Urteil des BGH vom 07.03.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZB 67/12
vom
7. März 2013
in der Rechtsbeschwerdesache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 233 B
Die Berufungsbegründungsfrist ist nicht ohne Verschulden im Sinne des § 233
ZPO versäumt, wenn ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutba-
ren Maßnahmen zur Wahrung der Frist ergriffen hat und nicht festgestellt wer-
den kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt
worden wäre.
BGH, Beschluss vom 7. März 2013 - I ZB 67/12 - LG Bonn
AG Siegburg
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. März 2013 durch die Richter
Prof. Dr. Büscher, Pokrant, Prof. Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff und Dr. Koch
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer
des Landgerichts Bonn vom 21. August 2012 wird auf Kosten der
Klägerin zurückgewiesen.
Beschwerdewert:
2.959,90 €.
Gründe:
I. Die Klägerin nimmt die Beklagte in einer Transportrechtssache auf
Freistellung von einer Schadensersatzforderung in Anspruch. Das Amtsgericht
hat die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin fristgerecht Be-
rufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat die Frist zur Begründung der Beru-
fung antragsgemäß um einen Monat bis zum 12. Juli 2012 verlängert.
Die Klägerin hat ihre Berufung mit einem am 26. Juli 2012 beim Beru-
fungsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet und zugleich wegen der
Versäumung der Berufungsbegründungsfrist die Wiedereinsetzung in den vori-
gen Stand beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihr Prozessbevoll-
mächtigter habe die Berufungsbegründung nicht rechtzeitig fertigstellen können,
weil er aufgrund einer akuten Erkrankung arbeitsunfähig gewesen sei.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen
und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbe-
schwerde der Klägerin, mit der sie die Aufhebung des angefochtenen Be-
schlusses erstrebt und den Wiedereinsetzungsantrag weiterverfolgt.
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II. Das Berufungsgericht hat die begehrte Wiedereinsetzung mit der Be-
gründung abgelehnt, der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - dessen Ver-
schulden diese sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse - habe die
Berufungsbegründungsfrist schuldhaft versäumt. Aus dem eingereichten ärztli-
chen Attest gehe hervor, dass er am 12. Juli 2012 und damit am Tag des Ab-
laufs der Berufungsbegründungsfrist erkrankt sei. Da er die Berufungsbegrün-
dungsfrist bis zum letzten Tag ausgeschöpft habe, hätte er auch für den Fall
einer unvorhergesehenen Erkrankung für eine Vertretung sorgen müssen.
III. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Rechtsbeschwerde ist zuläs-
sig (dazu 1), hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Begründung der ange-
fochtenen Entscheidung ergibt zwar eine Rechtsverletzung (dazu 2); die Ent-
scheidung stellt sich jedoch aus anderen Gründen als richtig dar (dazu 3).
1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1
Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2
ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Ent-
scheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der angefochtene Be-
schluss verletzt die Klägerin in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten An-
spruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz und rechtliches Gehör. Dieser gebietet
es, einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von
Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten zu ver-
sagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und
mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des ange-
rufenen Gerichts nicht rechnen musste (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom
4. Februar 2010 - I ZB 3/09, MDR 2010, 779, 780; Beschluss vom 5. Juni 2012
- VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 6, jeweils mwN).
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2. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann der Klä-
gerin die beantragte Wiedereinsetzung nicht versagt und ihre Berufung daher
nicht verworfen werden. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der
Klägerin kann entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht darin gesehen
werden, dass dieser für den Fall seiner unvorhergesehenen Erkrankung keinen
Vertreter bestellt hat. Ein Rechtsanwalt, der die Frist zur Einlegung oder Be-
gründung eines Rechtsmittels bis zum letzten Tag ausschöpft, hat zwar wegen
des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwen-
den, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen. Auf einen krankheitsbedingten
Ausfall muss er sich aber nur dann durch konkrete Maßnahmen vorbereiten,
wenn er einen solchen Ausfall vorhersehen kann (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Be-
schluss vom 18. September 2008 - V ZB 32/08, NJW 2008, 3571 Rn. 7 und 9;
Beschluss vom 5. April 2011 - VIII ZB 81/10, NJW 2011, 1601, jeweils mwN). Er
ist daher auch dann, wenn er eine Frist bis zum letzten Tag ausschöpfen will,
nicht gehalten, für den Fall einer unvorhergesehenen Erkrankung vorsorglich
einen Vertreter zu bestellen.
3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich aber aus anderen
Gründen als richtig dar. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat die Beru-
fungsbegründungsfrist schuldhaft versäumt, weil er nach seiner unvorhergese-
henen Erkrankung nicht versucht hat, eine Verlängerung dieser Frist zu errei-
chen. Ein Rechtsanwalt muss auch bei einer unvorhergesehenen Erkrankung
alle ihm dann noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer
Frist ergreifen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, NJW 2008, 3571 Rn. 9 mwN). Der Pro-
zessbevollmächtigte der Klägerin hat zwar im Rechtsbeschwerdeverfahren an-
waltlich versichert, er sei aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr imstande ge-
wesen, selbst einfachste anwaltliche Tätigkeiten zu verrichten und habe seinen
Versuch, die Berufungsbegründungsschrift abzufassen, deshalb bereits nach
wenigen Minuten abbrechen müssen. Damit hat er aber nicht glaubhaft ge-
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macht, dass es ihm nicht möglich und zumutbar war, beim Berufungsgericht
eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu beantragen und - im Blick
darauf, dass das Berufungsgericht diese Frist bereits antragsgemäß um einen
Monat verlängert hatte und eine weitere Verlängerung nur mit Einwilligung des
Gegners möglich war (§ 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO) - den Prozessbevoll-
mächtigten der Beklagten um Zustimmung zur Fristverlängerung zu bitten. Es
kann zwar nicht festgestellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Be-
klagten sich mit einer weiteren Fristverlängerung einverstanden erklärt hätte.
Darauf kann sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin jedoch nicht mit Er-
folg berufen. Hat ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren
Maßnahmen zur Wahrung einer Berufungsbegründungsfrist ergriffen, geht es
zu seinen Lasten, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei
Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre.
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IV. Danach ist die Rechtsbeschwerde gegen den angegriffenen Be-
schluss zurückzuweisen (§ 577 Abs. 3 ZPO). Die Kostenentscheidung beruht
auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Büscher
Pokrant
Schaffert
Kirchhoff
Koch
Vorinstanzen:
AG Siegburg, Entscheidung vom 14.03.2012 - 118 C 408/11 -
LG Bonn, Entscheidung vom 21.08.2012 - 8 S 118/12 -
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