Urteil des BGH vom 30.04.2014

BGH: rechtliches gehör, betriebskosten, korrespondenz, beweisantrag, miete, vertragsabschluss, begriff, gespräch, prozessrecht, verminderung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZR 124/12
vom
30. April 2014
in dem Rechtsstreit
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. April 2014 durch den
Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-
Boeger und Dr. Botur
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 1 wird die
Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesge-
richts Köln vom 21. September 2012 zugelassen, soweit das
Oberlandesgericht zum Nachteil der Klägerin zu 1 entschieden
hat.
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 gegen das Ur-
teil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom
21. September 2012 wird verworfen.
Auf die Revision der Klägerin zu 1 wird das vorgenannte Urteil im
Kostenpunkt und im Umfang der Zulassung aufgehoben. Die Sa-
che wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens,
einschließlich der Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
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Gründe:
I.
Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der ehemali-
gen Beklagten (nachfolgend Insolvenzschuldnerin). Die Parteien streiten um die
Verpflichtung der Insolvenzschuldnerin zur Zahlung von Umsatzsteuer auf ein
vertraglich vereinbartes Nutzungsentgelt und eine Betriebskostenpauschale.
Die Klägerin zu 1 betreibt ein Krankenhaus, die Klägerin zu 2 unterhielt
dort unter Nutzung der vorhandenen Ressourcen (OP-Raum, Aufwachraum,
medizinische Geräte, Catering u.a.) eine orthopädische Privatklinik, die die In-
solvenzschuldnerin im Wege der Untervermietung übernehmen sollte. Nach
umfangreichen Verhandlungen schloss die Insolvenzschuldnerin mit der Kläge-
rin zu 1 einen Nutzungsvertrag, der sie zur Nutzung der vorhandenen Ressour-
cen des Krankenhauses gegen Zahlung einer Pauschalvergütung in Höhe von
jährlich 1.100.000
€ berechtigte. Mit der Klägerin zu 2 schloss die Insolvenz-
schuldnerin einen Untermietvertrag über die Praxisräume. Obwohl die an den
Vertragsverhandlungen beteiligten Personen ausweislich des vorvertraglichen
Schriftverkehrs die verhandelten Zahlungsbeträge stets als Nettobeträge be-
zeichnet haben, findet sich weder in Ziffer 9 des Nutzungsvertrags bezüglich
der Pauschalvergütung noch in § 5 des Untermietvertrags bezüglich der Be-
triebskosten eine ausdrückliche Regelung, ob die Insolvenzschuldnerin auf die-
se Beträge zusätzlich Umsatzsteuer zu entrichten hat.
Mit der vorliegenden Klage verlangt die Klägerin zu 1 Umsatzsteuer auf
die Pauschalvergütung für die Mitnutzung der Krankenhauseinrichtungen in den
Monaten Juni 2010 bis August 2011 in Höhe von monatlich 17.416,67
€. Die
Klägerin zu 2 verlangt von der Insolvenzschuldnerin Umsatzsteuer in Höhe von
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monatlich 380,00
€ auf die Betriebskostenpauschale für die Monate April 2010
bis August 2011.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Insol-
venzschuldnerin hat das Oberlandesgericht die Klage unter Abänderung der
landgerichtlichen Entscheidung abgewiesen.
Nachdem die Klägerinnen gegen das Berufungsurteil Nichtzulassungs-
beschwerde eingelegt hatten, ist mit Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Okto-
ber 2012 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin
eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt worden. Die Kläge-
rinnen haben den Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 6. Mai 2013 wieder aufge-
nommen. Nach Zulassung der Revision möchten die Klägerinnen die Feststel-
lung der erstinstanzlich zuerkannten Haupt- und Nebenforderungen zur Insol-
venztabelle erreichen.
II.
Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwer-
de der Klägerin zu 1 ist begründet. Die insoweit zugelassene Revision führt zur
Aufhebung des Berufungsurteils, soweit darin zum Nachteil der Klägerin zu 1
entschieden worden ist, und im Umfang der Aufhebung zur Zurückverweisung
der Sache an das Berufungsgericht (§ 544 Abs. 7 ZPO). Die Nichtzulassungs-
beschwerde der Klägerin zu 2 ist unzulässig.
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 ist unzulässig, weil
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000
€ nicht
übersteigt, § 26 Nr. 8 EGZPO.
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a) Für die Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 26 Nr. 8
EGZPO ist der Wert des Beschwerdegegenstands aus dem beabsichtigten Re-
visionsverfahren maßgebend (BGH Beschluss vom 25. September 2013
- VII ZR 340/12 - juris Rn. 3). Dieser ist im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung
ohne Bindung an eine Streitwertfestsetzung durch das Berufungsgericht von
Amts wegen zu bestimmen (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Juli 2005 - XII ZR
295/02 - NJW-RR 2005, 1728).
b) Der Wert des Beschwerdegegenstands richtet sich im vorliegenden
Fall allerdings nicht nach § 182 InsO. Nach dieser Vorschrift, die auch für die
Ermittlung des Werts der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer gilt
(vgl. BGH Beschluss vom 25. September 2013 - VII ZR 340/12 juris Rn. 3
mwN), bestimmt sich der Wert des Streitgegenstandes einer Klage auf Feststel-
lung einer Forderung, deren Bestand vom Insolvenzverwalter oder von einem
Insolvenzgläubiger bestritten wird, grundsätzlich nur nach dem Betrag, der bei
der Verteilung der Insolvenzmasse für die Forderung zu erwarten ist. Für die
Ermittlung der erforderlichen Beschwer ist jedoch der Zeitpunkt der Einlegung
des Rechtsmittels maßgeblich; durch eine spätere Verminderung der Be-
schwerdesumme wird das Rechtsmittel nicht unzulässig (BGH Urteil vom
17. Juli 2008 - IX ZR 126/07 - NJW-RR 2009, 126 Rn. 5).
Die Klägerinnen haben die Nichtzulassungsbeschwerde zu einem Zeit-
punkt eingelegt, als das Insolvenzverfahren über das Vermögen der ehemali-
gen Beklagten noch nicht eröffnet war. Erst nach der Wiederaufnahme des
durch die Insolvenzeröffnung unterbrochenen Verfahrens haben die Klägerin-
nen ihre Klageanträge geändert und auf Feststellung der erstinstanzlich zuer-
kannten Haupt- und Nebenforderungen zur Insolvenztabelle angetragen. Des-
halb bestimmt sich im vorliegenden Fall der Wert der Beschwer nicht nach
§ 182 InsO, sondern nach der Höhe der ursprünglichen Klageforderungen.
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Da die ursprünglich geltend gemachte Forderung der Klägerin zu 2 je-
doch nur 6.922,83
€ beträgt, ist insoweit der Beschwerdewert des § 26 Nr. 8
EGZPO nicht erreicht. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 ist
daher als unzulässig zu verwerfen. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläge-
rin zu 1 ist dagegen zulässig, da sie durch das Berufungsurteil in Höhe ihrer
zunächst geltend gemachten Klageforderung von 254.863,94
€ beschwert ist.
c) Entgegen der Auffassung der Nichtzulassungsbeschwerde können für
die Berechnung des Beschwerdewerts die beiden Klageforderungen nicht ad-
diert werden. Beide Klägerinnen machen jeweils eine selbständige Forderung
gegen den Beklagten geltend. Sie sind somit einfache Streitgenossen nach
§§ 59, 60 ZPO. Daraus folgt, dass zwei voneinander unabhängige Prozess-
rechtsverhältnisse bestehen, die nur äußerlich miteinander zur gemeinsamen
Verhandlung und Entscheidung verbunden sind, im Übrigen aber selbständige
Verfahren darstellen (Zöller/Vollkommer ZPO 30. Aufl. § 61 Rn. 1 und 8). Des-
halb ist die Nichtzulassungsbeschwerde eines Streitgenossen nur dann zuläs-
sig, wenn seine mit der Revision geltend zu machende Beschwer den maßgeb-
lichen Wert des § 26 Nr. 8 EGZPO überschreitet (Thomas/Putzo/Hüßtege ZPO
34. Aufl. § 26 EGZPO Rn. 15). Dies ist für die Klägerin zu 2 nicht der Fall.
2. Zu Recht rügt die Klägerin zu 1, dass das Berufungsgericht ihren An-
spruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat, weil es bei der
Auslegung von § 9 des Nutzungsvertrags entscheidungserheblichen Vortrag
und Beweisantritte der Klägerin zu 1 nicht berücksichtigt hat.
a) Das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gebietet
es, dass sich das Gericht mit allen wesentlichen Punkten des Vortrags einer
Partei auseinandersetzt. Zwar muss nicht jede Erwägung in den Urteilsgründen
ausdrücklich erörtert werden (§ 313 Abs. 3 ZPO). Aus dem Gesamtzusammen-
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hang der Gründe muss aber hervorgehen, dass das Gericht das zentrale, ent-
scheidungserhebliche Vorbringen einer Partei berücksichtigt und in seine Über-
legungen mit einbezogen hat. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann auch
in der Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots liegen, wenn
diese im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (Senatsbeschluss vom
7. September 2011 - XII ZR 114/10 - GuT 2012, 268 Rn. 9 mwN). Ein solcher
Verstoß liegt hier vor, weil das Berufungsgericht bei seinen allein am Wortlaut
der Ziffer 9.1 des Nutzungsvertrags orientierten Erwägungen zur Auslegung der
Entgeltklausel nicht erkennen lässt, ob es den Vortrag der Klägerin zu 1 hierzu
sowie den damit verbundenen Beweisantritt zur Kenntnis genommen und in
seine Überlegungen einbezogen hat.
b) Zwar ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
die Auslegung von Individualvereinbarungen grundsätzlich Sache des Tatrich-
ters. Dessen Auslegung unterliegt nur einer eingeschränkten revisionsrechtli-
chen Überprüfung dahin, ob der Auslegungsstoff vollständig berücksichtigt wor-
den ist, ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, sonstige
Erfahrungssätze oder die Denkgesetze verletzt sind oder ob die Auslegung auf
Verfahrensfehlern beruht (vgl. Senatsurteil vom 21. Januar 2009 - XII ZR
79/07 - NJW-RR 2009, 593 Rn. 18; BGHZ 194, 301 = NJW 2012, 3505 Rn. 14
mwN). Ein solcher revisionsrechtlich beachtlicher Verfahrensfehler liegt hier
jedoch vor, weil das Berufungsgericht wesentliche Umstände für die Auslegung
entgegen Art. 103 Abs. 1 GG, mithin unter Verstoß gegen Verfahrensvorschrif-
ten, nicht berücksichtigt hat.
c) Das Berufungsgericht hat zur Auslegung der Entgeltregelung in Ziffer
9.1 des Nutzungsvertrags nur ausgeführt, der abgeschlossene Vertrag sei in
Bezug auf die Vergütungsregelung eindeutig und klar. Der Begriff "sämtliche
Leistungen" in Ziffer 9.1 des Nutzungsvertrags erfasse auch die Umsatzsteuer,
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zumal eine Pauschalvergütung vereinbart worden sei. Aufgrund des eindeuti-
gen Wortlauts der Klausel sei für eine Auslegung kein Raum. Auch der vorver-
tragliche Schriftverkehr zwischen den Parteien lasse keinen Schluss darauf zu,
dass die jährliche Nutzungspauschale als Nettobetrag angesehen worden wäre.
Eine ergänzende Vertragsauslegung scheide ebenfalls aus.
Damit stellt das Berufungsgericht ausschließlich auf den Wortlaut der
Vereinbarung in Ziffer 9. 1 des Nutzungsvertrags ab. Es meint, dieser Wortlaut
sei eindeutig und deshalb komme eine weitere Auslegung nicht in Betracht.
Diese Ausführungen des Berufungsgerichts verstoßen gegen das sich aus den
§§ 133, 157 BGB ergebende Verbot einer sich ausschließlich am Wortlaut ori-
entierenden Interpretation. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt
bleiben, ob der Wortlaut der Vereinbarung in Ziffer 9.1 des Nutzungsvertrags
tatsächlich so eindeutig ist, wie das Berufungsgericht annimmt. Auch ein klarer
und eindeutiger Wortlaut einer Erklärung bildet keine Grenze für die Auslegung
anhand der Gesamtumstände. Das Berufungsgericht verkennt, dass sich die
Feststellung, ob eine Erklärung eindeutig ist oder nicht, erst durch eine alle Um-
stände
berücksichtigende
Auslegung
treffen
lässt
(Senatsurteil
vom
19. Dezember 2001 - XII ZR 281/99 - NJW 2002, 1260, 1261 mwN). Es gehört
zu den anerkannten Grundsätzen für die Auslegung einer Individualvereinba-
rung, dass zwar ihr Wortlaut den Ausgangspunkt der Auslegung bildet, dass
jedoch der übereinstimmende Parteiwille dem Wortlaut und jeder anderen In-
terpretation vorgeht (BGH Beschluss vom 5. April 2005 - VIII ZR 160/04 - NJW
2005, 1950, 1951 mwN). Schon wegen dieses Vorrangs des von der Klägerin
zu 1 behaupteten übereinstimmenden Parteiwillens hätte das Berufungsgericht
den Beweisantrag der Klägerin zu 1 nicht übergehen dürfen. Soweit das Beru-
fungsgericht ausführt, die vorvertragliche Korrespondenz lasse nicht darauf
schließen, dass die Parteien die Summe von 1.100.000
€ als Nettobetrag ange-
sehen haben, weil sie keinen Niederschlag in der schriftlichen Vertragsurkunde
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gefunden hätte, übersieht das Berufungsgericht, dass der Inhalt der vorvertrag-
lichen Verhandlungen für die Auslegung eines Vertrages entscheidende Bedeu-
tung haben kann (Senatsurteil vom 19. Dezember 2001 - XII ZR 281/99 - NJW
2002, 1260, 1261 mwN). Das Berufungsgericht hätte damit Anlass gehabt, für
die Auslegung die Interessenlage der Beteiligten näher aufzuklären. Wesentli-
che Erkenntnisse für die Auslegung hätten sich dabei aus der Erhebung der von
der Klägerin zu 1 angebotenen Beweise ergeben können.
d) Die Klägerin zu 1 hat bereits erstinstanzlich vorgetragen und unter
Beweis gestellt, dass sich ihre Geschäftsführerin und der Zeuge Prof. Dr. S. bei
einem abschließenden Gespräch am 16. Februar 2010 über die Höhe der Pau-
schalvergütung, die Miete und die Betriebskosten geeinigt hätten und das Er-
gebnis dieses Gesprächs in dem von der Klägerin zu 1 vorgelegten Schreiben
des Zeugen W. an den Zeugen Dr. H. vom 19. Februar 2010 festgehalten wor-
den sei. Aus diesem Schreiben gehe hervor, dass sich die Beteiligten auf ein
jährliches pauschales Nutzungsentgelt von netto 1.100.000
€ und einen jährli-
chen Nettomietzins von 186.000
€, also auf ein Jahresentgelt von insgesamt
1.286.000
€ netto verständigt haben. Der Wortlaut von Ziffer 9.1 in der von dem
Zeugen Dr. H. erstellten Vertragsurkunde gebe deshalb den Parteiwillen unzu-
treffend wieder. Dafür spreche auch die vor Vertragsabschluss gewechselte
Korrespondenz, in der die Beteiligten ausnahmslos von Nettobeträgen ausge-
gangen seien.
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e) Das angefochtene Urteil lässt nicht erkennen, dass das Berufungsge-
richt dieses Vorbringen der Klägerin zu 1 sowie den Beweisantritt zur Kenntnis
genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Klägerin zu 1 wird dadurch in
ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise ver-
letzt (§ 544 Abs. 7 ZPO).
Dose
Schilling
Günter
Nedden-Boeger
Botur
Vorinstanzen:
LG Köln, Entscheidung vom 16.03.2012 - 16 O 200/11 -
OLG Köln, Entscheidung vom 21.09.2012 - 1 U 37/12 -
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