U 2903/10 -
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