Urteil des BGH vom 28.01.2004
BGH (sexuelle handlung, stgb, nötigung, kind, vergewaltigung, parkplatz, opfer, person, nachteil, raststätte)
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 351/03
vom
28. Januar 2004
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 28. Januar
2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan
und der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Otten,
der Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
der Angeklagte in Person,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Bonn vom 11. April 2003 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tat-
einheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes und wegen Vergewaltigung in
Tateinheit mit schwerem sexuellen Mißbrauch eines Kindes zu einer Gesamt-
freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Seine auf die
Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet.
1) Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und daher unzulässig.
2) Mit der Sachrüge wendet sich die Revision insbesondere gegen die
Anwendung des § 177 StGB in beiden Fällen; sie ist unbegründet.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts begleitete die 1992 gebo-
rene Geschädigte den 59 Jahre alten Angeklagten, ihren Großvater, in den
Sommerferien 2001, wie schon bei früheren Ferienaufenthalten, auf mehrtägi-
gen Auslieferungsfahrten, die der Angeklagte im Rahmen seiner Berufstätigkeit
als LKW-Fahrer unternahm.
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Bei der ersten Tat parkte der Angeklagte seinen LKW gegen Abend auf
dem Parkplatz einer Autobahn-Raststätte. Der Angeklagte und die Geschädigte
besuchten bis gegen 21.00 Uhr das Restaurant der Raststätte, anschließend
begaben sie sich zum LKW, in dem sie in zwei übereinander liegenden Schlaf-
kojen übernachteten. Die Geschädigte legte sich, mit einem T-Shirt und Slip
bekleidet, in die obere Koje. Aufgrund nun gefaßten Tatentschlusses griff der
Angeklagte, als das Kind bereits eingeschlafen war, unter ihr T-Shirt, strei-
chelte über ihre Brust und drückte diese mit einer Greifbewegung zusammen.
Er wollte dabei die Gelegenheit nutzen, die sich ihm in der Abgeschiedenheit
der Fahrerkabine bot.
Die von dem Übergriff im Schlaf überraschte Geschädigte wachte auf
und entzog sich der für sie unangenehmen Situation dadurch, daß sie sich
- wie im Schlaf - vom Angeklagten wegdrehte. Dieser ließ daraufhin von dem
Mädchen ab und legte sich zum Schlafen in die untere Koje. Der Vorfall wurde
am nächsten Tag nicht thematisiert.
Im zweiten Fall, eine Woche später, suchte der Angeklagte mit der Ge-
schädigten erneut in gleicher Weise den Rasthof auf. Als sie sich gegen
22.00 Uhr in der Fahrerkabine zum Schlafen legte, behielt die Geschädigte, da
sie insgeheim einen erneuten Übergriff befürchtete, ein T-Shirt sowie ihre Leg-
gins an. Als das Kind bereits im Begriff war einzuschlafen, näherte sich der
Angeklagte, der wiederum die abgeschiedene örtliche Lage erkannte und aus-
nutzen wollte, der Geschädigten erneut. Er streichelte das Mädchen über den
Kopf, faßte dann unter das T-Shirt an die Brust des Kindes und drückte diese
zusammen. Dann griff er unter die Leggins, rieb an der Scheide des Mädchens
und führte schließlich zwei Finger bis zum Mittelgelenk in die Scheide ein. Die
Geschädigte, die bis zu diesem Zeitpunkt im Halbschlaf war, erwachte, da das
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Einführen der Finger ihr Schmerzen bereitete. Sie ergriff die Hand des Ange-
klagten und zog sie mit den Worten: "Opa, laß das sein", aus ihrer Hose. Der
Angeklagte ließ von dem Kind ab; er sagte: "Schlaf' jetzt, ich hör jetzt auf, ich
gehe jetzt auch schlafen,", und legte sich in seine Koje. Zu den Tatzeiten war
der Angeklagte jeweils leicht alkoholisiert.
b) Das Landgericht hat in beiden Fällen - neben sexuellem Mißbrauch
bzw. schwerem sexuellen Mißbrauch von Kindern - die Voraussetzungen einer
sexuellen Nötigung gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB als gegeben angesehen.
Es hat angenommen, das Kind habe sich in einer schutzlosen Lage befunden.
Zwar habe auf dem belebten Parkplatz noch reger Betrieb geherrscht, auch
seien die Türen des LKWs von innen nicht verriegelt gewesen. Das Mädchen
habe auf dem Parkplatz aber niemanden gekannt und habe in der Abgeschie-
denheit der Kabine Hilfe Dritter nicht erwarten können. Ihre Verteidigungsmög-
lichkeiten seien weiter eingeschränkt gewesen, weil sie mit einem Übergriff
nicht gerechnet habe und auch nicht rechnen mußte. Dies sei dem Angeklag-
ten bewußt gewesen; er habe diese Lage ausgenutzt. Unter Hinweis auf die
Senatsentscheidung BGHSt 45, 253 hat das Landgericht ausgeführt, einer über
die sexuelle Handhabung hinausgehenden Nötigungshandlung im Sinne von
§ 240 Abs. 1 StGB bedürfe es nicht; die Tathandlung des § 177 Abs. 1 Nr. 3
StGB beschränke sich auf die sexuelle Handlung zum Nachteil des Kindes ge-
gen dessen Willen.
3) Der Schuldspruch (auch) wegen sexueller Nötigung im Fall 1 und we-
gen Vergewaltigung im Fall 2 hält rechtlicher Prüfung stand.
a) Der Senat hat zur Auslegung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der Fas-
sung des 33. StÄG und des 6. StrRG bereits in BGHSt 45, 253, 260 f. ent-
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schieden, daß § 177 Abs. 1 Nr. 3 eine über die sexuelle Handlung hinausge-
hende gesonderte Nötigungshandlung nicht voraussetzt; die Nötigung er-
schöpft sich vielmehr in der Vornahme der sexuellen Handlung gegen den
Willen des Opfers, wenn sich dieses in einer schutzlosen Lage befindet und
der Täter dies zu der Tat ausnutzt (vgl. im einzelnen BGHSt 45, 253, 257 ff.;
ebenso BGH NStZ 2002, 199 f.; BGH NStZ-RR 2003, 42; vgl. schon BGHSt 44,
228, 231 f.). Die sexuelle Nötigung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist
daher, anders als die Taten nach Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, ein einaktiges Delikt
(ebenso Laufhütte/Roggenbuck in LK, 11. Aufl., Nachtrag zu § 177 Rdn. 2;
Frommel in NK § 177 Rdn. 25 f.; Oberlies ZStW 114 [2002], 130, 144 ff.).
b) Soweit gegen diese Rechtsprechung in Teilen der Literatur Einwände
erhoben werden (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 177 Rdn. 16 ff.; Fischer
ZStW 112 [2000], 75 ff.; ders., NStZ 2000, 142; Lenckner/Perron in Schön-
ke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 177 Rdn. 11; Graul JR 2001, 117; Horn/Wolters
in SK-StGB, § 177 Rdn. 14 a; krit. auch Lackner/Kühl, StGB 24. Aufl. § 177
Rdn. 6), vermögen diese nicht zu überzeugen. Der Gesetzgeber hat die Aus-
nutzung einer schutzlosen Lage zur Beugung des entgegenstehenden Willens
des Opfers als selbständige Tatvariante neben Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 angese-
hen (BGHSt 44, 228, 231), welche eine zusätzliche Nötigungshandlung nicht
voraussetzt (vgl. BT-Drucks. 13/7663 S. 4, 5; BT- Drucks. 13/9064 S. 13).
c) Wenn das Opfer sich - wie vorliegend rechtsfehlerfrei festgestellt - in
einer objektiv schutzlosen Lage befindet, welche der Täter zur Vornahme einer
sexuellen Handlung gegen den Willen der betroffenen Person bewußt aus-
nutzt, kann es nach Auffassung des Senats nicht darauf ankommen, ob das
Opfer selbst diese Lage zum Tatzeitpunkt als solche erkennt und ob es sich
vor Zwangshandlungen oder Zufügung von über die sexuelle Handlung hi-
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nausgehenden sonstigen Übeln fürchtet. Auch durch überraschende, gegen
seinen Willen ausgeführte sexuelle Handlungen wird das Opfer zu deren Dul-
dung genötigt; nach dem Wortlaut des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB reicht es aus,
wenn der Täter hierzu eine schutzlose Lage ausnutzt.
Die Entscheidung des 3. Strafsenats vom 27. März 2003 - 3 StR
446/02 -, NStZ 2003, 533, steht dem nicht entgegen, denn dort ging es um eine
in der Person des Opfers begründete schutzlose Lage.
d) Der Einwand, daß damit die Mehrzahl der Fälle sexuellen Mißbrauchs
von Kindern (§ 176 Abs. 1 StGB) zu Verbrechen der sexuellen Nötigung wer-
den (vgl. Tröndle/Fischer aaO § 177 Rdn. 16 a), greift angesichts des Wort-
lauts und des Gesetzeszwecks nicht durch. § 176 Abs. 1 StGB setzt nicht vor-
aus, daß die sexuelle Handlung gegen den Willen des Kindes ausgeführt wird;
ist dies - wie hier - der Fall, so ist dem erhöhten Unrechtsgehalt durch tatein-
heitliche Verurteilung wegen sexueller Nötigung Rechnung zu tragen. Es ist in
ständiger Rechtsprechung anerkannt, daß bei sexueller Nötigung von Kindern
zwischen § 176 und § 177 StGB Tateinheit besteht.
e) Nach diesen Maßstäben begegnet vorliegend die Verurteilung wegen
tateinheitlich zum sexuellen Mißbrauch von Kindern (Fall 1) und zum schweren
sexuellen Mißbrauch von Kindern (Fall 2) begangener sexueller Nötigung
(Fall 1) bzw. Vergewaltigung (Fall 2) keinen rechtlichen Bedenken. Daß sich
die Geschädigte jeweils in schutzloser Lage befand und daß der Angeklagte
dies ausgenutzt hat, ergibt sich aus den Feststellungen des Landgerichts. Daß
die Geschädigte die sexuellen Handlungen nicht wollte, ergibt sich schon aus
ihren ablehnenden Reaktionen sowie daraus, daß sie, da sie einen weiteren
Übergriff des Angeklagten befürchtete, bei der zweiten Gelegenheit ihre Leg-
gins anzog, bevor sie sich zum Schlafen legte.
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Das Einführen der Finger in die Scheide des 9-jährigen Kindes im zwei-
ten Fall erfüllte die Voraussetzungen des § 176 a Abs. 1 Nr. 2 StGB, der eine
besondere Erniedrigung nicht voraussetzt. Es liegen aber auch die Vorausset-
zungen einer Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1 vor. Einer ausdrückli-
chen Erörterung, ob eine sexuelle Handlung, die mit dem Eindringen in den
Körper des Opfers verbunden ist, dieses besonders erniedrigt hat, bedarf es
bei erzwungenen Manipulationen an Scheide und After in der Regel nicht (vgl.
BGH NStZ 2000, 254; 2001, 598; NStZ-RR 2000, 356).
4) Auch im übrigen weist das angefochtene Urteil keine Rechtsfehler
zum Nachteil des Angeklagten auf. Seine Revision war daher zu verwerfen.
Rissing-van Saan Bode Otten
Rothfuß Fischer