Urteil des BGH vom 08.11.2006

BGH (in dubio pro reo, ausschluss der strafbarkeit, ärztliche untersuchung, ausstellung, stgb, untersuchung, anforderung, blanko, arzt, staatsanwaltschaft)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 384/06
vom
8. November 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges u. a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. November
2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan,
und der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Otten,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof in der Verhandlung,
Bundesanwalt bei der Verkündung
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Land-
gerichts Frankfurt am Main vom 9. Dezember 2005 mit den Fest-
stellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Ausstellens un-
richtiger Gesundheitszeugnisse in 360 Fällen und des Betrugs in 391 Fällen
(§§ 278, 263, 25 Abs. 2 StGB) freigesprochen. Die Anklage der Staatsanwalt-
schaft Frankfurt hatte dem Angeklagten vorgeworfen, für 38 nicht existente Per-
sonen insgesamt 360 unrichtige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt
zu haben, mit denen der gesondert Verfolgte G. entsprechend einem
gemeinsamen Tatplan 391 Ausgleichszahlungen nach § 10 des Lohnfortzah-
lungsgesetzes erlangt haben soll. Gegen den Freispruch richtet sich die Revisi-
on der Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das
vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
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I.
Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Der Angeklagte betrieb eine
Praxis für Allgemeinmedizin in O. . Bei seinen Patienten handel-
te es sich ganz überwiegend um Arbeitnehmer aus dem früheren Jugoslawien.
Die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen handhabte der Ange-
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klagte großzügig. Üblicherweise unterschrieb er Arbeitsunfähigkeitsbescheini-
gungen blanko im Behandlungsraum und verwies den Patienten damit an die
Rezeption, wo eine seiner Arzthelferinnen das Formular mit den Daten, die der
Angeklagte in der Patientendatei vermerkt hatte, ausfüllte. Die verfahrensge-
genständlichen 360 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen tragen Ausstellungsda-
ten zwischen dem 1. November 2001 und dem 2. Dezember 2003 und lauten
auf die Namen von 38 verschiedenen Personen. Eine dieser Personen existiert
nach Überzeugung des Landgerichts tatsächlich und ist vom Angeklagten un-
tersucht worden. Die Daten aller Krankschreibungen wurden von dem geson-
dert Verfolgten G. vorgegeben, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigun-
gen bei verschiedenen Allgemeinen Ortskrankenkassen zur Erstattung nach
dem Lohnfortzahlungsgesetz einreichte. Der Angeklagte hatte im Ermittlungs-
verfahren eingeräumt, dass die Unterschriften von ihm stammen; weitere Anga-
ben zu den Umständen, unter denen er diese Krankschreibungen unterzeichnet
hat, hat er weder im Ermittlungsverfahren noch in der Hauptverhandlung ge-
macht. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der
Angeklagte aufgrund eines gemeinsamen Tatplans mit G. gehandelt hat.
Es sei vielmehr nicht auszuschließen, dass die beiden Arzthelferinnen M.
und K. den Angeklagten unter Vorwänden veranlasst haben könnten,
vermeintlich berechtigte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen blanko zu unter-
schreiben, so dass ihm deren Unrichtigkeit bzw. der betrügerische Verwen-
dungszweck nicht bewusst gewesen sei.
II.
Die den Freispruch tragenden Erwägungen halten der rechtlichen Nach-
prüfung nicht stand.
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1. Nach § 278 StGB macht sich ein Arzt strafbar, der ein unrichtiges
Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei ei-
ner Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseren Wissens ausstellt.
Die Vorschrift soll die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse für Behörden und Versi-
cherungsgesellschaften sichern. Ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung
ausstellt, ist als Beweismittel ebenso wertlos wie ein Zeugnis, das nach Unter-
suchung den hierbei festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt
(BGHSt 6, 90, 92; RGSt 74, 229, 231). Ob dies auch dann gilt, wenn der Arzt
eine Folgebescheinigung ausstellt, nachdem er den Patienten vor der Ausstel-
lung der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung untersucht hat, kann hier da-
hinstehen, weil es im vorliegenden Verfahren nicht um diese Fälle geht, son-
dern um Fälle, in denen nie eine Untersuchung stattgefunden haben soll.
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Das Landgericht ist rechtlich zutreffend davon ausgegangen, dass das
Ausstellen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne ärztliche Untersuchung
den Tatbestand des § 278 StGB in objektiver und subjektiver Hinsicht verwirk-
licht (UA S. 27). Es hat seine Überzeugung geäußert, dass der Angeklagte
auch ohne persönliche Vorsprache des Patienten auf telefonische Anforderung
und damit wissentlich unrichtige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt
hat (UA S. 26). Es hat den Angeklagten dennoch aus tatsächlichen Gründen
vom Vorwurf des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse in den ange-
klagten Fällen freigesprochen, weil in keinem dieser angeklagten 360 Einzelfälle
mehr festzustellen sei, unter welchem konkreten Vorwand die Arzthelferinnen
die Blankounterschrift des Angeklagten erlangt hätten. Es komme neben dem
Vorwand, dass ein Patient telefonisch eine Krankschreibung erbeten habe, eine
Vielzahl von Begründungen in Betracht, aufgrund derer der Angeklagte ge-
glaubt haben könne, dass die Ausstellung sachlich berechtigt sei, etwa wenn
ihm gesagt worden sei, dass ein Patient seine Arbeitsunfähigkeitsbescheini-
gung verloren habe oder wegen eines Eingabefehlers oder der Beschädigung
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der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine neue Bescheinigung ausgestellt
werden müsse.
a) Dem kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil das Landgericht
selbst zur Begründung seiner Entschädigungsentscheidung, mit der eine Ent-
schädigung des Angeklagten nach dem Gesetz über die Entschädigung für
Strafverfolgungsmaßnahmen abgelehnt worden ist, dargelegt hat, dass der An-
geklagte in nicht unerheblichem Umfang wissentlich unrichtige Arbeitsunfähig-
keitsbescheinigungen erstellt hat, indem er Blankounterschriften für angeblich
telefonisch erforderte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen geleistet hat. Da dies
für die Arzthelferinnen der bequemste Weg gewesen sei, sei hiervon reichlich
Gebrauch gemacht worden (UA S. 28). Damit ist die Annahme des Landge-
richts, es käme eine Vielzahl von Möglichkeiten in Betracht, aufgrund derer der
Angeklagte geglaubt haben konnte, dass die Ausstellung der Arbeitsunfähig-
keitsbescheinigungen sachlich gerechtfertigt sei, nicht ohne weiteres zu verein-
baren.
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b) Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils ist jedoch auch des-
halb nicht frei von rechtlichen Bedenken, weil die Urteilsgründe schon nicht er-
kennen lassen, ob die 38 Personen, für die die verfahrensgegenständlichen
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt wurden, tatsächlich existieren
oder nicht. Das Landgericht hat nur hinsichtlich des N. G. festge-
stellt, dass es diesen Patienten tatsächlich gebe. Die Urteilsgründe teilen ferner
nicht mit, welche Erklärung der Zeuge Dr. R. , der Praxisvertreter des An-
geklagten, der ebenfalls für einige dieser 38 Personen Arbeitsunfähigkeitsbe-
scheinigungen unterzeichnet hat, hierfür gegeben hat, ob er die Patienten un-
tersucht hat oder ob er lediglich Blankounterschriften auf Anforderung der Arzt-
helferinnen geleistet hat. Von Bedeutung wäre insoweit, ob Dr. R. tatsäch-
lich mit Begründungen, die das Landgericht als möglich für vermeintlich berech-
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tigte Blanko-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen angesehen hat (UA S. 16/17),
zum Unterschreiben von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgefordert wor-
den ist. Das Argument des Landgerichts, dass die abgerechneten ärztlichen
Leistungen angesichts der geringen Höhe der Vergütung kein hinreichendes
Motiv des Angeklagten für ein strafbares Verhalten ergäben, steht im Wider-
spruch zu seiner Feststellung, dass der Angeklagte generell bereit war, auf tele-
fonische Anforderung Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auszustellen, wofür
das Motiv auch die ärztliche Vergütung gewesen sein dürfte. Schließlich trifft
auch die Erwägung des Landgerichts nicht zu, dass umgerechnet auf den an-
geklagten Tatzeitraum die Arzthelferinnen nicht einmal eine Arbeitsunfähig-
keitsbescheinigung pro Arbeitstag vom Angeklagten hätten erschleichen müs-
sen. Wie der Vertreter der Bundesanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, sind
von den verfahrensgegenständlichen 360 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
allein 302 in dem nur etwas mehr als zehn Monate währenden Zeitraum vom
27. Januar bis zum 2. Dezember 2003 ausgestellt worden.
c) Das Landgericht verkennt zudem die Anforderungen, welche die
Rechtsprechung an die Feststellung des Schuldumfangs bei Serienstraftaten
stellt. Steht ein strafbares Verhalten des Täters fest, kann es lediglich nicht be-
stimmten Einzelakten zugeordnet werden, kann die Bestimmung des Schuld-
umfanges, dass heißt die Bestimmung der Zahl der Einzelakte strafbaren Ver-
haltens, im Wege der Schätzung erfolgen (BGHR StGB vor § 1/Serienstraftaten
Betrug 1; Steuerhinterziehung 2). Bei der Feststellung der Zahl der Einzelakte
ist der Grundsatz in dubio pro reo zu beachten. Ein solches Verfahren ist stets
zulässig, wenn sich Feststellungen auf andere Weise nicht treffen lassen. Jede
andere Betrachtung, die von einer eingeengten, jeden Einzelfall isoliert beurtei-
lenden Sichtweise ausgeht, würde zum Ausschluss der Strafbarkeit bei zweifel-
los strafbarem Gesamtverhalten führen, wie der vorliegende Fall zeigt. Dass
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sich für eine Schätzung keine ausreichend sicheren Grundlagen gewinnen lie-
ßen, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.
2. Der vorstehend aufgezeigte Rechtsfehler führt auch zur Aufhebung
des Freispruchs vom Vorwurf des gemeinschaftlichen Betruges. Selbst wenn
der Angeklagte nicht aufgrund einer Absprache mit dem gesondert Verfolgten
G. zusammengewirkt haben sollte, hätte sich das Landgericht mit der
Frage auseinandersetzen müssen, ob er bei der wissentlichen Ausstellung fal-
scher Gesundheitszeugnisse mit bedingtem Vorsatz hinsichtlich einer mögli-
chen betrügerischen Verwendung derselben gehandelt hat.
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Rissing-van Saan Bode Otten
Fischer Roggenbuck