Urteil des BGH vom 22.01.2013
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 175/11
Verkündet am:
22. Januar 2013
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
SGB VII § 106 Abs. 3 Fall 3, § 108 Abs. 1
a) Zum Vorliegen der "Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der
konkreten Unfallsituation" als Voraussetzung einer gemeinsamen Betriebs-
stätte.
b) Eine Bindung gemäß § 108 Abs. 1 SGB VII besteht nicht hinsichtlich der
Frage, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt.
BGH, Urteil vom 22. Januar 2013 - VI ZR 175/11 - OLG Jena
LG Meiningen
- 2 -
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. Januar 2013 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Well-
ner, Pauge und Stöhr und die Richterin von Pentz
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 7. Zivilsenats des
Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 25. Mai 2011 aufgeho-
ben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 2. Zivilkammer
des Landgerichts Meiningen vom 24. August 2010 wird zurückge-
wiesen.
Die Kosten der Rechtsmittelverfahren tragen die Beklagten.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin macht als Berufsgenossenschaft und zuständiger Unfallver-
sicherer für das Unternehmen G. Bau GmbH & Co. KG Schadensersatzansprü-
che aus einem Unfall des bei ihr versicherten und bei dem vorgenannten Unter-
nehmen beschäftigten Geschädigten geltend.
Die G. Bau GmbH & Co. KG war damit beauftragt, Straßenbauarbeiten
auf einer Baustelle am Ende der Straße "Zum Sand" durchzuführen. Der Ge-
schädigte führte am Unfalltag Teer- und Asphaltierarbeiten durch. Der Beklagte
1
2
- 3 -
zu 2 ist bei der Beklagten zu 1 beschäftigt. Er hatte den Auftrag, benötigtes
Füllgut mit einem bei der Beklagten zu 3 haftpflichtversicherten Lkw anzuliefern,
dessen Halterin die Beklagte zu 1 war.
Der Beklagte zu 2 fuhr mit dem mit Bitumen und Teer beladenen Lkw
rückwärts in die Straße "Zum Sand" ein. Das Ladegut sollte auf der am Ende
der Straße gelegenen Baustelle abgeliefert werden. Dazu setzte der Beklagte
zu 2 mehrere hundert Meter auf der schmalen Straße zurück, ohne sich eines
Einweisers zu bedienen. Dabei übersah er zwei am rechten Fahrbahnrand ge-
parkte Lkw und fuhr auf den einen auf, der gegen den dahinter abgestellten Lkw
geschoben wurde. Zwischen diesen beiden Lkw stand der Geschädigte. Er
wurde eingequetscht und erlitt schwere Verletzungen.
Die Klägerin begehrt Ersatz der für den Geschädigten erbrachten Auf-
wendungen und Feststellung, dass die Beklagten als Gesamtschuldner ver-
pflichtet sind, die weiter entstandenen und zukünftig entstehenden Aufwendun-
gen aus dem Arbeitsunfall zu ersetzen.
Das Landgericht hat der Klage weitgehend stattgegeben. Auf die Beru-
fung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit der
vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre An-
sprüche weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist die Haftung der Beklagten
nach § 106 Abs. 3, § 104 Abs. 1 Satz 1, § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen,
3
4
5
6
- 4 -
weil sich der Unfall entgegen der Ansicht des Landgerichts auf einer gemein-
samen Betriebsstätte ereignet habe. Eine gemeinsame Betriebsstätte verlange
ein aufeinander bezogenes Zusammenwirken der beteiligten Arbeiter in der
konkreten Unfallsituation. Ein "Miteinander" in diesem Sinne könne auch still-
schweigend aufeinander bezogen sein. Eine "Aufeinanderbezogenheit" liege
auch dann vor, wenn sich die Arbeiter "ablaufbedingt in die Quere" kommen
könnten, aber stillschweigend aus dem Weg gingen, weil einer von ihnen vor-
beifahren wolle. Diese Voraussetzung liege vor. Der Geschädigte sei beiseite-
getreten, um den rückwärtsfahrenden Lkw vorbeifahren zu lassen. Dies stelle
ein stillschweigend aufeinander abgestimmtes Verhalten dar und reiche für die
Bejahung einer gemeinsamen Betriebsstätte in der konkreten Unfallsituation
aus.
Darüber hinaus sei eine Haftungsprivilegierung der Beklagten bereits
deshalb anzunehmen, weil unstreitig sozialrechtlich ein "Betriebsunfall" aner-
kannt worden sei. Daran seien die Zivilgerichte nach § 108 SGB VII gebunden.
Ein Anspruch der Klägerin aus § 110 Abs. 1 SGB VII sei ebenfalls nicht
gegeben, weil eine grobe Fahrlässigkeit des Beklagten zu 2 nicht vorliege.
II.
Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand. Das Landgericht hat der Klägerin zu Recht gemäß § 116 Abs. 1 SGB X,
§ 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB in Verbin-
dung mit § 9 Abs. 5 StVO den geltend gemachten Anspruch im Umfang der Te-
norierung zugesprochen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt
keine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebs-
7
8
9
- 5 -
stätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII vor, welche eine Haftungsprivi-
legierung nach §§ 104, 105 SGB VII oder nach den Grundsätzen des gestörten
Gesamtschuldverhältnisses rechtfertigen könnte.
1. Nach der gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senats er-
fasst der Begriff der "gemeinsamen Betriebsstätte" betriebliche Aktivitäten von
Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen
Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder
unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung still-
schweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinan-
der im Betriebsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezo-
genes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Tä-
tigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten aufei-
nander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder
Unterstützung ausgerichtet sein (vgl. Senatsurteile vom 17. Oktober 2000 -
VI ZR 67/00, BGHZ 145, 331, 336; vom 24. Juni 2003 - VI ZR 434/01, BGHZ
155, 205, 207 f.; vom 16. Dezember 2003 - VI ZR 103/03, BGHZ 157, 213,
216 f.; vom 17. Juni 2008 - VI ZR 257/06, BGHZ 177, 97 Rn. 19; vom
1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, VersR 2011, 500 Rn. 7; vom 10. Mai 2011
- VI ZR 152/10, VersR 2011, 882 Rn. 12). § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII ist nicht
schon dann anwendbar, wenn Versicherte zweier Unternehmen auf derselben
Betriebsstätte aufeinander treffen. Eine "gemeinsame" Betriebsstätte ist nach
allgemeinem Verständnis mehr als "dieselbe" Betriebsstätte; das bloße Zu-
sammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen erfüllt den Tatbe-
stand der Norm nicht. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebenei-
nander vollziehen, genügen ebensowenig wie eine bloße Arbeitsberührung.
Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als
solchen in der konkreten Unfallsituation, die eine Bewertung als "gemeinsame"
Betriebsstätte rechtfertigt (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 2001 - VI ZR
10
- 6 -
70/00, VersR 2001, 372, 373; vom 14. September 2004 - VI ZR 32/04, VersR
2004, 1604 f.; vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, VersR 2010, 1190 Rn. 14; vom
1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, aaO; vom 10. Mai 2011 - VI ZR 152/10, aaO;
vom 11. Oktober 2011 - VI ZR 248/10, VersR 2011, 1567 Rn. 9).
2. Zwar legt das Berufungsgericht der Prüfung die zutreffende Definition
der gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII zu-
grunde. Es gibt auch zutreffend die Merkmale wieder, die nach ständiger
Rechtsprechung des erkennenden Senats für die "gemeinsame" Betriebsstätte
prägend sind. Das Berufungsgericht lässt aber außer Betracht, dass im Streitfall
die Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsi-
tuation fehlt, die die "gemeinsame Betriebsstätte" entscheidend kennzeichnet.
Die Beurteilung, ob in einer Unfallsituation eine "gemeinsame" Betriebsstätte
vorlag, muss sich auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen und knüpft daran an,
dass eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der
konkreten Unfallsituation gegeben ist (Senatsurteile vom 10. Mai 2011 - VI ZR
152/10, aaO, Rn. 12, 15 f.; vom 11. Oktober 2011 - VI ZR 248/10, aaO mwN).
Eine solche Verbindung zwischen den Tätigkeiten des Geschädigten, der
Teer- und Asphaltierarbeiten durchführte, und der Tätigkeit des Beklagten zu 2,
welcher das dafür erforderliche Füllmaterial anlieferte, läge zwar vor, wenn sich
der Unfall entsprechend dem nach den Ausführungen der Beklagten üblichen
Arbeitsablauf bei den Abladevorgängen am "Fertiger" an der Baustelle selbst
zugetragen hätte. Unstreitig befand sich der Geschädigte zum Zeitpunkt des
streitgegenständlichen Unfalls aber nicht an der Stelle, wo an dem "Fertiger"
gearbeitet wurde, bzw. bei dem Bagger, wo der Abladevorgang stattfinden soll-
te. Er hatte sich vielmehr von dieser Stelle wegbegeben und war im Zeitpunkt
des Unfalls wieder auf dem Rückweg zur Baustelle, als er zwischen den ge-
parkten Fahrzeugen eingequetscht wurde.
11
12
- 7 -
Das Berufungsgericht hat für die "gewisse Verbindung zwischen den Tä-
tigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation" alleine darauf abgestellt,
dass der Geschädigte beiseitegetreten ist, um den rückwärtsfahrenden Lkw, an
dessen Steuer der Beklagte zu 2 saß, vorbeifahren zu lassen. Dies stelle ein
stillschweigend aufeinander abgestimmtes Verhalten dar und reiche für die Be-
jahung einer gemeinsamen Betriebsstätte in der konkreten Unfallsituation aus.
Dies trifft indes nicht zu. Zwar kann die notwendige Arbeitsverknüpfung im Ein-
zelfall auch dann bestehen, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Un-
ternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich nicht sachlich ergänzen und
unterstützen, die gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der
räumlichen Nähe aber eine Verständigung über den Arbeitsablauf erfordert und
hierzu konkrete Absprachen getroffen werden. Das ist etwa dann der Fall, wenn
ein zeitliches und örtliches Nebeneinander dieser Tätigkeiten nur bei Einhaltung
von besonderen beiderseitigen Vorsichtsmaßnahmen möglich ist und die Betei-
ligten solche vereinbaren (vgl. Senatsurteil vom 11. Oktober 2011 - VI ZR
248/10, aaO, Rn. 11 mwN). Eine solche Verständigung ergibt sich aber aus den
Feststellungen des Berufungsgerichts und dem Beklagtenvortrag nicht. Zwar
haben die Beklagten auch vorgetragen, der Geschädigte habe die Annäherung
des Lkw an den Abladeort und den Abladevorgang beobachten und ggf. durch
Anweisungen Hilfe leisten wollen. Dass er in der konkreten Unfallsituation inso-
weit tätig war oder eine Verständigung mit dem Beklagten zu 2 stattgefunden
hat, ist aber weder festgestellt noch von den Beklagten vorgetragen. Vielmehr
wird mit dem "Ausweichen" des Geschädigten vor dem herannahenden Lkw nur
ein Verhalten aufgezeigt, das nicht über dasjenige hinausgeht, was von jedem
anderen Passanten zu erwarten war. Ein bewusstes Miteinander in einem Ar-
beitsablauf oder ein zumindest tatsächlich aufeinander bezogenes Zusammen-
wirken zwischen dem Geschädigten und dem Beklagten zu 2 lässt sich daraus
nicht ableiten. Insofern bestand auch nicht die für eine gemeinsame Betriebs-
13
- 8 -
stätte typische Gefahr, dass sich die Beteiligten bei den versicherten Tätigkei-
ten "ablaufbedingt in die Quere kommen", welche den Haftungsausschluss
nach § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII rechtfertigt. Eine Gefahrengemeinschaft ist
dadurch gekennzeichnet, dass typischerweise jeder der (in enger Berührung
miteinander) Tätigen gleichermaßen zum Schädiger und Geschädigten werden
kann (vgl. dazu Senatsurteil vom 16. Dezember 2003 - VI ZR 103/03, aaO,
217 ff.). Dies war hier nicht der Fall.
3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist eine Haftungspri-
vilegierung der Beklagten auch nicht deshalb anzunehmen, weil unstreitig sozi-
alrechtlich ein "Betriebsunfall" anerkannt worden ist. Eine Bindung gemäß § 108
Abs. 1 SGB VII an unanfechtbare Entscheidungen der Unfallversicherungsträ-
ger und der Sozialgerichte besteht nicht, wenn es nach Anerkennung eines Ar-
beitsunfalls durch die Berufsgenossenschaft nur noch um die Frage geht, ob
der in Anspruch genommene Schädiger wegen des Vorliegens einer gemein-
samen Betriebsstätte haftungsprivilegiert ist, oder wenn das Vorliegen einer
gemeinsamen Betriebsstätte zu verneinen ist (vgl. OLG Hamm VersR 2000,
602; OLG Oldenburg, OLGR 2001, 162; KassKomm/Ricke, SGB VII § 108
Rn. 7a (Stand: Dezember 2011); Stöhr, VersR 2004, 809, 817).
4. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist das Berufungsurteil auf-
zuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts
zurückzuweisen. Der erkennende Senat kann in der Sache selbst entscheiden,
weil die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung
des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem
die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Ein erheblicher
neuer Tatsachenvortrag ist nicht zu erwarten. Die Beklagten haben das landge-
richtliche Urteil nur hinsichtlich der Verneinung einer gemeinsamen Betriebs-
stätte und eines Mitverschuldens des Geschädigten angegriffen. Auch hinsicht-
14
15
- 9 -
lich der Ausführungen zum Mitverschulden ist ein Rechtsfehler des Landge-
richts indes nicht ersichtlich, auf dessen tatsächliche Feststellungen und Ent-
scheidungsgründe im angefochtenen Urteil das Berufungsgericht Bezug ge-
nommen hat.
Galke
Wellner
Pauge
Stöhr
von Pentz
Vorinstanzen:
LG Meiningen, Entscheidung vom 24.08.2010 - 2 O 517/10 -
OLG Jena, Entscheidung vom 25.05.2011 - 7 U 774/10 -