Urteil des BGH vom 21.11.2012
BGH: androhung, notwehr, anzeichen, verfügung, angriff, gefahr, abschätzung, urlaub, freispruch, bewusstlosigkeit
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StR 311/12
vom
21. November 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung mit Todesfolge u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des General-
bundesanwalts, zu Ziffer 2. auf dessen Antrag, und des Beschwerdeführers am
21. November 2012 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-
gerichts Wiesbaden vom 19. Januar 2012 mit den Fest-
stellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revision des Nebenklägers H. gegen das vorbezeich-
nete Urteil wird als unbegründet verworfen.
Der Nebenkläger H. hat die Kosten seines Rechtsmittels
sowie die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwen-
digen Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit To-
desfolge in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe
von acht Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf
die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision;
der Nebenkläger H. begehrt mit der Sachrüge die Verurteilung des Ange-
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klagten wegen versuchten Totschlags. Die Nachprüfung des Urteils auf Grund
der Revisionsrechtfertigung des Nebenklägers H. hat keinen Rechtsfehler
zugunsten des Angeklagten ergeben, wie der Generalbundesanwalt in seiner
Antragsschrift im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat. Auf das Rechtsmittel des
Angeklagten war das Urteil mit den Feststellungen aufzuheben.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen der zur Tatzeit
22 Jahre alte Angeklagte und sein Freund K. H. , die beide von dunkle-
rer Hautfarbe sind, am 21. Mai 2011 gegen 0.30 Uhr auf dem Gelände der
Fachhochschule W. auf die Geschädigten G. und H. . Der An-
geklagte und K. H. saßen auf einer Bank und tranken Alkohol, G.
und H. befanden sich auf dem Rückweg von einer Tankstelle, wo sie für eine
in den nahe gelegenen Schrebergärten stattfindende Grillfeier Grillkohle und
Bier gekauft hatten. Es entwickelte sich aus einer Distanz von etwa 10 Metern
eine Diskussion zwischen G. und K. H. , in deren Verlauf G.
zu diesem sagte "Du fühlst dich wohl cool, Nigger". Als K. H. "Verpisst
Euch!" erwiderte, begab sich G. zu der Sitzbank. Während der verbalen
Auseinandersetzung oder kurz zuvor hatte der Geschädigte H. einen Anruf
von einem weiteren Partyteilnehmer erhalten, dem H. mitteilte, dass es noch
Ärger mit zwei auf einer Bank sitzenden Personen geben könne, auf den sie
sich aber nicht einlassen würden; Hilfe sei nicht nötig. K. H. und der
Angeklagte missverstanden das Telefonat allerdings dahingehend, dass H.
Hilfe herbeirief. Deshalb telefonierte K. H. mit einem Freund, um die-
sen als Verstärkung herbeizurufen. Noch während dieses Gespräches erhielt er
von G. , der von großer Statur war (2,00 m, 100 kg), einen Schubs oder
Stoß gegen die Brust. Nicht ausschließbar versetzte G. dem K. H.
auch Faustschläge, die dieser erwiderte. Nunmehr schlug auch der Geschädig-
te H. auf K. H. ein, der sich zwar wehrte, jedoch bald zu Boden
ging. Der Angeklagte, der seinem Freund helfen wollte, zog zu diesem Zweck
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aus seiner Bauchtasche ein Einhandmesser mit einer Klingenlänge von knapp
7 cm, das er für etwaige Auseinandersetzungen mit sich führte, klappte es auf
und begab sich in Richtung der anderen Beteiligten. G. , der das Messer
nicht bemerkt hatte, wendete sich nunmehr dem Angeklagten zu und schlug
auch diesem ins Gesicht, während H. auf den am Boden liegenden K.
H. eintrat. Als H. von dem inzwischen bewusstlosen K. H. ab-
ließ und sich zusammen mit G. dem Angeklagten zuwenden konnte, stach
dieser, um den Angriff zu beenden, zunächst drei Mal mit Verletzungsvorsatz
auf G. ein, der zwei Stiche in das rechte Bein und einen in die linke Ge-
säßrückseite erlitt. Unmittelbar darauf versetzte der Angeklagte dem Geschädig
ten H. mit bedingtem Tötungsvorsatz einen Stich in die linke Brust. H. lief
von dem Angeklagten weg und wählte um 0.40 Uhr einen Notruf. Der Angeklag-
te erkannte, dass er H. noch nicht tödlich verletzt hatte, setzte ihm aber trotz
bestehender Möglichkeit nicht nach, da er mit der Abwehr der beiden Angreifer
sein vorrangiges Ziel erreicht hatte.
G. erlitt durch die Stiche in den Oberschenkel eine Verletzung der
großen Beinarterie und der großen Beinvene, die zu einer starken Blutung führ-
te; er verstarb wegen des Blutverlustes innerhalb weniger Minuten an Kreislauf-
versagen. H. erlitt eine lebensgefährliche Verletzung der Lunge, konnte aber
durch eine Notoperation gerettet werden.
2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Rechtfertigung des
Angeklagten durch Notwehr bzw. Nothilfe abgelehnt hat, halten rechtlicher
Nachprüfung nicht stand.
a) Das Landgericht ist der Ansicht, dass zwar eine Notwehr- bzw. Nothil-
felage vorgelegen habe, das Vorgehen des Angeklagten aber keine erforderli-
che Verteidigung im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB gewesen sei. Der Angeklagte
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habe den Einsatz des Messers gegenüber den unbewaffneten Angreifern vor-
her androhen müssen. Bei der notwendigen Prüfung der konkreten Kampflage
sei zwar zu berücksichtigen, dass der Angeklagte sich zwei Angreifern gegen-
über gesehen habe, von denen ihm zumindest einer körperlich deutlich überle-
gen gewesen sei. Auch habe aus seiner Sicht nach dem Telefonat von H. in
absehbarer Zeit das Hinzutreten weiterer Personen auf Seiten der Angreifer
gedroht. Auf der anderen Seite sei aber zu bedenken, dass auch dem Ange-
klagten die Geringfügigkeit des Anlasses der Auseinandersetzung nicht ent-
gangen sei und er deshalb keinen Anhaltspunkt für eine Steigerung der Ag-
gressionen für den Fall des Androhens des Messereinsatzes gehabt habe, er
insbesondere nicht mit einer Entwaffnung und der anschließenden Zufügung
schwerwiegender Verletzungen habe rechnen müssen. Aus der Vorgeschichte,
die sich allein zwischen K. H. und G. abgespielt habe, seien zu-
dem keine Anzeichen für besondere Aggressionen der Geschädigten gerade
gegen den Angeklagten erkennbar gewesen.
b) Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2
StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des
Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das
dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.;
vgl. BGH, Beschluss vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12 mN). Ob dies der
Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen
Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden (BGH
NJW 1989, 3027; NStZ 1983, 117). Wird eine Person rechtswidrig angegriffen,
dann ist sie grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, wel-
ches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; der Angegriffene
muss sich nicht mit der Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel
begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist (Senat NStZ 2012, 272,
274). Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz eines
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Messers kann danach durch Notwehr gerechtfertigt sein. Zwar geht die Recht-
sprechung davon aus, dass gegenüber einem unbewaffneten Angreifer der Ge-
brauch eines Messers in der Regel anzudrohen ist (BGH NStZ 1996, 29 f.;
BGHSt 26, 256, 258). Dies setzt aber voraus, dass eine solche Drohung unter
den konkreten Umständen eine so hohe Erfolgsaussicht hat, dass dem Ange-
griffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung
seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann (BGH, Beschluss
vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12 mwN); dabei ist auch zu berücksichti-
gen, ob dem Angegriffenen genügend Zeit zur Wahl des Abwehrmittels und zur
Abschätzung der Lage zur Verfügung stand (vgl. BGH NStZ 2012, 272, 274).
Dies ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen im Einzelnen darzu-
legen. Dabei dürfen angesichts der schweren Kalkulierbarkeit des Fehlschlag-
risikos an die regelmäßig in einer zugespitzten Situation zu treffende Entschei-
dung für oder gegen die Androhung eines Messereinsatzes keine überhöhten
Anforderungen gestellt werden (BGH, Beschluss vom 27. September 2012
- 4 StR 197/12).
c) Diesen Grundsätzen werden die Erwägungen des Landgerichts zur Er-
forderlichkeit der Messerstiche nicht gerecht. Für die Annahme des Landge-
richts, dass der Angeklagte durch ein Androhen des Messereinsatzes seine
Verteidigungsmöglichkeiten nicht verschlechtert hätte, fehlt es an einer trag-
fähigen Grundlage.
Soweit dem Angeklagten von der Kammer entgegengehalten wird, we-
gen der von ihm erkannten Geringfügigkeit des Anlasses der Auseinanderset-
zung habe es aus seiner Sicht keinen Anhaltspunkt einer Eskalation für den Fall
des Androhens des Messereinsatzes gegeben, lässt dies die gebotene Ausei-
nandersetzung mit wesentlichen Umständen vermissen, die sich aus den Fest-
stellungen ergeben. Die Geringfügigkeit des Anlasses sagt für sich bereits
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nichts darüber aus, wie bedrohlich die Situation für den Angeklagten im Zeit-
punkt seiner Verteidigungshandlungen tatsächlich war. Sie ist hierfür aber vor
allem angesichts der konkreten Kampflage ohne Aussagekraft. Diese ist
dadurch gekennzeichnet, dass die Geschädigten, von denen die Tätlichkeiten
ausgingen, den K. H. bereits so geschlagen und getreten hatten, dass
dieser bewusstlos am Boden lag. Als sie sich nunmehr dem Angeklagten zu-
wandten, lag es bei einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse
aus Sicht des Angeklagten nahe, dass sie nunmehr auch ihn durch Schläge
und Tritte schwer verletzen würden. Das Landgericht hat nicht in seine Überle-
gungen aufgenommen, dass das trotz der Geringfügigkeit des Anlasses an den
Tag gelegte, in hohem Maße aggressive Verhalten der Geschädigten gegen
K. H. gegen die Annahme spricht, dass die vorherige Androhung des
Messereinsatzes durch den Angeklagten dazu geeignet gewesen wäre, den
Angriff auf ihn endgültig abzuwehren.
Dies gilt umso mehr, als der Geschädigte G. dem Angeklagten be-
reits einen Faustschlag ins Gesicht versetzt hatte und der Angeklagte davon
ausging, dass auf Seiten der Angreifer in absehbarer Zeit weitere Personen
hinzutreten würden. Mit Rücksicht auf die körperliche Überlegenheit der Angrei-
fer sowie ihre personelle, sich aus Sicht des Angeklagten alsbald verstärkende
Übermacht fehlt es deshalb auch an einer hinreichenden Grundlage für die Auf-
fassung der Kammer, der Angeklagte habe für den Fall der Androhung des
Messereinsatzes nicht mit einer Entwaffnung und der anschließenden Zufügung
schwerwiegender Verletzung rechnen müssen.
Darüber hinaus findet die Erwägung des Landgerichts, es seien keine
Anzeichen für besondere Aggressionen der Geschädigten gerade gegen den
Angeklagten erkennbar gewesen, in den Feststellungen keine hinreichende
Grundlage. Auch insoweit ist zu berücksichtigen, dass G. dem Angeklag-
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ten, ohne das Messer bemerkt zu haben, bereits vor den ersten mit Verteidi-
gungswillen geführten Messerstichen mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat-
te und sich die beiden Geschädigten dem Angeklagten zuwandten, nachdem
sie zuvor bereits K. H. bis zur Bewusstlosigkeit traktiert hatten. Die
genannten, vom Landgericht auch in diesem Zusammenhang nicht erwogenen
Umstände sprachen objektiv und aus der Perspektive des Angeklagten dafür,
dass sich die Aggressionen der Geschädigten in gleicher Weise wie zuvor ge-
gen K. H. nunmehr gegen ihn richten würden.
Unter diesen Umständen hatte die Drohung, das Messer einzusetzen,
keine so hohe Erfolgsaussicht, dass dem Angeklagten das Risiko des Fehl-
schlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglich-
keiten zuzumuten war.
Letztlich hat das Landgericht den Aspekt, dass unabhängig davon, ob
der nicht angedrohte Messereinsatz eine erforderliche Notwehrhandlung des
Angeklagten zu seiner eigenen Verteidigung war, hierin eine erforderliche Not-
hilfehandlung zu Gunsten seines Freundes K. H. lag, überhaupt nicht
in seine rechtlichen Erwägungen einbezogen.
3. Der Senat kann nicht nach § 354 Abs. 1 StPO durch Freispruch in der
Sache selbst entscheiden. Mit Rücksicht auf die in den Urteilsgründen zum
Ausdruck kommende, nicht eindeutige Beweislage sowie dort erwogene Sach-
verhaltsalternativen kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine neue Ver-
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handlung noch weitere Feststellungen zu erbringen vermag, die einen Schuld-
spruch rechtfertigen.
Becker
RiBGH Dr. Appl befindet sich im
Schmitt
Urlaub und ist daher gehindert zu
unterschreiben.
Becker
Eschelbach
Ott