Urteil des BGH vom 12.04.2007
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VII ZB 98/06
vom
12. April 2007
in dem Rechtsbeschwerdeverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHZ ja
RVG § 2 Abs. 2, Anlage 1, Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 5; BRAGO § 31 Abs. 1 Nr. 1,
§ 37 Nr. 3
Ist der Auftrag für das selbständige Beweisverfahren unter Geltung der Bundes-
rechtsanwaltsgebührenordnung erteilt worden, der Auftrag für das Hauptsachever-
fahren unter Geltung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes, ist die Prozessgebühr
aus dem selbständigen Beweisverfahren auf die Verfahrensgebühr des Hauptsache-
verfahrens anzurechnen.
BGH, Beschluss vom 12. April 2007 - VII ZB 98/06 - OLG Stuttgart
LG Ravensburg
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Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. April 2007 durch den
Vorsitzenden Richter Dr.
Dressler, die Richter Dr. Wiebel, Dr.
Kuffer,
Prof. Dr. Kniffka und die Richterin Safari Chabestari
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des
8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. September
2006 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als hinsichtlich der
Verfahrensgebühr des Hauptsacheverfahrens zum Nachteil der
Klägerin entschieden worden ist.
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Die Klägerin hat nach Durchführung eines im September 2003 beantrag-
ten selbständigen Beweisverfahrens, dessen Streitwert auf 78.782,56 € festge-
setzt wurde, mit am 19. April 2005 eingereichter Klage mit Zahlungs- und Fest-
stellungsanträgen Schadensersatzansprüche wegen Baumängeln mit einem
Gesamtstreitwert von 28.250 € gegen die Beklagte als Bauträgerin geltend ge-
macht.
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Das Landgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben. Die Kosten
des Rechtsstreits hat es der Beklagten auferlegt mit Ausnahme der Kosten des
Beweisverfahrens, die die Klägerin zu tragen hat.
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Die Rechtspflegerin hat im Kostenausgleichsverfahren die von der Kläge-
rin geltend gemachte 1,3 Verfahrensgebühr nach RVG VV Nr. 3100 in Höhe
von 945,40 € als nicht erstattungsfähig angesehen, weil darauf die im selbstän-
digen Beweisverfahren erwachsene Prozessgebühr von 1.200 € anzurechnen
sei. Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde hatte keinen Erfolg. Mit der
zugelassenen Rechtsbeschwerde erstrebt die Klägerin weiterhin die Berück-
sichtigung der Verfahrensgebühr im Rahmen des Kostenausgleichs.
II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und
auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg. Sie führt
zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und zur Zurückverweisung an
das Beschwerdegericht.
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1. Das Beschwerdegericht führt aus, die im selbständigen Beweisverfah-
ren nach der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung angefallene Prozessge-
bühr sei zu Recht auf die nach RVG VV Nr. 3100 im Hauptsacheverfahren an-
gefallene 1,3 Verfahrensgebühr angerechnet worden. Das selbständige Be-
weisverfahren und das Hauptsacheverfahren seien nach dem Rechtsanwalts-
vergütungsgesetz zwei verschiedene Verfahren und somit zwei Angelegenhei-
ten. Wenn der Auftrag für das selbständige Beweisverfahren noch unter Gel-
tung des alten Rechts erteilt worden sei, der Auftrag für das Hauptsacheverfah-
ren aber unter der Geltung des neuen Rechts, sei streitig, ob insgesamt die
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Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung Anwendung finde oder ob auf den je-
weiligen Zeitpunkt der Auftragserteilung abzustellen sei, mit der Folge, dass für
das selbständige Beweisverfahren altes Recht Anwendung finde und für das
Hauptsacheverfahren das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. Das Gericht schlie-
ße sich der Ansicht an, die auf den Zeitpunkt des bei der jeweiligen Auftragser-
teilung geltenden Rechts abstelle, dann aber die nach Bundesrechtsanwaltsge-
bührenordnung angefallene 10/10 Prozessgebühr für das selbständige Beweis-
verfahren mit der Verfahrensgebühr nach RVG VV Nr. 3100 für die Hauptsache
verrechne.
2. Die Rechtsbeschwerde teilt die Auffassung, dass das selbständige
Beweisverfahren nach altem Recht, das Hauptsacheverfahren aber nach neu-
em Recht abzurechnen sei. Sie ist jedoch der Meinung, eine Anrechnung der
Gebühren des selbständigen Beweisverfahrens dürfe nur nach Maßgabe der
Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG Vorbemerkung 3 Abs. 5 erfolgen. Auf die Verfah-
rensgebühr des Hauptsacheverfahrens dürfe daher ausschließlich eine im selb-
ständigen Beweisverfahren erwachsene Verfahrensgebühr, nicht aber eine
Prozessgebühr angerechnet werden. Die vom Beschwerdegericht vertretene
abweichende Ansicht habe im Gesetz keine Grundlage und sei interessewidrig.
Jedenfalls habe die Verfahrensgebühr der Klägerin für das Hauptsacheverfah-
ren durch Anrechnung der Prozessgebühr des selbständigen Beweisverfahrens
nicht in vollem Umfang in Wegfall kommen können. Der Gegenstand des selb-
ständigen Beweisverfahrens sei nur teilweise Gegenstand des Hauptsachever-
fahrens. Die Prozessgebühr des selbständigen Beweisverfahrens habe deshalb
allenfalls quotal auf die Verfahrensgebühr der Hauptsache angerechnet werden
dürfen.
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3. Das Beschwerdegericht geht zu Recht davon aus, dass sich die
Rechtsanwaltsvergütung für das selbständige Beweisverfahren nach der Bun-
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desrechtsanwaltsgebührenordnung und diejenige für das Hauptsacheverfahren
nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz richtet. Des weiteren ist auch in ent-
sprechender Anwendung der Vorbemerkung 3 Abs. 5, Teil 3 des Vergütungs-
verzeichnisses zu § 2 Abs. 2 RVG eine Anrechnung der im selbständigen Be-
weisverfahren verdienten Prozessgebühr auf die Verfahrensgebühr des Haupt-
sacheverfahrens vorzunehmen. Das Beschwerdegericht hat jedoch übersehen,
dass eine Anrechnung nur insoweit in Betracht kommt, als der Gegenstand des
Hauptsacheverfahrens mit dem des selbständigen Beweisverfahrens überein-
stimmt.
a) Das Beschwerdegericht legt beanstandungsfrei zugrunde, dass die
Parteien des Rechtsstreits und des selbständigen Beweisverfahrens identisch
sind und in beiden Verfahren auch von denselben Rechtsanwälten vertreten
wurden.
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b) Wie die Anwaltsgebühren zu berechnen sind, wenn der Rechtsanwalt
vor dem Inkrafttreten des Rechtsanwaltsvergütungsgesetz am 1. Juli 2004 mit
der Einleitung des selbständigen Beweisverfahrens beauftragt wurde, der un-
bedingte Prozessauftrag aber erst nach dem 30. Juni 2004 erteilt wurde, ist in
der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten.
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aa) Zum einen wird die Auffassung vertreten, es habe insoweit eine Ge-
bührentrennung zu erfolgen. Das selbständige Beweisverfahren und das nach-
folgende Hauptsacheverfahren seien nicht als dieselbe Angelegenheit im Sinne
des § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG zu werten. Es handele sich, da eine dem § 37
Nr. 3 BRAGO vergleichbare Vorschrift fehle, um zwei verschiedene Angelegen-
heiten, die jeweils nach der zum Zeitpunkt der Auftragserteilung gültigen Ge-
bührenordnung abzurechnen seien. Die Anrechnung der Prozessgebühr auf die
Verfahrensgebühr habe in entsprechender Anwendung der Vorbemerkung 3
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Abs. 5 zu RVG VV Nr. 3100 zu erfolgen (OLG Hamm, Beschluss vom
17.
November 2005, AGS 2006, 62; OLG Koblenz, Beschluss vom
22. Dezember 2005, AGS 2006, 61 = JurBüro 2006, 134; OLG Köln, Beschluss
vom 13. Januar 2006, JurBüro 2006, 256 = AGS 2006, 241; OLG München,
Beschluss vom 25. April 2006, AGS 2006, 345 = AnwBl 2006, 498).
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bb) Nach anderer Ansicht ist die Vergütung des Anwalts bei einer sol-
chen Fallgestaltung ausschließlich nach den Vorschriften der Bundesrechtsan-
waltsgebührenordnung abzurechnen (OLG Zweibrücken, Beschluss vom
21. März 2006, JurBüro 2006, 368 = AnwBl 2006, 499; Brandenburgisches
Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. August 2006, in juris dokumentiert). Dass
die Tätigkeit des Rechtsanwalts im selbständigen Beweisverfahren und in der
Hauptsache nicht auf demselben Auftrag beruhe, sei für die Frage, ob nach der
Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung oder dem Rechtsanwaltsvergütungsge-
setz abzurechnen sei, ohne Bedeutung. § 61 RVG stelle auf den Zeitpunkt des
unbedingten Auftrags zur Erledigung derselben Angelegenheit ab. Der Auftrag
zur Vertretung im selbständigen Beweisverfahren sei ein unbedingter Auftrag,
das selbständige Beweisverfahren dieselbe Angelegenheit wie die nachfolgen-
de Hauptsache.
cc) Die dazu vom Beschwerdegericht vertretene Auffassung ist zutref-
fend.
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(1) Der Ansicht, bei der vorliegenden Fallgestaltung sei ausschließlich
das Gebührenrecht der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung anzuwenden,
könnte nur gefolgt werden, wenn man die Beauftragung des Rechtsanwalts mit
der Vertretung im selbständigen Beweisverfahren und der im nachfolgenden
Hauptsacheverfahren trotz unterschiedlicher Zeitpunkte der Auftragserteilung
als einen Auftrag im Rechtssinne werten könnte. Diese Möglichkeit scheidet
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aus. Den Bestimmungen der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung lässt sich
nicht entnehmen, dass es sich bei der Beauftragung des Rechtsanwalts mit der
Vertretung im selbständigen Beweisverfahren und der erst im Anschluss daran
erfolgenden Mandatierung für das streitige Verfahren um einen Auftrag handelt.
Dass die in beiden Verfahren vorgesehenen Gebühren nicht kumulativ gefordert
werden können, ergibt sich lediglich daraus, dass das selbständige Beweisver-
fahren gemäß § 37 Nr. 3 BRAGO gebührenrechtlich dem Rechtszug des
Hauptsacheverfahrens zugerechnet wird und es sich deshalb gemäß § 13
Abs. 2 Satz 1 BRAGO in beiden Verfahren gebührenrechtlich um dieselbe An-
gelegenheit handelt.
(2) Die Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung ist gemäß § 61 Abs. 1
Satz 1 RVG nach dem 30. Juni 2004 nur weiter anzuwenden, wenn der unbe-
dingte Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit im Sinne des § 15 RVG
vor dem 1. Juli 2004 erteilt worden ist. Das Beschwerdegericht hat angenom-
men, dass der unbedingte Auftrag zur Vertretung der Klägerin im streitigen Ver-
fahren erst nach dem 30. Juni 2004 erteilt worden ist. Dies wird von der
Rechtsbeschwerde nicht beanstandet und ist deshalb der Entscheidung
zugrunde zu legen. Eine Verbindung des selbständigen Beweisverfahrens und
des Hauptsacheverfahrens zu "derselben Angelegenheit" im Sinne des § 15
RVG nimmt das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz nicht vor; eine dem § 37 Nr. 3
BRAGO entsprechende Vorschrift fehlt. Die beiden Verfahren sollen vielmehr
nach dem Willen des Gesetzgebers als unterschiedliche Angelegenheiten be-
handelt werden (BT-Drucks. 15/1971, S. 193).
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c) Das Beschwerdegericht geht zu Recht davon aus, dass in entspre-
chender Anwendung der Vorbemerkung 3 Abs. 5, Teil 3 der Anlage 1 zu § 2
Abs. 2 RVG eine im selbständigen Beweisverfahren verdiente Prozessgebühr
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auf die im Hauptsacheverfahren erwachsene Verfahrensgebühr anzurechnen
ist.
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aa) Gemäß § 48 BRAGO erhielt der im selbständigen Beweisverfahren
tätige Rechtsanwalt für das Betreiben des Geschäfts die in § 31 Abs. 1 Nr. 1
BRAGO aufgeführte Prozessgebühr. Da das selbständige Beweisverfahren
gemäß § 37 Nr. 3 BRAGO zum Rechtszug gehörte, konnte die Prozessgebühr
bei einem nachfolgenden Hauptsacheverfahren gemäß § 13 Abs. 2 BRAGO nur
einmal, und zwar aus dem höheren Streitwert, verdient werden.
bb) Das RVG hat die Vorschrift des § 13 Abs. 2 BRAGO in § 15 Abs. 2
RVG wörtlich übernommen. Es hat jedoch entgegen § 37 Nr. 3 BRAGO das
selbständige Beweisverfahren in § 19 RVG nicht dem Rechtszug zugerechnet.
Vielmehr ist in der Vorbemerkung 3 Abs. 5, Teil 3 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2
RVG bestimmt, dass die Verfahrensgebühr des selbständigen Beweisverfah-
rens auf die Verfahrensgebühr des Rechtszugs angerechnet wird, soweit der
Gegenstand des selbständigen Beweisverfahrens auch Gegenstand des
Rechtsstreits ist oder wird.
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cc) Die Prozessgebühr nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO und die Verfah-
rensgebühr nach der Vorbemerkung 3 Abs. 2, Teil 3 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2
RVG haben denselben Abgeltungsbereich, nämlich "Betreiben des Geschäfts
einschließlich der Information". Es ist daher sach- und interessengerecht, in den
Übergangsfällen, in denen der Auftrag zur Durchführung des selbständigen
Beweisverfahrens noch unter Geltung der Bundesrechtsanwaltsgebührenord-
nung, der Auftrag zur Durchführung des Hauptsacheverfahrens aber erst nach
Inkrafttreten des Rechtsanwaltsvergütungsgesetz erteilt wurde, die im Beweis-
verfahren verdiente Prozessgebühr auf die Verfahrensgebühr des Hauptsache-
verfahrens anzurechen. Ein dem entgegenstehender Wille des Gesetzgebers
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lässt sich weder der Übergangsvorschrift des § 61 RVG noch den Gesetzesma-
terialien (vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 193 und 209) entnehmen.
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dd) Das Beschwerdegericht geht davon aus, dass die Baumängel, die
die Klägerin im Hauptsacheverfahren geltend gemacht hat, auch Gegenstand
des selbständigen Beweisverfahrens waren. Dies ist mangels eines gegenteili-
gen Vortrags dem Rechtsbeschwerdeverfahren zugrunde zu legen. Auf die im
Hauptsacheverfahren erwachsene Verfahrensgebühr ist daher in entsprechen-
der Anwendung des Absatzes 5 der Vorbemerkung 3, Teil 3 der Anlage 1 zu
§ 2 Abs. 2 RVG die in dem selbständigen Beweisverfahren verdiente Prozess-
gebühr anzurechnen.
d) Das Beschwerdegericht hat jedoch übersehen, dass nach der genann-
ten Vorbemerkung die Verfahrensgebühr des selbständigen Beweisverfahrens
auf die Verfahrensgebühr des Rechtszugs nur anzurechnen ist, soweit der Ge-
genstand des selbständigen Beweisverfahrens auch Gegenstand des Rechts-
streits ist. In entsprechender Anwendung dieser Vorschrift ist nicht die volle im
selbständigen Beweisverfahren erwachsene Prozessgebühr auf die Verfah-
rensgebühr des Hauptsacheverfahrens anzurechnen, wenn, wie hier, die im
Hauptsacheverfahren geltend gemachten Ansprüche nur auf einen Teil der
Mängel gestützt werden, die im selbständigen Beweisverfahren zur Überprü-
fung standen. Die anzurechnende Prozessgebühr ist in einem solchen Fall nur
aus dem Teilstreitwert zu errechnen, der im selbständigen Beweisverfahren für
die Mängel angefallen ist, auf die sich das Hauptsacheverfahren bezieht.
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Die dazu erforderlichen Feststellungen wird das Beschwerdegericht noch
zu treffen haben.
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Dressler
Wiebel
Kuffer
Kniffka Safari
Chabestari
Vorinstanzen:
LG Ravensburg, Entscheidung vom 11.07.2006 - 1 O 70/05 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 08.09.2006 - 8 W 359/06 -