Urteil des BGH vom 16.01.2008
BGH (bemessung der invalidität, allgemeine versicherungsbedingungen, zpo, versicherungsnehmer, erklärung, versicherer, bemessung, unfallversicherung, grad, rechtsfrage)
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IV ZR 271/06
vom
16. Januar 2008
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsit-
zenden Richter Terno, die Richter Seiffert, Wendt, die Richterin
Dr. Kessal-Wulf und den Richter Felsch
am 16. Januar 2008
einstimmig beschlossen:
1. Es ist beabsichtigt, die Revision gegen das Urteil des
Landgerichts Aachen vom 28. September 2006 durch
Beschluss nach § 552a ZPO zurückzuweisen.
2. Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme
binnen vier Wochen.
Gründe:
I. Der Kläger, der bei der Beklagten eine Unfallversicherung hält,
welcher Allgemeine Unfallversicherungs-Bedingungen der Beklagten (im
Folgenden: AUB 94) zugrunde liegen, begehrt die Feststellung, dass die
Beklagte verpflichtet sei, auf ihre Kosten die im Rahmen des Verfahrens
zur Neufestsetzung einer Invalidität (§ 11 IV AUB 94) erforderlichen
Nachuntersuchungen zu veranlassen.
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Der Kläger erlitt bei einem Unfall am 14. Oktober 2004 Quetschun-
gen des Unterbauches und des Steißbeines. Am 13. Oktober 2005 lehnte
die Beklagte die vom Kläger begehrten Invaliditätsleistungen ab, weil die
zur Begründung von Invalidität behauptete Gebrauchsbeeinträchtigung
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seines rechten Beines nicht vorliege. Noch im Oktober 2005 verlangte
der Kläger eine erneute ärztliche Bemessung der Invalidität. Hierzu sieht
sich die Beklagte nicht verpflichtet, weil ihrer Rechtsauffassung nach ei-
ne Neubemessung der Invalidität ausscheidet, wenn es an einer voran-
gegangenen Feststellung von Invalidität dem Grunde nach fehlt.
Das Amtsgericht hat dem Feststellungsbegehren - abgesehen von
der Frage der Kostentragung - im Wesentlichen stattgegeben. Auf die
Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Mit
der vom Landgericht zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wie-
derherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
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II. Der Senat beabsichtigt, die Revision nach § 552a ZPO im Be-
schlusswege zurückzuweisen, weil die Voraussetzungen für eine Zulas-
sung der Revision nicht vorliegen und die Revision des Klägers auch
keine Aussicht auf Erfolg hat.
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1. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob - wie
das Landgericht angenommen hat - die Neufestsetzung der Invalidität
nach § 11 IV AUB 94 ausgeschlossen ist, solange es - wie hier - an einer
Erst-Feststellung der Invalidität durch Anerkenntniserklärung des Versi-
cherers nach § 11 I AUB 94 oder durch gerichtliche Entscheidung fehlt.
Das Landgericht meint, die Frage der Auslegung von § 11 IV AUB 94 sei
insoweit von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 543 Abs. 2 Nr. 1
ZPO.
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2. Das trifft jedoch nicht zu. Grundsätzliche Bedeutung hat eine
Rechtssache nur dann, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klä-
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rungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die über den
Einzelfall hinaus Bedeutung für die Allgemeinheit hat (BGHZ 152, 182,
190 f.; 151, 221, 223;
.N.). An einer Klärungsbedürftigkeit fehlt es hier
aber deshalb, weil die genannte Rechtsfrage durch die Rechtsprechung
bereits hinreichend geklärt erscheint und es umgekehrt - wie die Revisi-
onsbegründung einräumt - nicht ersichtlich ist, dass die vom Kläger ge-
äußerte Rechtsauffassung, § 11 IV AUB 94 ermögliche auch bei Fehlen
einer primären Invaliditätsfeststellung die Neufestsetzung der Invalidität,
in Literatur oder Rechtsprechung vertreten wird.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sind Allgemeine
Versicherungsbedingungen so auszulegen, wie ein durchschnittlicher
Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer
Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs
verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines
Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse
und damit - auch - auf seine Interessen an ( 85 und stän-
dig).
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b) Der verständige Versicherungsnehmer geht regelmäßig zu-
nächst vom Wortlaut der Klausel aus.
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§ 11 AUB 94 lautet auszugsweise:
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"I. Sobald uns die Unterlagen zugegangen sind, die Sie
zum Nachweis des Unfallherganges und der Unfallfolgen
sowie über den Abschluß des für die Bemessung der Inva-
lidität notwendigen Heilverfahrens beibringen müssen,
sind wir verpflichtet, innerhalb eines Monats - beim Invali-
ditätsanspruch innerhalb von drei Monaten - zu erklären,
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ob und in welcher Höhe wir einen Anspruch anerkennen.
…
IV. Sie und wir sind berechtigt, den Grad der Invalidität
jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach Eintritt des Un-
falles, erneut ärztlich bemessen zu lassen. … Dieses
Recht muss von uns mit Abgabe einer Erklärung entspre-
chend I., von Ihnen innerhalb eines Monats nach Zugang
dieser Erklärung ausgeübt werden. Ergibt die endgültige
Bemessung eine höhere Invaliditätsleistung als wir sie be-
reits erbracht haben, so ist der Mehrbetrag mit 5 Prozent
jährlich zu verzinsen."
Diesen Bestimmungen kann der Versicherungsnehmer entnehmen,
dass zunächst der Versicherer verpflichtet ist, sich nach Eingang der er-
forderlichen Nachweise innerhalb der in § 11 I AUB 94 genannten Drei-
monatsfrist verbindlich dazu zu äußern, ob er eine bedingungsgemäße
Invalidität des Versicherungsnehmers anerkennt und mit welchem Grad
er diese bemisst. Der Versicherungsnehmer erkennt weiter, dass die Er-
klärung des Versicherers nach § 11 I AUB 94 dessen Leistungsverpflich-
tung nicht unabänderlich festschreibt, sondern auf der Grundlage der
anerkannten Invalidität die Möglichkeit besteht, den "Grad der Invalidi-
tät", welcher sich ändern kann, binnen der in § 11 IV AUB 94 genannten
Frist durch eine erneute ärztliche Prüfung neu bestimmen zu lassen. Ei-
ne solche erneute Bestimmung der Invalidität setzt aber schon begrifflich
voraus, dass bereits zuvor eine bedingungsgemäße, und das heißt auch:
binnen Jahresfrist eingetretene (§ 7 I AUB 94), Invalidität festgestellt
worden ist, wie im Übrigen auch die Anknüpfung an die "Erklärung ent-
sprechend I" hinreichend deutlich macht. Denn nur wenn der Versicherer
bereits eine bedingungsgemäße Invalidität anerkannt hat oder dieses
Anerkenntnis durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt worden ist,
kann die so dem Grunde nach feststehende Invalidität unter den Vorbe-
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halt einer späteren Neubemessung gestellt werden. Anderenfalls fehlt für
eine Neubemessung jeder Anknüpfungspunkt.
c) Wegen dieses Verständnisses der Klausel unterscheidet der
Senat in ständiger Rechtsprechung zwischen der Erstfeststellung der In-
validität und ihrer Neufestsetzung (vgl. nur Senatsurteil vom 4. Mai 1994
- IV ZR 192/93 - VersR 1994, 971), ferner hat er mehrfach ausgespro-
chen, dass in der Unfallversicherung die Neufestsetzung der Invalidität
stets (lediglich) den Invaliditätsgrad betreffe (vgl. Senatsurteil vom
20. April 2005 - IV ZR 237/03 - VersR 2005, 927 unter II 1). In der Recht-
sprechung der Oberlandesgerichte ist zudem bereits entschieden wor-
den, das Verfahren zur Neufestsetzung der Invalidität diene allein der
Überprüfung der Erstentscheidung des Versicherers über die Feststel-
lung der Invalidität (OLG Saarbrücken VersR 2001, 1271, 1272) und der
Versicherer dürfe das Verfahren zur Neubemessung der Invalidität nicht
betreiben, solange es an einer Ersterklärung über die Anerkennung der
Invalidität fehle (OLG Hamm r+s 1998, 302, vgl. dazu auch Grimm, Un-
fallversicherung 3. Aufl. § 11 Rdn. 25; Knappmann in Prölss/Martin, VVG
27 Aufl. § 11 AUB 94 Rdn. 9, 10; Lehmann VersR 1995, 902 f.). Damit ist
- da Gegenstimmen in Literatur und Rechtsprechung insoweit ersichtlich
nicht erhoben werden - die vom Landgericht für grundsätzlich erachtete
Rechtsfrage hinreichend geklärt.
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3. Da dem Neufestsetzungsbegehren des Klägers unstreitig keine
Erstfeststellung bedingungsgemäßer Invalidität durch den Versicherer
vorausgegangen ist, hat das Landgericht die Klage zu Recht abgewiesen
und die Revision des Klägers keine Aussicht auf Erfolg im Sinne von
§ 552a ZPO.
Terno Seiffert Wendt
Dr. Kessal-Wulf Felsch
Vorinstanzen:
AG Düren, Entscheidung vom 12.04.2006 - 45 C 579/05 -
LG Aachen, Entscheidung vom 28.09.2006 - 2 S 130/06 -