Urteil des BGH vom 14.02.2007
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
VERSÄUMNISURTEIL
VI ZR 244/07 Verkündet
am:
16. September 2008
Böhringer-Mangold,
Justizamtsinspektorin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 256, BGB § 823 Abs. 1 Ah, BGB § 1004; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1,
Art. 12
a) Zur Zulässigkeit der Klage eines Theaterverlags auf Feststellung, dass der Insze-
nierung, Aufführung und Veröffentlichung eines Theaterstücks Persönlichkeits-
rechte nicht entgegenstehen.
b) Zur Frage der Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts bei kunstspezifi-
scher Betrachtung eines Theaterstücks mit Wirklichkeitsbezug unter Vermengung
tatsächlicher und fiktiver Schilderungen ("Ehrensache").
BGH, Versäumnisurteil vom 16. September 2008 - VI ZR 244/07 - OLG Köln
LG Köln
- 2 -
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom
16. September 2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Wellner,
Pauge, Stöhr und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 15. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Köln vom 18. September 2007 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Köln
vom 14. Februar 2007 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Beklagte ist die Mutter der am 31. Mai 2004 verstorbenen F.. Die
damals 14 Jahre alte Tochter wurde auf einem Parkplatz von einem türkischen
Heranwachsenden nach einem gemeinsam mit der 13jährigen Freundin von F.
und einem Freund des Täters unternommenen Ausflug mit zahlreichen Messer-
stichen getötet. Die Freundin wurde von dem Freund des Täters ebenfalls mit
Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Das Tatgeschehen erregte wegen sei-
ner Brutalität großes Aufsehen und war als sogenannter "Hagener Mädchen-
mord-Fall" Gegenstand bundesweiter Medienberichte. Die beiden Täter sind
rechtskräftig zu langjährigen Jugendstrafen verurteilt worden.
1
- 3 -
Die Klägerin ist der Theaterverlag des Dramatikers Lutz Hübner, der im
Jahr 2005 im Auftrag der Theater & Philharmonie Essen GmbH das Jugendthe-
aterstück "Ehrensache" schrieb. Die Verwertung sämtlicher Urheberrechte ein-
schließlich aller Nebenrechte an dem Stück übertrug er der Klägerin, die ihrer-
seits Aufführungsrechte an verschiedene Theater vergab. Am 9. Dezember
2005 wurde das Stück uraufgeführt.
2
Die Beklagte hat sich in zahlreichen gerichtlichen Verfahren gegen Auf-
führungen des Stücks gewandt. Sie sieht in dem Bühnenstück "Ehrensache"
eine teilweise detailgetreue Darstellung des Geschehens um den Tod ihrer
Tochter, die in der Hauptfigur der "Ellena" unschwer wiederzuerkennen sei.
Durch die Konzentration auf charakterliche und moralische Schwächen und die
Hinzudichtung unwahrer Tatsachen erscheine F. in der Figur der "Ellena" in
einem extrem negativen Licht, welches das Lebensbild ihrer Tochter entstelle
und deren postmortalen Achtungsanspruch verletze.
3
Die Klägerin erstrebt mit der vorliegenden negativen Feststellungsklage
eine verbindliche Klärung ihrer Verwertungsrechte. Sie hat geltend gemacht,
der "Hagener Mädchenmord" habe lediglich als eines von verschiedenen als
"Ehrenmord" apostrophierten Tötungsdelikten die Folie für das Bühnenwerk
gebildet, mit dem der Autor in einem Jugendstück kulturelle Prägungen der
zweiten und dritten Immigrantengeneration habe thematisieren wollen. Die fikti-
ve Rekonstruktion versuche, die aus einem vermeintlichen "Ehrenkodex" resul-
tierenden Motive und Konflikte offen zu legen und auf diese Weise zur Diskus-
sion unter Jugendlichen anzuregen. Die Leitfiguren seien erkennbar lediglich
Prototypen mit generalisierenden Zügen, sodass der Zuschauer in der Figur der
"Ellena" nicht die Tochter der Beklagten sehe.
4
- 4 -
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und gemäß dem zuletzt ge-
stellten Antrag der Klägerin festgestellt, dass der Inszenierung, Aufführung und
Veröffentlichung des Bühnenwerks "Ehrensache" Persönlichkeitsrechte der Be-
klagten und ihrer verstorbenen Tochter nicht entgegenstünden. Auf die Beru-
fung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit ihrer
vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wieder-
herstellung des erstinstanzlichen Urteils.
5
Entscheidungsgründe:
I.
Über die Revision war, da die Beklagte im Revisionstermin trotz rechtzei-
tiger Ladung nicht vertreten war, auf Antrag der Klägerin durch Versäumnisurteil
zu entscheiden. Das Urteil ist jedoch keine Folge der Säumnis, sondern beruht
auf einer Sachprüfung (vgl. BGHZ 37, 79, 81).
6
II.
Das Berufungsgericht äußert Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der
Klage, lässt diese jedoch dahinstehen, weil die Feststellungsklage jedenfalls
unbegründet sei. Das Bühnenstück "Ehrensache" verletze in rechtswidriger
Weise das postmortale Persönlichkeitsrecht der in der Figur der "Ellena" ohne
weiteres erkennbaren Tochter der Beklagten, weil es deren Intimleben in unzu-
lässiger Weise vor der Öffentlichkeit ausbreite und deren Lebensbild schwer-
wiegend verfälsche und entstelle. Auch wenn das Bühnenstück durchaus eine
achtenswerte Zielsetzung habe, müsse die Beklagte als Hüterin des postmorta-
7
- 5 -
len Persönlichkeitsrechts ihrer Tochter die Inszenierung, Aufführung und Veröf-
fentlichung des Stücks jedenfalls so lange nicht dulden, wie die Erinnerung an
die Tat und die Lebensumstände ihrer Tochter noch wach sei, wovon nach der
bislang verstrichenen Zeit von lediglich etwas mehr als drei Jahren ausgegan-
gen werden könne.
III.
Das Berufungsurteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht
stand.
8
1. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bestehen gegen die
Zulässigkeit der Klage keine Bedenken.
9
a) Nach § 256 Abs. 1 ZPO kann Gegenstand einer Feststellungsklage
grundsätzlich die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines ge-
genwärtigen Rechtsverhältnisses sein. Unter Rechtsverhältnis ist eine bestimm-
te, rechtlich geregelte Beziehung einer Person zu anderen Personen oder einer
Person zu einer Sache zu verstehen (vgl. BGHZ 22, 43, 47; BGH, Urteile vom
31. Mai 2000 - XII ZR 41/98 - NJW 2000, 2663, 2664 und vom 7. Juni 2001
- I ZR 21/99 - NJW 2001, 3789). Vorliegend ist das Klagebegehren dahin zu
verstehen, dass die Klägerin die Feststellung begehrt, dass zwischen ihr und
der Beklagten ein bestimmtes Rechtsverhältnis nicht besteht.
10
Der Klagegegenstand eines Rechtsstreits ist im Wege der Auslegung zu
ermitteln. Für die Auslegung von Prozesserklärungen, die der erkennende Se-
nat als Revisionsgericht selbst vornehmen kann (vgl. BGHZ 4, 328, 334; BGH,
Urteil vom 29. Juni 2000 - I ZR 29/98 - NJW-RR 2001, 620, 623 m.w.N.), ist
- ebenso wie bei materiell-rechtlichen Willenserklärungen - nicht allein der Wort-
11
- 6 -
laut maßgebend. Entscheidend ist vielmehr der erklärte Wille, wie er auch aus
Begleitumständen und nicht zuletzt der Interessenlage hervorgehen kann. Für
die Auslegung eines Klageantrags ist daher auch die Klagebegründung heran-
zuziehen (vgl. BGH, Urteil vom 1. Dezember 1997 - II ZR 312/96 - NJW-RR
1998, 1005). Im Zweifel gilt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung ver-
nünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (vgl. Senatsur-
teil vom 6. Juni 2000 - VI ZR 172/99 - VersR 2000, 1521, 1522 m.w.N.).
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist Gegenstand des
Rechtsstreits nicht allein die Frage der Rechtswidrigkeit einer bereits erfolgten
(vgl. dazu Senatsurteil BGHZ 68, 331, 332 f.) oder aber für die Zukunft befürch-
teten Persönlichkeitsrechtsverletzung. Das in Form einer negativen Feststel-
lungsklage geltend gemachte Begehren der Klägerin ist umfassender. Streitge-
genstand einer negativen Feststellungsklage ist das Rechtsverhältnis, dessen
Nichtbestehen die klagende Partei gerichtlich festgestellt wissen will (Zöl-
ler/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., Einleitung, Rn. 78 m.w.N.). Dieses ist vorlie-
gend der Anspruch der Beklagten auf Unterlassung der Aufführung und Verbrei-
tung des Bühnenstücks "Ehrensache". Der Sache nach erstrebt die Klägerin die
Feststellung, dass dieser Anspruch nicht besteht. Der Umstand, dass die Be-
klagte bislang nur einzelne Theater, nicht aber die Klägerin auf Unterlassung in
Anspruch genommen hat, bedeutet nicht, dass zwischen den Parteien dieses
Rechtsstreits kein Rechtsverhältnis besteht. Die Beklagte hat die von ihr ge-
genüber den Theatern erhobenen Unterlassungsansprüche nämlich nicht allein
auf die Ausgestaltung der jeweiligen Inszenierung gestützt, sondern - ebenso
wie im vorliegenden Rechtsstreit - die von ihr geltend gemachte Verletzung des
Persönlichkeitsrechts in erster Linie in dem Theaterstück selbst gesehen. Ihr
geht es nicht um ein Aufführungsverbot hinsichtlich bestimmter, das Persönlich-
keitsrecht besonders beeinträchtigender Szenen oder Inszenierungen, sondern
darum, generell eine Veröffentlichung und Verbreitung des von ihr beanstande-
12
- 7 -
ten Dramas in der vorliegenden Fassung zu verhindern. Die Beklagte macht
nicht etwa geltend, dass die Klägerin aus urheberrechtlichen Gründen das Werk
nicht verbreiten dürfe (vgl. dazu BGH, Urteil vom 7. Juni 2001 - I ZR 21/99 -
aaO), sondern sieht vielmehr in der Verbreitung, zu der auch die Übertragung
der Verwertungsrechte zählt, eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Damit
stellt sich die Frage der Zulässigkeit der Verbreitung des Werks auch zwischen
den Parteien dieses Rechtsstreits, denn mit der Übertragung der Verwertungs-
rechte ist die Klägerin selbst unmittelbar an der Verbreitung beteiligt. Mithin be-
trifft die von der Beklagten beanspruchte Unterlassung auch ein zwischen ihr
und der Klägerin bestehendes Rechtsverhältnis.
b) Das für die Zulässigkeit der Feststellungsklage gemäß § 256 Abs. 1
ZPO erforderliche Feststellungsinteresse liegt vor. Ein rechtliches Interesse an
einer alsbaldigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines
Rechtsverhältnisses ist gegeben, wenn dem Recht oder der Rechtslage der
klagenden Partei eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und wenn
das erstrebte Urteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen (BGHZ 69, 144,
147; BGH, Urteil vom 7. Februar 1986 - V ZR 201/84 - NJW 1986, 2507
m.w.N.). Als Inhaberin der Verwertungsrechte hat die Klägerin ein schützens-
wertes Interesse daran, dass die durch das Vorgehen der Beklagten gegen ein-
zelne Theater entstandene Unsicherheit bezüglich der Rechtsfrage beseitigt
wird, ob das Theaterstück veröffentlicht werden darf und von den Bühnen, de-
nen die Klägerin die Verwertung der Urheberrechte übertragen hat oder zukünf-
tig überträgt, ungehindert aufgeführt werden kann oder ob die Beklagte die Ver-
öffentlichung und Verbreitung des Werks durch Geltendmachung von Unterlas-
sungsansprüchen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts verbieten lassen
kann.
13
- 8 -
Dem steht vorliegend nicht entgegen, dass bei einer negativen Feststel-
lungsklage das rechtliche Interesse des Klägers regelmäßig aus einer vom Be-
klagten aufgestellten Bestandsbehauptung ("Berühmung") der vom Kläger ver-
neinten Rechtslage entsteht (BGHZ 91, 37, 41; BGH, Urteil vom 22. März 1995
- XII ZR 20/94 - NJW 1995, 2032, 2033 m.w.N.). Eine ausdrückliche Berüh-
mung des potentiellen Gläubigers ist dafür nämlich nicht erforderlich. Ein Fest-
stellungsinteresse kann bereits gegeben sein, wenn der Kläger befürchten
muss, dass ihm der Beklagte aufgrund seines vermeintlichen Rechts ernstliche
Hindernisse entgegensetzen werde. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der
Beklagte mit einer nach Treu und Glauben zu erwartenden eindeutigen Erklä-
rung zurückhält (BGHZ 69, 37, 46 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist vorliegend
gegeben, da die Beklagte nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststel-
lungen die von ihr verlangte Unterlassungsverpflichtungserklärung, die zur Be-
seitigung der entstandenen Rechtsunsicherheit geeignet gewesen wäre, nicht
abgegeben hat. Im Hinblick darauf kann offenbleiben, ob das aufseiten der Klä-
gerin erforderliche Feststellungsinteresse unter den besonderen Umständen
des vorliegenden Falles nicht schon im Hinblick darauf zu bejahen ist, dass die
Beklagte sich gegenüber zahlreichen Theatern eines Anspruchs auf Unterlas-
sung der Aufführung und damit auch der Verbreitung des Theaterstücks be-
rühmt hat.
14
2. Die Klage ist auch begründet. Der Inszenierung, Aufführung und Ver-
öffentlichung des Bühnenwerks "Ehrensache" stehen Persönlichkeitsrechte der
Beklagten und ihrer verstorbenen Tochter nicht entgegen.
15
a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verletzt das Bühnen-
stück "Ehrensache" nicht das postmortale Persönlichkeitsrecht der Tochter der
Beklagten. Anerkannt ist, dass die Persönlichkeit des Menschen über den Tod
hinaus geschützt wird. Dies folgt aus dem Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG,
16
- 9 -
wonach die Würde des Menschen unantastbar ist. Demgegenüber kann das
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG nur einer lebenden Person zukommen, weil
dieses auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gerichtete Grundrecht die
Existenz einer wenigstens potentiell oder zukünftig handlungsfähigen Person,
also eines lebenden Menschen als unabdingbar voraussetzt (vgl. BVerfGE 30,
173, 194 = NJW 1971, 1645, 1647; Senatsurteil vom 6. Dezember 2005 - VI ZR
265/04 - VersR 2006, 276 m.w.N.). Die Schutzwirkungen des postmortalen Per-
sönlichkeitsrechts sind nicht identisch mit denen, die sich aus Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG für den Schutz lebender Personen ergeben.
Postmortal geschützt wird zum einen der allgemeine Achtungsanspruch, der
dem Menschen als solchem zusteht, zum anderen der sittliche, personale und
soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erwor-
ben hat (BVerfG, AfP 2008, 161 = NJW 2008, 1657 [LS]). Steht fest, dass eine
Handlung das postmortale Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt, ist zugleich ihre
Rechtswidrigkeit geklärt. Der Schutz kann nicht etwa im Zuge einer Güterabwä-
gung relativiert werden (vgl. BVerfG, VersR 2001, 1252, 1254; BVerfG, NJW
2006, 3409).
Wenn - wie hier - zu untersuchen ist, ob ein dem Schutz des Art. 5 Abs. 3
GG unterstehendes Kunstwerk die Menschenwürde eines Verstorbenen beein-
trächtigt, kommt es auf eine Interpretation des Aussagegehalts dieses Kunst-
werks an. Bei dieser Interpretation sind die Besonderheiten der künstlerischen
Ausdrucksform zu berücksichtigen. Zu den Spezifika literarischer Kunstformen
wie etwa eines zeitgenössischen Theaterstücks gehört, dass solche Stücke
zwar häufig an die Realität anknüpfen, der Künstler dabei aber eine neue ästhe-
tische Wirklichkeit schafft. Das erfordert eine kunstspezifische Betrachtung zur
Bestimmung des durch das Theaterstück im jeweiligen Handlungszusammen-
hang dem Leser nahe gelegten Wirklichkeitsbezugs, um auf dieser Grundlage
die Schwere der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts bewerten zu kön-
17
- 10 -
nen. Die künstlerische Darstellung ist an einem kunstspezifischen, ästhetischen
Maßstab zu messen. Dabei ist zu beachten, ob und inwieweit das "Abbild" ge-
genüber dem "Urbild" durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine
Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselb-
ständigt erscheint, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des All-
gemeinen, Zeichenhaften der "Figur" objektiviert ist. Ein literarisches Werk, vor-
liegend ein Theaterstück, ist zunächst als Fiktion anzusehen, das keinen Fakti-
zitätsanspruch erhebt. Die Vermutung der Fiktionalität gilt im Ausgangspunkt
auch dann, wenn hinter den Figuren reale Personen als Urbilder erkennbar sind
(BVerfG, NJW 2008, 39, 42; Senatsurteil vom 10. Juni 2008 - VI ZR 252/07 -
VersR 2008, 1080, 1081).
Wie das Bundesverfassungsgericht nach Erlass des Berufungsurteils in
dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Beklagten, die in einem
Parallelverfahren gegen ein Theater unterlegen war (LG Essen, ZUM-RD 2007,
92, nachfolgend: OLG Hamm, Beschluss vom 16. Mai 2007 - 3 U 258/06), ent-
schieden hat, wird bei kunstspezifischer Betrachtung die Menschenwürde der
verstorbenen Tochter der Beklagten durch das Theaterstück nicht angetastet.
18
Die Beklagte macht eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts mit der
Begründung geltend, ihre Tochter werde in dem Theaterstück verzerrt und ein-
seitig negativ dargestellt. Damit kann sie keinen Erfolg haben. Dem Theater-
stück "Ehrensache" dienten die Ereignisse um die Tötung der Tochter der Be-
klagten als Vorlage. In dem Stück werden episodenhaft und zum Teil in Form
von Rückblenden der Ablauf des Tages bis zur Tat und Ereignisse aus dem
Leben der getöteten "Ellena" erzählt, deren Figur an die Tochter der Beklagten
angelehnt ist. Soweit diese beanstandet, in dem Theaterstück würden Bege-
benheiten gezeigt, die sich so nicht zugetragen hätten, begründet dies keine
Verletzung der Menschenwürde. Mit dieser Begründung macht die Beklagte
19
- 11 -
dem Autor des Theaterstücks gerade die Fiktionalität seines Werks zum Vor-
wurf. Nicht schon dadurch, dass eine bestimmte Person erkennbar Vorbild einer
Figur in einem literarischen Kunstwerk ist, wird dem Leser oder Zuschauer nahe
gelegt, alle Handlungen und Eigenschaften dieser Figur dieser Person zuzu-
schreiben. Für ein literarisches Werk, das an die Wirklichkeit anknüpft, ist viel-
mehr kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt.
Unter diesen Umständen verfehlte es den Grundrechtsschutz solcher Literatur,
wenn man die Persönlichkeitsrechtsverletzung bereits in der Erkennbarkeit als
Vorbild einerseits und in bestimmten negativen Zügen der Figur andererseits
sähe (vgl. BVerfG NJW 2008, 39, 42; Senatsurteil vom 10. Juni 2008 - VI ZR
252/07 - aaO). Die Beklagte bringt über die bloße Erkennbarkeit ihrer Tochter
als Vorbild der Figur der "Ellena" hinaus keine Anhaltspunkte vor, die es nahe
legen würden, bestimmte in dem Stück dargestellte Ereignisse als tatsächlich
geschehen und damit die grundsätzlich geltende Vermutung der Fiktionalität
daher als widerlegt anzusehen. Solche Anhaltspunkte sind auch nicht ersicht-
lich, zumal die Beklagte sich zu einem beträchtlichen Teil gegen Passagen
wendet, in denen andere Figuren, deren Unzuverlässigkeit im Laufe des Stücks
sogar ausdrücklich thematisiert wird, Handlungen und Eigenschaften der Figur
der "Ellena" schildern und bewerten (BVerfG, AfP 2008, 161 = NJW 2008, 1657
[LS]).
Wie die Revision mit Recht geltend macht, tastet das Theaterstück die
Menschenwürde der Tochter der Beklagten auch insoweit nicht an, als in ihm
Handlungen mit sexuellem Gehalt geschildert oder gezeigt werden. Zwar kann
die realistische und detaillierte Schilderung solcher Handlungen lebender Per-
sonen in einem literarischen Text die absolut geschützte Intimsphäre des Be-
troffenen beeinträchtigen und deshalb unzulässig sein. Inwieweit sich dieser
Gesichtspunkt auf das postmortale Persönlichkeitsrecht übertragen lässt, be-
darf hier indes keiner Entscheidung. Eine Beeinträchtigung der Intimsphäre
20
- 12 -
setzt jedenfalls voraus, dass der Text es nahe legt, die geschilderten Handlun-
gen als Berichte über tatsächliche Ereignisse zu begreifen, etwa weil es sich
um realistische und detaillierte Beschreibungen von Geschehnissen handelt,
die der Autor selbst erlebt hat, und intime Details einer Frau geschildert werden,
die deutlich als tatsächliche Intimpartnerin des Autors erkennbar ist (vgl. BVerfG
NJW 2008, 39, 44; Senatsurteil vom 10. Juni 2008 - VI ZR 252/07 - aaO). Dar-
an fehlt es hier.
Schließlich bedarf das postmortale Persönlichkeitsrecht der Tochter der
Beklagten auch nicht deshalb besonderen Schutzes, weil sie zum Zeitpunkt
ihres Todes noch minderjährig war. Der verstärkte Schutz des Persönlichkeits-
rechts Minderjähriger findet seinen Grund in dem Bedürfnis, deren weitere Per-
sönlichkeitsentwicklung zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 101, 361, 385 f. =
VersR 2000, 773, 775; BVerfG, NJW 2008, 39, 41; Senatsurteil vom 5. Oktober
2004 - VI ZR 255/03 - VersR 2005, 125, 126 m.w.N.), was bei einer Verstorbe-
nen nicht in Betracht kommt.
21
b) Das Bühnenstück "Ehrensache" verletzt auch nicht das durch Art. 2
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht (vgl.
BVerfGE 67, 213, 228 = NJW 1985, 261; Senatsurteil vom 11. März 2008
- VI ZR 189/06 - VersR 2008, 695, 697 m.w.N.) der Beklagten. Wie das Landge-
richt zutreffend ausgeführt hat, wird die Mutter der "Ellena" in dem Bühnenstück
"Ehrensache" nicht dargestellt. Sie findet nur mittelbar Erwähnung, indem ein
Streit zwischen den Eltern als Beweggrund für das Verhalten von "Ellena" an-
gegeben wird. Auch insoweit sind indessen keine Anhaltspunkte ersichtlich, die
es nahe legen würden, diese in dem Stück dargestellte Vorgeschichte als tat-
sächlich geschehen anzusehen. Die grundsätzlich geltende Vermutung der Fik-
tionalität ist auch insoweit nicht widerlegt.
22
- 13 -
IV.
23
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
Müller Wellner Pauge
Stöhr Zoll
Vorinstanzen:
LG Köln, Entscheidung vom 14.02.2007 - 28 O 292/06 -
OLG Köln, Entscheidung vom 18.09.2007 - 15 U 64/07 -