Urteil des BGH vom 28.12.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 225/09
vom
28. Dezember 2009
in der Unterbringungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB 1906 Abs. 1 Nr. 2
Eine Unterbringung kann nicht gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. BGB ("... weil
… eine Heilbehandlung … notwendig ist, …“) genehmigt werden, wenn die an-
gestrebte Heilbehandlung - aus welchen Gründen auch immer - nicht oder nicht
mehr durchgeführt wird. Deshalb darf eine bereits erteilte Genehmigung nicht
länger aufrechterhalten werden, wenn der Betreute bereits untergebracht ist,
sich aber sodann herausstellt, dass die in der Unterbringungseinrichtung tätigen
Ärzte - in Abweichung von dem der Genehmigung zugrunde liegenden ärztli-
chen Gutachten - eine Heilbehandlung für medizinisch nicht geboten erachten
und eine solche Behandlung deshalb nicht durchführen.
BGH, Beschluss vom 28. Dezember 2009 - XII ZB 225/09 - LG Potsdam
AG Potsdam
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Dezember 2009 durch
die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne, die Richterin Weber-Monecke, den Richter
Prof. Dr. Wagenitz, die Richterin Dr. Vézina und den Richter Dose
beschlossen:
Auf die Rechtsmittel der Betreuten werden der Beschluss der
5. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 1. Dezember 2009
und der Beschluss des Amtsgerichts Potsdam vom 25. November
2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung über
den Antrag der Betreuerin auf Genehmigung der Unterbringung
der Betreuten an das Amtsgericht Potsdam - Betreuungsgericht -
zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Die Betreute wendet sich gegen die betreuungsgerichtliche Genehmi-
gung ihrer Unterbringung.
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Die u.a. für den Aufgabenbereich Aufenthaltsbestimmung und Gesund-
heitssorge bestellte Betreuerin der Betroffenen beantragte am 28. Oktober 2009
die Genehmigung, die Betreute unterzubringen.
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Das Amtsgericht - Betreuungsgericht - hat auf der Grundlage eines Gut-
achtens des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. D. vom 12. Novem-
ber 2009 - zunächst im Wege der einstweiligen Anordnung und wegen Gefahr
im Verzug ohne vorherige Anhörung der Betreuten - deren Unterbringung in
einer geschlossenen Einrichtung bis längstens 4. Januar 2010 genehmigt. Die
Betreute ist seit dem 24. November 2009 im A.-Klinikum in B. mit
freiheitsentziehender Wirkung untergebracht.
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Nach einer Anhörung der Betreuten am 25. November 2009 hat das
Amtsgericht - Betreuungsgericht - mit Beschluss vom selben Tag in Abände-
rung der vorläufigen Entscheidung vom 23. November 2009 die Unterbringung
der Betreuten in einer geschlossenen Einrichtung bis längstens 23. Januar
2010 genehmigt. Es hat - unter Berufung auf das vorgenannte ärztliche Gutach-
ten - ausgeführt, die Betreute leide an einer psychischen Erkrankung aus dem
schizophrenen Formenkreis. Mit hoher Wahrscheinlichkeit liege eine paranoide
Schizophrenie vor. Differentialdiagnostisch müsse auch die Möglichkeit einer
wahnhaften Störung in die Überlegungen einbezogen werden. Daraus resultiere
nach gutachterlicher Einschätzung, die sich das Amtsgericht - Betreuungsge-
richt - zueigen mache, eine dringende Heilbehandlungsbedürftigkeit. Die Be-
treute müsse dringend Neuroleptika sowie weiterführende therapeutische An-
gebote erhalten. Dies könne aufgrund der ablehnenden Haltung der Betreuten
nur im stationären Rahmen geschehen und rechtfertige die Unterbringung der
Betreuten gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB zum Zwecke der Heilbehandlung.
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Die dagegen eingelegte Beschwerde der Betreuten hat das Landgericht
zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Betreute mit der Rechtsbeschwer-
de, mit der sie zugleich die Aussetzung der Vollziehung der amtsgerichtlichen
Entscheidung begehrt.
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II.
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Die Rechtsbeschwerde ist statthaft; einer Zulassung durch das Be-
schwerdegericht bedarf es gemäß § 70 Abs. 3 Nr. 2 FamFG nicht. Das auch im
Übrigen zulässige Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt zur Aufhebung der ange-
fochtenen Entscheidungen und zur Zurückverweisung der Sache an das Amts-
gericht.
1. Das Landgericht ist der Auffassung, aufgrund der überzeugenden Aus-
führungen im ärztlichen Gutachten stehe fest, dass die Betreute an einer psy-
chischen Krankheit leide und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine paranoide
Schizophrenie, differentialdiagnostisch auch eine wahnhafte Störung vorlägen.
Die schriftlichen Mitteilungen der Angehörigen bestätigten eindeutig das Bild
der vom Gutachter festgestellten psychischen Krankheit. Im Anhörungstermin
vor der Kammer sei die Betreute zwar nicht gereizt oder dysphorisch gewesen;
die übrigen vom Gutachter geschilderten Befunde hätten sich aber noch deut-
lich gezeigt. Die Feststellungen des Gutachters würden auch nicht durch die
Erklärungen der Oberärztin, die die Betreute im A.-Klinikum behandele, wider-
legt. Zwar habe die Oberärztin in ihrer Anhörung vor der Kammer des Landge-
richts bekundet, nach ihren Beobachtungen auf der Station könne sie allenfalls
die Diagnose einer wahnhaften Störung stellen; sie sei jedoch auch insoweit
nicht ganz sicher. Diese Erklärungen der Oberärztin seien indes nicht geeignet,
die detaillierten und nachvollziehbaren Feststellungen im Gutachten des
Dr. med. D. in Zweifel zu ziehen. So habe es die Oberärztin unterlassen, die
von ihr für notwendig gehaltene Fremdanamnese durch Befragen der Famili-
enmitglieder zu erheben. Vor dem Hintergrund der aus den Akten ersichtlichen
Familiensituation sei auch nicht nachvollziehbar, dass die Oberärztin trotz der
von ihr gestellten Verdachtsdiagnose einer wahnhaften Störung keine Veran-
lassung sehe, etwas zu tun. Die Beschwerde der Betreuten sei deshalb in de-
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ren Eigeninteresse zurückzuweisen, um dieser "die Chance zu geben, die mit
hohem Leidensdruck verbundene und möglicherweise seit vielen Jahren beste-
hende Erkrankung behandeln zu lassen".
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2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
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Nach § 1906 Abs. 2 Satz 1 BGB bedarf die Unterbringung eines Betreu-
ten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, grundsätz-
lich der Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Diese Genehmigung kann
nur erteilt oder aufrechterhalten werden, wenn und solange die Unterbringung
zulässig ist. Nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. BGB ist die Unterbringung nur zu-
lässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, "weil eine … Heil-
behandlung … notwendig ist, ohne die die Unterbringung des Betreuten nicht
durchgeführt werden kann und der Betreute aufgrund einer psychischen Krank-
heit … die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach
dieser Einsicht handeln kann".
Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor. Dabei kann hier da-
hinstehen, ob die Betreute - wie im ärztlichen Gutachten festgestellt - an einer
psychischen Krankheit leidet, ob diese Krankheit - wie der Gutachter meint -
eine Heilbehandlung erfordert und ob diese Heilbehandlung ohne eine Unter-
bringung nicht durchgeführt werden kann. Wie die dargestellten Regelungen
zeigen, kommt die Genehmigung einer Unterbringung nicht in Betracht, wenn
eine angestrebte Heilbehandlung - aus welchen Gründen auch immer - nicht
oder nicht mehr durchgeführt wird. Deshalb darf eine bereits erteilte Genehmi-
gung nicht länger aufrechterhalten werden, wenn der Betreute bereits unterge-
bracht ist, sich aber sodann herausstellt, dass die in der Unterbringungseinrich-
tung tätigen Ärzte eine Heilbehandlung für medizinisch nicht geboten erachten
und eine solche Behandlung deshalb nicht durchführen. In einem solchen Fall
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"läuft" die Unterbringung, die allein der Durchführung der Heilbehandlung die-
nen soll, offenkundig "leer" mit der Folge, dass die Genehmigung der Unter-
bringung jedenfalls in der konkreten Unterbringungseinrichtung nicht länger auf-
recht erhalten werden darf.
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So liegen die Dinge hier. Die Oberärztin, die für die Behandlung der Be-
treuten im A.-Klinikum zuständig ist, trägt - wie sich aus dem Protokoll ihrer An-
hörung vor der Kammer des Landgerichts ergibt - die vom Gutachter Dr. med.
D. gestellte Diagnose einer paranoiden Schizophrenie nicht mit. Ob eine Wahn-
symptomatik, die sich insbesondere um das häusliche Umfeld der Betreuten
bewege, "möglich oder vielleicht sogar wahrscheinlich" sei, lasse sich jedenfalls
anhand der Beobachtungen auf der Station, auf der die Betreute untergebracht
sei, nicht feststellen. Im Übrigen könne man unter stationären Bedingungen al-
lenfalls versuchen, eine solche Wahnsymptomatik einzudämmen bzw. anzube-
handeln. Solche Versuche seien nach ärztlicher Erfahrung aber in aller Regel
von wenig Erfolg gekrönt und jedenfalls als Zwangsbehandlung unverhältnis-
mäßig. Allgemein habe man im A.-Klinikum die Situation der Betreuten beo-
bachtet, diese aber nicht als so auffällig empfunden, dass man weitere Schritte
eingeleitet habe.
Das Landgericht hat hieraus zwar im Ansatz zutreffend gefolgert, dass
die im A.-Klinikum zuständigen Ärzte "keine Veranlassung" sähen, "etwas zu
tun". Damit sind jedoch, was das Landgericht verkennt, die Voraussetzungen
für ein Genehmigung der Unterbringung der Betreuten jedenfalls im A.-Klinikum
entfallen. Auf die Frage, ob die medizinische Beurteilung der dort zuständigen
Oberärztin zutrifft, ob diese eine Fremdanamnese hätte erheben oder ob sie,
wie das Landgericht meint, im Hinblick auf die von ihr immerhin für möglich ge-
haltene Wahnsymptomatik medizinische Maßnahmen hätte ergreifen müssen,
kommt es nicht an. Die bloße "Chance" der Betreuten, eine "bestehende Er-
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krankung behandeln zu lassen", vermag die Unterbringung der Betreuten allein
nicht zu rechtfertigen (Senatsbeschluss vom 1. Februar 2006 - XII ZB 236/05 -
NJW 2006, 1277, 1280). Die gegenteilige Auffassung des Landgerichts ist mit
§ 1906 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. BGB nicht zu vereinbaren. Im übrigen ist diese An-
sicht im vorliegenden Fall auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil die im
A.-Klinikum zuständigen Ärzte - aufgrund ihrer vom Gutachter Dr. med. D. ab-
weichenden medizinischen Einschätzung - der Betreuten eine solche "Chance"
gerade nicht eröffnen.
3. Die angefochtene Entscheidung erweist sich auch nicht aus anderen
Gründen als richtig. Das Amtsgericht hat in seinem Beschluss vom 25. Novem-
ber 2009 die Genehmigung der Unterbringung ausschließlich auf § 1906 Abs. 1
Nr. 2 2. Alt. BGB gestützt und mit der Notwendigkeit einer Heilbehandlung der
Betreuten begründet; das Landgericht hat keine darüber hinausgehenden recht-
lichen Aspekte in den Blick genommen. Die Möglichkeit, die Betreute zur weite-
ren Beobachtung ihres psychischen Zustandes unterzubringen (§ 1906 Abs. 1
Nr. 2 1. Alt. BGB "Untersuchung des Gesundheitszustandes") wird nicht ange-
sprochen; Feststellungen zur Erforderlichkeit einer solchen weiteren Beobach-
tung und einer damit etwa einhergehenden Notwendigkeit, die Betreute frei-
heitsentziehend unterzubringen, fehlen. Auch für eine etwaige Unterbringung
nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB (Gefahr der Selbsttötung oder Selbstschädi-
gung) oder nach dem einschlägigen Landesrecht (vgl. § 8 Abs. 2 des Gesetzes
über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich ange-
ordneter Unterbringung für psychisch kranke oder seelisch behinderte Men-
schen im Land Brandenburg vom 5. Mai 2009 - BbgPsychKG, GVBl. I S. 134.:
ernsthafte Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des kranken oder see-
lisch behinderten Menschen oder unmittelbare erhebliche Gefahr für die öffent-
liche Sicherheit) fehlt es an den nötigen Erkenntnissen. In dem von beiden Ent-
scheidungen angezogenen ärztlichen Gutachten des Dr. med. D. wird zwar eine
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mögliche Selbst- oder Fremdgefährdung durch die Betreute angesprochen. Al-
lerdings handelt es sich dabei lediglich um die Wiedergabe von Mitteilungen der
Angehörigen über in der Vergangenheit liegende Ereignisse. Eigene Feststel-
lungen dazu haben weder das Amtsgericht noch das Landgericht getroffen.
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4. Die Entscheidung des Landgerichts kann nach allem keinen Bestand
haben. Auch die Genehmigung der Unterbringung der Betreuten durch das
Amtsgericht kann nicht bestehen bleiben, mag diese Entscheidung auch nach
dem Erkenntnisstand im Entscheidungszeitpunkt richtig gewesen sein. Denn
die konkrete Unterbringung der Betreuten im A.-Klinikum dient, wie nunmehr
festgestellt, ersichtlich nicht der Durchführung einer Heilbehandlung.
Der Senat vermag allerdings nicht in der Sache abschließend zu ent-
scheiden und den Antrag der Betreuerin, die Unterbringung der Betreuten zu
genehmigen, zurückzuweisen. Unter Aufhebung der angefochtenen Entschei-
dungen war die Sache vielmehr - wegen Eilbedürftigkeit an das Amtsgericht
(§ 74 Abs. 6 Satz 2 2. Alt. FamFG) - zurückzuverweisen. Das Amtsgericht wird
zu prüfen haben, ob die vom Gutachter bejahte Notwendigkeit einer Heilbe-
handlung unter Berücksichtigung der unter stationären Bedingungen gewonne-
nen Erfahrungen fortbesteht und eine Unterbringung der Betreuten erfordert.
Bejahendenfalls wird das Amtsgericht die Genehmigung erneut mit der Maßga-
be auszusprechen haben, dass die Betreute in einer anderen Einrichtung un-
tergebracht und in kurzer Frist überprüft wird, ob in dieser Einrichtung die vom
Amtsgericht für notwendig erachtete Heilbehandlung auch tatsächlich durchge-
führt wird. Gegebenenfalls wird das Amtsgericht auch zu prüfen haben, ob eine
etwaige Notwendigkeit weiterer stationärer Beobachtung des psychischen Zu-
standes der Betreuten oder eine Eigengefährdung oder eine Gefährdung der
öffentlichen Sicherheit (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB; § 8 Abs. 2 BbgPsychKG) eine
erneute Unterbringung der Betreuten erfordert.
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5. Mit der Aufhebung des die Unterbringung der Betreuten genehmigen-
den Beschlusses des Amtsgerichts vom 25. November 2009 ist die Grundlage
für eine weitere Unterbringung der Betreuten bis auf weiteres entfallen. Der An-
trag, die Vollziehung dieses Beschlusses auszusetzen, ist damit gegenstands-
los.
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Hahne Weber-Monecke Wagenitz
Vézina Dose
Vorinstanzen:
AG Potsdam, Entscheidung vom 23.11.2009 - 56 XVII 193/09 -
LG Potsdam, Entscheidung vom 01.12.2009 - 5 T 820/09 und 5 T 830/09 -