Urteil des BGH vom 06.05.2010
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 213/09
vom
6. Mai 2010
in der Abschiebehaftsache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
AsylVfG § 14 Abs. 3 Satz 1; Dublin II-VO Art. 4 Abs. 2 Satz 1
a) Wird bei der Einreise aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union über
ein Asylgesuch ein behördliches Protokoll erstellt und dieses an das zustän-
dige Bundesamt weitergeleitet, liegt ein förmlicher Asylantrag erst mit dem
Eingang bei dieser Behörde vor (Weiterführung von Senat, BGHZ 153,
18 ff.).
b) § 14 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG erfasst auch die Haft zur Sicherung der Zurück-
schiebung.
BGH, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 213/09 - LG Frankfurt/Main
AG Frankfurt am Main
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Mai 2010 durch den Vor-
sitzenden Richter Prof. Dr. Krüger und die Richter Dr. Klein, die Lemke,
Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Roth
beschlossen:
Dem Betroffenen wird ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt
und Rechtsanwalt Rinkler beigeordnet.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
der 28. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom
6. November 2009 unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Üb-
rigen im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Feststel-
lungsantrag betreffend die Zeit ab dem 23. Oktober 2009 zurück-
gewiesen worden ist.
Es wird festgestellt, dass der angefochtene Beschluss den Betrof-
fenen in seinen Rechten verletzt hat, soweit die Haftanordnung zur
Sicherung der Abschiebung über den 22. Oktober 2009 hinaus
aufrechterhalten worden ist.
Von den Gerichtskosten trägt der Betroffene 12 % mit der Maßga-
be, dass von der Erhebung von Dolmetscherkosten abzusehen ist;
weitere Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Bundesrepublik
Deutschland trägt 88 % der außergerichtlichen Kosten des Betrof-
fenen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.000 €.
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Gründe:
I.
Der Beteiligte zu 1 (im Folgenden: Betroffener), ein afghanischer Staats-
angehöriger, traf am 12. Oktober 2009 mit einem Flug aus Heraklion (Griechen-
land) kommend auf dem Flughafen Frankfurt am Main ein. Bei einer Kontrolle
durch Beamte der Beteiligten zu 2 wies er sich durch einen gefälschten Reise-
pass aus. Bei der Vernehmung gab er an, er sei mithilfe eines Schleusers über
die Türkei nach Griechenland gebracht worden. Er stelle ein Asylgesuch. Das
am 13. Oktober 2009 "von dem Sachverhalt" unterrichtete Bundesamt für
Flüchtlinge und Migration (im Folgenden: Bundesamt) ersuchte die griechischen
Behörden um Übernahme des Betroffenen.
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Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht Frankfurt am Main
am 13. Oktober 2009 die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung des Betroffe-
nen bis einschließlich 12. Januar 2010 und die sofortige Wirksamkeit dieser
Entscheidung angeordnet. Der Betroffene hat gegen diese Entscheidung Be-
schwerde eingelegt. Der Beschwerdebegründung vom 23. Oktober 2009 hat er
eine Abschrift des an demselben Tage bei dem Verwaltungsgericht eingereich-
ten Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beigefügt. Mit Be-
schluss vom 30. Oktober 2009 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschie-
bende Wirkung der Klage des Betroffenen gegen die Zurückschiebung nach
Griechenland an. Zudem untersagte es Maßnahmen zur Verbringung des Be-
troffenen nach Griechenland für die Dauer von sechs Monaten.
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Am 2. November 2009 wurde der Betroffene aus der Haft entlassen. Mit
Schriftsatz vom selben Tage hat er die Feststellung beantragt, dass die Haft
rechtswidrig gewesen sei. Das Landgericht hat diesen Antrag zurückgewiesen.
Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag
weiter.
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II.
Das Beschwerdegericht meint, der Antrag sei unbegründet. Insbesonde-
re habe das Amtsgericht zu Recht die Haftgründe nach § 62 Abs. 2 Nr. 1 u. 5
AufenthG bejaht. Dass sich der Betroffene der Bundespolizei gegenüber als
Asylsuchender zu erkennen gegeben habe, habe die Anordnung der Siche-
rungshaft in Form der Zurückschiebungshaft nicht gehindert. Bei Einreise aus
einem sicheren Drittstaat führe nur die Stellung eines förmlichen Asylantrages
zu einer Aufenthaltsgestattung. Daran fehle es hier, weil der Betroffene keinen
schriftlichen Antrag gestellt habe. Soweit vorgetragen worden sei, eine Zurück-
schiebung nach Griechenland sei wegen der dortigen Verhältnisse unzulässig,
obliege die Prüfung dieses Einwands nicht dem Haftrichter, sondern sei Aufga-
be der Verwaltungsgerichte. Daher sei die Sicherungshaft erst mit der Ent-
scheidung des Verwaltungsgerichts vom 30. Oktober 2009 unzulässig gewor-
den. Zuvor habe nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestanden, dass die
Abschiebung des Betroffenen nicht innerhalb von drei Monaten durchführbar
sei.
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III.
1. Das Rechtsmittel ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG
statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Rechtsbeschwerde
des Betroffenen auch dann ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3,
Satz 2 FamFG statthaft, wenn sich die Hauptsache durch die Haftentlassung
- wie hier - erledigt hat und mit dem Rechtsmittel allein das Ziel verfolgt wird, die
Verletzung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG festzustellen
(Beschl. v. 25. Februar 2010, V ZB 172/09, Rdn. 9 ff., juris).
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2. Die Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet. Zwar verletzte nicht
schon die Inhaftierung den Betroffenen in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2
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Satz 1 GG, wohl aber die das Rechtsmittel zurückweisende Entscheidung des
Beschwerdegerichts.
a) Der durch die zuständige Behörde (§ 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG, § 417
Abs. 1 FamFG) gestellte Haftantrag war im Zeitpunkt der Haftanordnung be-
gründet.
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aa) Das Beschwerdegericht hat zu Recht die Voraussetzungen für die
Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückschiebung nach § 57 Abs. 1
Satz 1, Abs. 3, § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 5 AufenthG bejaht. Der Betrof-
fene war auf Grund unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig (zur Prü-
fungspflicht des Haftrichters bei einer nicht bestandskräftigen, verwaltungsge-
richtlich noch nicht überprüften und für sofort vollziehbar erklärten Zurückschie-
bungsverfügung nach § 57 Abs. 1 AufenthG vgl. Senat, Beschl. v. 16. Dezem-
ber 2009, V ZB 148/09, Rdn. 7, InfAuslR 2010, 50; Beschl. v. 25. Februar 2010,
V ZB 172/09, Rdn. 15, juris, m.w.N.). Wie das Beschwerdegericht zutreffend
und von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet ausgeführt hat, lag auch der
begründete Verdacht vor, der Betroffene werde sich der Zurückschiebung nach
Griechenland entziehen.
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bb) Dass der Betroffene gegenüber der Beteiligten zu 2 bei der Inge-
wahrsamnahme um Asyl nachgesucht hat, stand nach § 18 Abs. 3 i.V.m. § 18
Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG der Zurückschiebung nicht entgegen. Der Bundesge-
richtshof hat bereits entschieden, dass bei der Einreise aus einem Mitgliedstaat
der Europäschen Union die Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG nicht bereits mit der Protokollierung des Asylersuchens durch die
Grenzbehörde erworben wird, sondern erst mit der Stellung des Antrages bei
dem zuständigen Bundesamt (vgl. Senat, BGHZ 153, 18, 20; Beschl. v.
25. Februar 2010, V ZB 172/09, Rdn. 17 ff., juris). Er hat dabei insbesondere
darauf hingewiesen, dass der gegenteilige Rechtsstandpunkt nicht nur der bun-
desgesetzlichen Regelung in § 18 AsylVfG widerspricht, sondern auch nicht mit
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der europarechtlichen Vorschrift über das sog. Dringlichkeitsverfahren in Art. 17
Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003
(Dublin II-Verordnung) zu vereinbaren ist (Beschl. v. 25. Februar 2010, aaO).
Hinzu kommt, dass nach der unzweideutigen Regelung des Art. 4 Abs. 2 Satz 1
Dublin II-Verordnung ein Asylantrag erst dann als gestellt gilt, wenn den zu-
ständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaates ein von dem Asylbewer-
ber eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Die
Rechtslage ist klar. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach
Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union scheidet
damit aus (vgl. EuGH, Urt. v. 6. Oktober 1982, Rs 283/81 C.I.L.F., Slg 1982,
3415 Rdn. 16; Schmidt-Räntsch in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre,
§ 23 Rdn. 31).
cc) Allerdings rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass die Erwägung
des Beschwerdegerichts, wonach bei dem Bundesamt kein förmlicher Asylan-
trag eingegangen sei, weil der Betroffene keinen schriftlichen Antrag gestellt
habe, einer rechtlichen Überprüfung nicht standhält. Nur wirkt sich dieser
Rechtsfehler im Ergebnis nicht aus, wobei mangels tatrichterlicher Feststellun-
gen unterstellt werden kann, dass das protokollierte Gesuch - was nicht ausrei-
chend wäre - mehr enthält als die Worte "Asyl" oder "Asylantrag" (vgl. Senat,
BGHZ 153, 18, 21 f.).
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Das Beschwerdegericht geht zwar zutreffend davon aus, dass das Asyl-
verfahrensgesetz eine Weiterleitung nur für schriftliche Asylanträge vorsieht, die
bei der Ausländerbehörde eingereicht werden (§ 14 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG) und
die Aufnahme eines mündlichen Antrags zur Niederschrift und dessen Weiter-
leitung durch die Polizei oder den Haftrichter weder im Verwaltungsverfahrens-
gesetz noch im Asylverfahrensgesetz vorgesehen ist (vgl. Senat, BGHZ 153,
18, 21). Jedoch folgt spätestens aus der bereits genannten Vorschrift des Art. 4
Abs. 2 Satz 1 Dublin II-Verordnung, dass ein behördlich protokollierter Asylan-
trag im Falle seiner Weiterleitung mit dem Eingang bei dem Bundesamt als
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förmlicher Antrag zu qualifizieren ist. Er wirkt nur nicht auf den Zeitpunkt der
Protokollierung zurück, weil der Antrag nach der zitierten Bestimmung erst als
gestellt gilt, wenn er der zuständigen Behörde zugegangen ist. Da der protokol-
lierte Antrag vorliegend erst nach der Beschlussfassung durch das Amtsgericht
bei dem Bundesamt eingegangen ist, stand er der Haftanordnung nicht entge-
gen.
b) Die Aufrechterhaltung der Haft über den Zeitpunkt der (unterstellten)
Stellung des Asylantrages hinaus, war nicht schon von dem Zeitpunkt der Asyl-
antragstellung rechtswidrig. In den Fällen des § 14 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG steht
die Antragstellung der Aufrechterhaltung der Haft nicht entgegen.
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Aus § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AsylVfG folgt zwar, dass die Aufrechterhal-
konnte, weil sich der Betroffene noch nicht länger als einen Monat unerlaubt im
Bundesgebiet aufgehalten hatte (§ 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4). Dies ist jedoch un-
fort-
). Dass § 14 Abs. 3 Satz 1
AsylVfG auch die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung als eine Form der
Abschiebungshaft (vgl. §§ 57 Abs. 3, 62 AufenthG) erfasst (dazu eingehend
OLG München, Beschl. v. 30. Januar 2008, 34 Wx 136/07, Rdn. 29 ff. m.w.N.,
juris), ist verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG NVwZ-RR 2009, 616,
617). Nach dem gesetzgeberischen Anliegen besteht der Zweck der Vorschrift
gerade auch in der Sicherstellung, dass Ausländer, die im Rahmen des Dublin
II-Verfahrens möglichst rasch in den für das Asylverfahren zuständigen Staat
verbracht werden sollen, nicht vorzeitig aus der Haft entlassen werden und un-
tertauchen (vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 215).
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c) Teilweise Erfolg hat die Rechtsbeschwerde jedoch deshalb, weil das
Beschwerdegericht verkannt hat, dass der Haftrichter bei der nach § 62 Abs. 2
Satz 4 AufenthG anzustellenden Prognose, ob die Abschiebung innerhalb von
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drei Monaten durchgeführt werden kann, das voraussichtliche Ergebnis eines
von dem Ausländer bei dem Verwaltungsgericht gestellten Antrags nach §§ 80,
123 VwGO auf Aussetzung des Vollzugs der Zurückschiebung berücksichtigen
muss. Wird solchen Eilanträgen regelmäßig entsprochen, darf er, wenn die Sa-
che bei dem Verwaltungsgericht anhängig gemacht worden ist, eine Haft zur
Sicherung der Abschiebung nicht anordnen. Eine bereits angeordnete Haft ist
auf die Beschwerde des Betroffenen nach § 426 FamFG aufzuheben (Beschl.
v. 25. Februar 2010, V ZB 172/09, Rdn. 24 ff., juris).
Vorliegend hat der Betroffene am 23. Oktober 2009 einstweiligen Rechts-
schutz vor dem zuständigen Verwaltungsgericht beantragt. Da solchen Anträ-
gen derzeit bei Überstellungen nach Griechenland gemäß Art. 19 Dublin II-
Verordnung regelmäßig stattgegeben wird (vgl. Senat, Beschl. v. 25. Februar
2010, V ZB 172/09, Rdn. 25 f., juris, m.w.N.), entstand das einem baldigen Voll-
zug des Zurückschiebungsbescheides entgegenstehende Hindernis mit der
dem Beschwerdegericht zur Kenntnis gebrachten Antragstellung bei dem Ver-
waltungsgericht. Die Aufrechterhaltung der Haftanordnung über diesen im Zeit-
punkt hinaus war rechtswidrig.
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IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1, 83 Abs. 2
FamFG, 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung des
Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen die außergerichtlichen
Kosten des Betroffenen der Körperschaft anteilig aufzuerlegen, der die beteilig-
te Behörde angehört (vgl. Senat, Beschl. v. 29. April 2010, V ZB 218/09, zur
Veröffentlichung bestimmt). Von der Erhebung von Dolmetscherkosten ist in
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Abschiebungshaftsachen abzusehen (Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB
222/09, Rdn. 20, juris). Die Festsetzung des Werts folgt aus §§ 128c Abs. 2, 30
Abs. 2 KostO.
Krüger Klein Lemke
Schmidt-Räntsch
Roth
Vorinstanzen:
AG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 13.07.2009 - 934 XIV 1655/09 -
LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 06.11.2009 - 2/28 T 184/09 -