Urteil des BGH vom 06.02.2013

BGH: rechtliches gehör, ablieferung, cmr, haus, zustellung, koch, auslieferung, zivilprozess, zeugnis, rüge

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZR 22/12
vom
6. Februar 2013
in dem Rechtsstreit
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Februar 2013 durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Pokrant,
Prof. Dr. Büscher, Dr. Koch und Dr. Löffler
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird der Be-
schluss des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf
vom 2. Januar 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 51.772,44
festgesetzt.
Gründe:
I. Die Klägerin ist Transportversicherer der B. O. GmbH in
Wiesbaden (im Weiteren: Versicherungsnehmerin). Sie nimmt das beklagte Pa-
ketdienstunternehmen wegen des Verlustes von Transportgut aus abgetrete-
nem und übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmerin auf Schadens-
ersatz in Anspruch.
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Die Versicherungsnehmerin beauftragte die Beklagte im Oktober 2007
mit der Beförderung einer aus zehn Paketen bestehenden Sendung von ihrem
Unternehmenssitz zu einem in London/Großbritannien ansässigen Empfänger.
Die Sendung, deren Wert die Versicherungsnehmerin nicht deklariert hatte, soll-
te an einen C. P. in London, , ausgeliefert werden. Dem
Transportauftrag lagen die Beförderungsbedingungen der Beklagten (Stand
2007) zugrunde, die unter anderem folgende Regelung enthielten:
10. Zustellung
Die Zustellung von Sendungen erfolgt an den Empfänger oder sonstige Perso-
nen, von denen nach den Umständen angenommen werden kann, dass sie zur
Annahme der Sendungen berechtigt sind. Hierzu zählen insbesondere in den
Räumen des Empfängers anwesende Personen und Nachbarn. (…).
Die Klägerin hat behauptet, die aus zehn Paketen bestehende Sendung,
die Fotokameras und Zubehör im Gesamtwert von 51.772,44
€ enthalten habe,
sei bei dem bestimmungsgemäßen Empfänger C. P. nicht angekom-
men.
Die Klägerin hat die Beklagte wegen des angeblichen Verlustes auf
Schadensersatz in Höhe des behaupteten Warenwerts nebst Zinsen in An-
spruch genommen.
Die Beklagte hat sich demgegenüber auf eine ordnungsgemäße Abliefe-
rung des Frachtgutes berufen. Sie hat vorgetragen, der Zustellfahrer ihrer briti-
schen Schwestergesellschaft habe die Sendung an den Bruder des bestim-
mungsgemäßen Empfängers, Ch. P. , übergeben, der im selben Haus
neben dem bestimmungsgemäßen Empfänger C. P. wohne. Der be-
stimmungsgemäße Empfänger habe seinen Bruder zur Entgegennahme der
Sendung bevollmächtigt. Die komplette Sendung sei an den bestimmungsge-
mäßen Empfänger C. P. weitergeleitet worden, so dass eine ordnungs-
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gemäße Ablieferung des Gutes erfolgt sei. Zum Beweis für ihren Vortrag hat die
Beklagte den Zustellfahrer und den Bruder des bestimmungsgemäßen Emp-
fängers als Zeugen benannt.
Das Landgericht hat der Klage ohne Erhebung des angebotenen Zeu-
genbeweises stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat
das Oberlandesgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückge-
wiesen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 3 ZPO) und
auch im Übrigen zulässig (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 544 ZPO, § 26 Nr. 8
EGZPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO
zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der
Sache an das Berufungsgericht. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Er-
folg, dass das Berufungsgericht das Verfahrensgrundrecht der Beklagten auf
rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat.
1. Das Berufungsgericht hat gemeint, die Beklagte habe sowohl zur
Übergabe der Sendung vom Zustellfahrer an den Bruder des bestimmungsge-
mäßen Empfängers als auch zur Weitergabe an den Adressaten des Gutes
keine Einzelheiten zu den näheren Umständen dargelegt. Der Vortrag der Be-
klagten dazu, an wen der Zustellfahrer die Pakete übergeben habe, sei zudem
widersprüchlich. Aber auch dann, wenn die Darstellung der Beklagten als richtig
unterstellt werde, ergebe die Übergabe der Sendung an "Ch. P. " kei-
ne ordnungsgemäße Ablieferung im frachtrechtlichen Sinne. Soweit die Beklag-
te vorbringe, "Ch. P. " sei befugt gewesen, Sendungen für seinen
Bruder in Empfang zu nehmen, handele es sich nicht um eine Tatsachenbe-
hauptung, sondern um die Äußerung einer Rechtsansicht, die keiner Beweiser-
hebung zugänglich sei. Eine Bevollmächtigung habe die Beklagte nicht sub-
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stantiiert dargelegt. Ebenso wenig habe Veranlassung bestanden, Beweis zu
der Behauptung der Beklagten zu erheben, "Ch. P. " habe die Sen-
dung an den bestimmungsgemäßen Empfänger C. P. weitergegeben.
Die Beklagte habe keine Angaben zum Zeitpunkt der Weitergabe gemacht, so
dass der Verfügungsberechtigte gemäß Art. 20 Abs. 1 CMR nach Ablauf der in
dieser Bestimmung genannten Fristen das Gut als verloren ansehen und Scha-
densersatz wegen Verlustes (Art. 17 Abs. 1 CMR) verlangen könne.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde sieht mit Recht eine Verletzung des
Verfahrensgrundrechts der Beklagten aus Art. 103 Abs. 1 GG darin, dass das
Berufungsgericht ihr Vorbringen zur ordnungsgemäßen Zustellung der Waren-
sendung unberücksichtigt gelassen hat, ohne den Beweisangeboten der Be-
klagten nachzugehen.
a) Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im
Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (BGH, Be-
schluss vom 11. Mai 2010 - VIII ZR 212/07, NJW-RR 2010, 1217 Rn. 10; Be-
schluss vom 19. Januar 2012 - V ZR 141/11, juris Rn. 8 mwN). Das gilt auch
dann, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass
das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag
einer Partei gestellt hat. Es verschließt sich in einem solchen Fall der Erkennt-
nis, dass eine Partei ihrer Darlegungslast schon dann genügt, wenn sie Tatsa-
chen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das gel-
tend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Eine
solche nur scheinbar das Parteivorbringen würdigende Verfahrensweise stellt
sich als Weigerung des Berufungsgerichts dar, in der nach Art. 103 Abs. 1 GG
gebotenen Weise den Parteivortrag zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm
inhaltlich auseinanderzusetzen (BGH, Urteil vom 22. Juni 2009 - II ZR 143/08,
NJW 2009, 2598 Rn. 2).
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b) So liegt der Fall hier. Das Berufungsgericht hätte die von der Beklag-
ten zum Auslieferungsvorgang benannten Zeugen K. und Ch. P.
vernehmen müssen. Die Beklagte hat vorgetragen, dass die Auslieferung der
aus zehn Paketen bestehenden Sendung an den im selben Haus wohnenden
Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers C. P. erfolgt sei. Die
Nichtzulassungsbeschwerde weist mit Recht darauf hin, dass dieser Vortrag
klar und widerspruchsfrei ist. Seine gegenteilige Auffassung stützt das Beru-
fungsgericht auf den Umstand, dass es in der Zustellinformation (Anlage B 1)
heißt "Die Sendung wurde an Herrn/Frau CA. wie folgt unterschrieben:".
Das Berufungsgericht hat bei seiner Beurteilung nicht genügend beachtet, dass
die von ihm angenommene Widersprüchlichkeit nicht die Schlüssigkeit des Vor-
trags der Beklagten zur Auslieferung der Ware an den Bruder des bestim-
mungsgemäßen Empfängers C. P. beseitigt. Eine Partei ist nicht gehin-
dert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu
präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüch-
lichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung
Beachtung finden (BGH, Urteil vom 1. Juli 1999 - VII ZR 202/98, NJW-RR 2000,
208; MünchKomm.ZPO/Wagner, 4. Aufl., § 138 Rn. 9; Thomas/Putzo/Reichold,
ZPO, 34. Aufl., § 138 Rn. 6). Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Be-
weisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelas-
teten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichter-
liche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103
Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Februar 2009
- 1 BvR 1232/07, NJW 2009, 1585 Rn. 21 f.; BGH, Beschluss vom 19. No-
vember 2008 - IV ZR 341/07, RuS 2010, 64 Rn. 3; Beschluss vom 19. Januar
2012 - V ZR 141/11, juris Rn. 8).
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Ohne Vernehmung der von der Beklagten benannten Zeugen konnte das
Berufungsgericht daher nicht verlässlich beurteilen, ob die streitgegenständliche
Sendung - wie von der Beklagten behauptet - an den im selben Haus wohnen-
den Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers übergeben wurde und wel-
che Bedeutung dem Eintrag "CA. " in der Zustellinformation zukommt.
c) Die weitere Begründung, mit der das Berufungsgericht die Darlegung
einer wirksamen frachtrechtlichen Ablieferung der Sendung durch die Beklagte
verneint hat, verletzt die Beklagte ebenfalls in ihrem Verfahrensgrundrecht aus
Art. 103 Abs. 1 GG.
aa) Die Beklagte hat unter Beweisantritt (Zeugnis Ch. P. ) vor-
getragen, die Sendung sei an den bestimmungsgemäßen Empfänger ord-
nungsgemäß zugestellt worden, da Ch. P. befugt gewesen sei, für
seinen Bruder C. P. Pakete entgegenzunehmen. Er habe die streitge-
genständliche Sendung auch an seinen Bruder C. P. weitergegeben.
Das Berufungsgericht hat gemeint, der von der Beklagten angebotene
Beweis habe nicht erhoben werden müssen, weil die Beklagte eine Bevollmäch-
tigung von Ch. P. nicht substantiiert dargelegt und auch keine Anga-
ben dazu gemacht habe, wann die Weitergabe erfolgt sei.
bb) Damit hat das Berufungsgericht ebenfalls verfahrensfehlerhaft über-
spannte Anforderungen an den Vortrag der Beklagten gestellt. Es hat von der
Beklagten zu Unrecht eine weitere Präzisierung ihres Vortrags zur Bevollmäch-
tigung von Ch. P. und zur Weitergabe des Gutes an den bestim-
mungsgemäßen Empfänger innerhalb der in Art. 20 Abs. 1 CMR genannten
Fristen verlangt.
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Das Berufungsgericht hat nicht genügend beachtet, dass die Beklagte
weder an der Bevollmächtigung von Ch. P. noch an der Weitergabe
der Pakete an den bestimmungsgemäßen Empfänger mitgewirkt hat. Sie ist
daher nicht in der Lage, aus eigener Wahrnehmung Einzelheiten zu diesen
Vorgängen vorzutragen. Unter solchen Umständen wird es einer Partei häufig
nicht erspart bleiben, im Zivilprozess Tatsachen zu behaupten, über die sie kei-
ne genaue Kenntnis haben kann, die sie aber nach Lage der Dinge für wahr-
scheinlich hält (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 2002 - IX ZR 177/99, NJW-RR
2002, 1419, 1420; MünchKomm.ZPO/Wagner aaO § 138 Rn. 9; Prütting in
Prütting/Gehrlein, ZPO, 4. Aufl., § 138 Rn. 4). Unzulässig wird ein solches pro-
zessuales Vorgehen erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte
für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "ins
Blaue hinein" aufstellt (BGH, NJW-RR 2002, 1419, 1420). Davon kann im Streit-
fall mangels tatsächlicher Anhaltspunkte nicht ausgegangen werden. Mithin hät-
te das Berufungsgericht den Beweisantritt der Beklagten berücksichtigen und
den Zeugen Ch. P. vernehmen müssen.
3. Die Rüge der Nichtzulassungsbeschwerde, das Berufungsgericht habe
auch bei seinen Darlegungen zu den Inhalten der Pakete das Verfahrensgrund-
recht der Beklagten aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, hat dagegen keinen Erfolg.
a) Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet, dass das Landgericht
die Aussage des im Wege der Rechtshilfe vernommenen Zeugen N. zu der
Frage verwertet hat, ob keines der zehn angeblich verlorengegangenen Pakete
Waren im Wert von mehr als 7.500
€ enthalten habe. Sie rügt, die Beklagte sei
nicht davon in Kenntnis gesetzt worden, dass im Beweisaufnahmetermin vom
1. März 2011 zusätzlich zu dem im Beweisbeschluss des Landgerichts vom
14. Dezember 2010 benannten Zeugen G. der Zeuge N. habe vernom-
men werden sollen. Die Beklagte habe das Verfahren des Rechtshilfegerichts
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beanstandet und eine verspätete Benachrichtigung über die Nachbenennung
und beabsichtigte Vernehmung des Zeugen N. gerügt.
b) Mit diesem Vorbringen hat die Nichtzulassungsbeschwerde keinen
entscheidungserheblichen Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103
Abs. 1 GG dargelegt. Das Berufungsgericht hat seine Annahme, kein Paket
habe Waren mit einem die Verbotsgutgrenze von 50.000 US-Dollar überstei-
genden Wert enthalten, auch auf den Gesamtwert des Gutes (51.772,44
€) und
die Anzahl der Pakete (zehn) gestützt. Gegen diese plausible Feststellung hat
die Nichtzulassungsbeschwerde keine konkreten Einwände erhoben, so dass
offenbleiben kann, ob die Vorinstanzen die Aussage des Zeugen N. nicht
hätten verwerten dürfen.
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III. Der angefochtene Beschluss beruht danach auf einer Verletzung des
Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör. Es ist nicht auszuschließen,
dass das Berufungsgericht zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung
gelangt wäre, wenn es die von ihr benannten Zeugen vernommen hätte.
Bornkamm
Pokrant
Büscher
Koch
Löffler
Vorinstanzen:
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 09.06.2011 - 31 O 48/10 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 02.01.2012 - I-18 U 149/11 -
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