Urteil des BGH vom 04.11.2004
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 361/03
Verkündet am:
4. November 2004
F r e i t a g
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
BGB § 839 Fi; GG Art. 1
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen einem Strafgefangenen ein An-
spruch auf Entschädigung in Geld wegen menschenunwürdiger Unterbrin-
gung in der Justizvollzugsanstalt zustehen kann.
BGH, Urteil vom 4. November 2004 - III ZR 361/03 - OLG Celle
LG Hannover
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 23. September 2004 durch den Vorsitzenden Richter Schlick und die Rich-
ter Dr. Wurm, Dr. Kapsa, Dörr und Galke
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 16. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Celle vom 2. Dezember 2003 wird zurückge-
wiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger verbüßte eine Freiheitsstrafe in der JVA Amberg. Am 3. Juli
2002 wurde er für eine Besuchszusammenführung in die JVA Bielefeld-Brack-
wede 1 verlegt. Vom 10. bis 12. Juli 2002 befand er sich als sogenannter
Durchgangsgefangener in der Transportabteilung der JVA Hannover. Er war in
einem 16 qm großen Haftraum mit vier weiteren Gefangenen untergebracht.
Der Raum war mit einem Etagenbett, drei Einzelbetten, fünf Stühlen, zwei
Tischen und zwei Spinden ausgestattet. Ein Waschbecken und eine Toilette
waren mit einem Sichtschutz abgetrennt. Die Inhaftierten durften den Haftraum
täglich für eine Stunde zum Hofgang verlassen.
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Auf Antrag des Klägers stellte die Strafvollstreckungskammer des Land-
gerichts Hannover mit Beschluß vom 16. September 2002 die Rechtswidrigkeit
der Unterbringung fest. Die gemeinsame Unterbringung von fünf Gefangenen
in einem nachts verschlossenen, 16 qm großen Haftraum bei Abtrennung der
Toilette nur mit einem Sichtschutz sei unzulässig und verstoße gegen das Ge-
bot menschenwürdiger Unterbringung.
Im vorliegenden Amtshaftungsprozeß nimmt der Kläger das beklagte
Land auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung (mindestens 200 €) in
Anspruch. Das Landgericht (StV 2003, 568 mit Anm. Lesting) hat ihm 200 €
nebst Zinsen zugesprochen; das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sei-
nen Anspruch weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision ist nicht begründet.
1.
Beide Vorinstanzen haben festgestellt, daß die Unterbringung des Klä-
gers gemeinsam mit vier weiteren Gefangenen in dem viel zu kleinen Haftraum
rechtswidrig gewesen ist sowie gegen das Gebot der menschenwürdigen Be-
handlung Strafgefangener verstieß und daß die zuständigen Amtsträger des
beklagten Landes dadurch eine schuldhafte Amtspflichtverletzung gegenüber
dem Kläger begangen haben.
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a) Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, daß die rechtskräf-
tige Entscheidung der Strafvollstreckungskammer im Verfahren nach § 109
StVollzG, die die Rechtswidrigkeit der Unterbringung des Klägers festgestellt
hat, auch für den jetzigen Amtshaftungsprozeß Bindungswirkung entfaltet. Es
gelten insoweit die gleichen Grundsätze, die der Senat für die Bindungswir-
kung einer im Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG ergangenen Entscheidung des
Strafsenats eines Oberlandesgerichts entwickelt hat (Senatsurteil vom
17. März 1994 - III ZR 15/93 = NJW 1994, 1950; s. auch Staudinger/Wurm,
BGB 13. Bearb. [2002] § 839 Rn. 439, 440).
b) Die tatrichterliche Würdigung, daß durch die Art und Weise der Un-
terbringung die Menschenwürde der betreffenden Strafgefangenen verletzt
wurde, läßt Rechtsfehler nicht erkennen und wird auch von der Revisionserwi-
derung des beklagten Landes nicht angegriffen.
c) Ebenso ist den Vorinstanzen darin zu folgen, daß die Amtsträger des
beklagten Landes auch ein Verschulden trifft. Dabei ist nicht nur auf die an Ort
und Stelle zuständigen Justizbediensteten abzustellen, sondern auch darauf,
daß das beklagte Land sich nach seinem Sachvortrag in einer Notsituation be-
fand, weil die Transportabteilung der Justizvollzugsanstalt in dem hier interes-
sierenden Zeitraum mit mehr als 90 Gefangenen belegt war, obwohl sie nur
über 47 Einzelhafträume (inkl. vier Sicherheitszellen) und zehn Gemein-
schaftshafträume verfügte. Das Berufungsgericht hat mit Recht darauf
hingewiesen,
daß
der
danach
bestehende
erhebliche
Mangel
an
Einzelhaftplätzen keinen hinreichenden Grund dafür darstellt, geltendes Recht
zu
unterlaufen.
Insoweit
ist
zumindest
der
Vorwurf
eines
Organisationsverschuldens begründet, das dem beklagten Land auch dann
zuzurechnen ist, wenn die tätig gewordenen Beamten selbst subjektiv nach
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Beamten selbst subjektiv nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben
(Staudinger/Wurm aaO Rn. 228).
2.
Das Berufungsgericht läßt jedoch - im Gegensatz zum Landgericht - den
hieraus hergeleiteten Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG)
daran scheitern, daß unter den hier vorliegenden besonderen Umständen des
Falles die Zuerkennung einer Entschädigung für die zweitägige Unterbringung
in dem gemeinschaftlichen Haftraum aus Gründen der Billigkeit weder unter
dem Gesichtspunkt der Ausgleichs- noch der Genugtuungsfunktion geboten
sei. Hiergegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.
a) Der geltend gemachte Schaden des Klägers ist einerseits kein Ver-
mögensschaden, andererseits jedoch auch kein (bloßes) Schmerzensgeld im
Sinne des hier noch anwendbaren § 847 BGB a.F. Es geht vielmehr um den
Ausgleich einer Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) und
des aus Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG hergeleiteten allgemeinen Persönlichkeits-
rechts des Klägers. Für die Entschädigung wegen einer Verletzung des allge-
meinen Persönlichkeitsrechts ist anerkannt, daß es sich im eigentlichen Sinne
nicht um ein Schmerzensgeld nach § 847 BGB a.F. (jetzt: § 253 Abs. 2 BGB
n.F.) handelt, sondern um einen Rechtsbehelf, der auf den Schutzauftrag aus
Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zurückgeht. Die Zubilligung einer Geldentschädi-
gung beruht auf dem Gedanken, daß ohne einen solchen Anspruch Verletzun-
gen der Würde und Ehre des Menschen häufig ohne Sanktionen blieben mit
der Folge, daß der Rechtsschutz der Persönlichkeit verkümmern würde. An-
ders als beim Schmerzensgeldanspruch steht bei dem Anspruch auf eine
Geldentschädigung wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeits-
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rechts der Gesichtspunkt der Genugtuung des Opfers im Vordergrund (BGHZ
128, 1, 15 m.w.N.; BVerfG NJW 2000, 2187 f).
b) Die Revision rügt, das Berufungsgericht verkenne mit seinen Erwä-
gungen, daß die von Verfassungs wegen unantastbare Menschenwürde einer
Abwägung mit anderen Interessen oder Verfassungswerten nicht zugänglich
sei. Die Würde des Menschen sei nach Art. 1 Abs. 1 GG unantastbar und ab-
solut geschützt. Die Berücksichtigung der Dauer und der Intensität des Eingriffs
in Art. 1 Abs. 1 GG führe im Ergebnis zur Aufgabe des Grundrechtsschutzes
und zur Preisgabe der Würde des Menschen. Sie würde bedeuten, daß kurze,
wenig intensive Eingriffe zulässig seien.
Damit verkennt die Revision, daß zwischen der Feststellung einer Ver-
letzung des Art. 1 Abs. 1 GG einerseits und der Zuerkennung einer Geldent-
schädigung andererseits kein zwingendes Junktim besteht.
aa) Zwar trifft es zu, daß dem Recht auf Achtung der Menschenwürde in
der Verfassung ein Höchstwert zukommt; es ist das tragende Konstitutionsprin-
zip im System der Grundrechte. Dementsprechend ist in der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, daß dann, wenn das Recht eines
Strafgefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde durch menschenunwür-
dige Unterbringung verletzt wird, die Zulässigkeit eines Rechtsschutzbegeh-
rens auf nachträgliche gerichtliche Überprüfung der Unterbringung nicht davon
abhängen kann, ob dies nur vorübergehend geschehen war (BVerfG NJW
2002, 2699 f; 2002, 2700 f; 1993, 3190 f). Dem Gefangenen muß das Recht
zustehen, diese Rechtsverletzungen mit den dafür vorgesehenen Rechtsbehel-
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fen des Strafvollzugsgesetzes (§§ 108 ff) anzugreifen. Diesen Weg hat der
Kläger hier auch erfolgreich beschritten.
bb) Die solchermaßen festgestellte Menschenrechtsverletzung fordert
indessen nicht in jedem Fall eine zusätzliche Wiedergutmachung durch Geld-
entschädigung. Der Senat sieht vielmehr keine durchgreifenden Bedenken da-
gegen, einen Anspruch auf Geldentschädigung von dem weiteren Erfordernis
abhängig zu machen, daß die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befrie-
digend ausgeglichen werden kann. Dies hängt - insoweit nicht anders als beim
allgemeinen Persönlichkeitsrecht, auch wenn die Erheblichkeitsschwelle bei
Verletzungen der Menschenwürde generell niedriger anzusetzen ist - insbe-
sondere von der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, ferner von Anlaß und
Beweggrund des Handelnden sowie von dem Grad seines Verschuldens ab
(BGHZ 128, 1, 12).
cc) Auch im Anwendungsbereich der Konvention zum Schutze der Men-
schenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ist anerkannt, daß eine - eine Wie-
dergutmachung durch Geldersatz nach Art. 41 EMRK fordernde - unmenschli-
che oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nur und erst
vorliegt, wenn sie ein Mindestmaß an Schwere erreicht. Die Beurteilung dieses
Mindestmaßes ist abhängig von den Umständen des Einzelfalls, wie beispiels-
weise der Dauer der Behandlung, ihren physischen oder psychischen Folgen
oder von Geschlecht, Alter oder Gesundheitszustand des Opfers (EGMR, Urteil
vom 16. Dezember 1997 [Raninen ./. Finnland], ÖIM Newsletter [NL] 1998/1/7;
Urteil vom 19. April 2001 [Peers ./. Griechenland], Nr. 28524/95 Slg. 2001
Sec. III, 277 f, 294 ff Rn. 67-79; vgl. auch EKMR in der Sache Brincat ./. Italien,
Beschwerde Nr. 13867/88; mitgeteilt von Strasser, EuGRZ 1993, 425, 426). Im
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übrigen kann auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte ein dem Anliegen des Rechtsmittelführers Rechnung tra-
gendes Urteil selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung darstellen, so
daß eine weitergehende Entschädigung in Geld für den erlittenen immateriellen
Schaden nicht mehr geboten ist (vgl. Nikolova ./. Bulgarien, Urteil vom 25. März
1999, NL 1999/2/8).
c) Das Berufungsgericht führt aus, die räumlichen Verhältnisse, unter
denen der Kläger untergebracht gewesen sei, seien zwar menschenunwürdig
(Art. 1 GG) gewesen. Jedoch mache der Kläger selbst nicht geltend, daß der
- nur zwei Tage andauernde - rechtswidrige Zustand ihn seelisch oder körper-
lich nachhaltig belastet habe. Vielmehr habe der Kläger über die mit den räum-
lichen Verhältnissen unvermeidlich verbundenen Belästigungen und Unan-
nehmlichkeiten hinaus keine Beeinträchtigungen seines körperlichen oder see-
lischen Wohles erlitten. Dem Mißstand habe zudem keine schikanöse Absicht,
sondern eine akute, aus der Überbelegung resultierende Zwangslage zugrunde
gelegen. Eingriffsintensität und Verschulden seien insgesamt als gering zu be-
werten. Zudem habe der Kläger bereits durch die von der Strafvollstreckungs-
kammer getroffene Feststellung der Rechtswidrigkeit Schutz und Genugtuung
erfahren.
d) Diese Feststellungen sind weder nach ihrem Inhalt noch nach den
ihnen zugrundeliegenden Beurteilungskriterien - in die das Berufungsgericht
auch das Organisationsverschulden des beklagten Landes (s.o. 1. b) einbezo-
gen hat - revisionsrechtlich zu beanstanden. Die Revision setzt bei ihrer abwei-
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chenden Beurteilung lediglich in unzulässiger Weise ihre eigene Wertung an
die Stelle derjenigen des Berufungsgerichts, ohne Verfahrens- oder materielle
Rechtsfehler aufzeigen zu können.
Schlick
Wurm
Kapsa
Dörr
Galke