Urteil des BGH vom 16.02.2004
BGH (hauptverhandlung, stpo, vernehmung, zeuge, antrag, vater, verteidigung, beweisantrag, wissen, ablehnung)
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 309/04
vom
14 September 2004
in der Strafsache
gegen
wegen sexueller Nötigung
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 14. September 2004
gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Dortmund vom 16. Februar 2004 mit den Feststellungen
aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Strafkammer des
Landgerichts Essen zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in
vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Verur-
teilung des die Taten zum Nachteil seiner Schwiegertochter, der Nebenklägerin
Manuela B. , bestreitenden Angeklagten hatte es allein auf die Aussage
der Nebenklägerin gestützt. Dieses Urteil hat der Senat auf eine Aufklärungs-
rüge des Angeklagten durch Beschluß vom 25. Februar 2003 - 4 StR 499/02 -
aufgehoben und die Sache zur erneuter Verhandlung und Entscheidung an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. In der neuen
Hauptverhandlung ist das Landgericht zu dem selben Schuldspruch gelangt.
Es hat den Angeklagten nunmehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jah-
ren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision
rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
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Das Rechtsmittel hat mit zwei Verfahrensrügen Erfolg; einer Erörterung
der Sachrüge und der weiteren Verfahrensrüge bedarf es daher nicht.
1. Der Angeklagte hat erklärt, die Nebenklägerin habe auch früher schon
Menschen, die sie kritisiert hätten, mit dem Vorwurf einer „unsittlichen Annähe-
rung“ belastet. So habe sie ständig davon berichtet, ihr Vater, zwei Bekannte,
die beim letzten Umzug der Familie geholfen hätten, und auch zwei Kollegen
seien ihr „an die Wäsche gegangen“.
Die Verteidigung beantragte deshalb die Vernehmung der Zeugin Emmy
F. zum Beweis der Tatsache, die Nebenklägerin habe anläßlich ihres ersten
Besuches bei Frau F. unter Verwendung dieser Worte erklärt, sie sei von
ihrem Vater "sexuell belästigt" worden.
Das Landgericht hat diesen Beweisantrag, soweit es um den konkreten
Wortlaut der behaupteten Äußerung geht, mit der Begründung abgelehnt, die
Zeugin sei ein untaugliches Beweismittel. Nach allgemeiner Lebenserfahrung
erscheine es unmöglich, daß die Zeugin sich an den genauen Wortlaut einer
Äußerung erinnern könne, die im Rahmen eines Gesprächs vor über acht Jah-
ren getätigt worden sei. Zwar habe die Zeugin bei einer telefonischen Befra-
gung durch den Vorsitzenden Richter die Beweisbehauptung bestätigt und an-
gegeben, sie könne sich deshalb so genau an den Wortlaut dieser Äußerung
erinnern, weil sie "diese als ungehörig empfunden" und danach und in späteren
Jahren (auch während des laufenden Verfahrens) im ganzen Verwandtenkreis
immer wieder weitererzählt habe. Nach dem Ablauf "von vielen Jahren" könne
aber der konkrete Wortlaut der Äußerung nicht reproduziert werden. Das häu-
fige Weitererzählen könne allenfalls dazu führen, daß die Erinnerung an den
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ge Weitererzählen könne allenfalls dazu führen, daß die Erinnerung an den
Ursprungsvorgang hinsichtlich des Wortlauts schlechter werden und zum
Schluß eine Rückbesinnung an den Ursprungswortlaut ganz unmöglich werde.
Soweit der Antrag des Angeklagten dahin auszulegen sei, daß die Nebenklä-
gerin bei einem Gespräch mit Frau F. Übergriffe ihres Vaters geschildert ha-
be, die diese als sexuelle Übergriffe verstanden habe, könne die behauptete
Tatsache als wahr unterstellt werden.
Die Ablehnung des Beweisantrages ist rechtsfehlerhaft.
a) Die Annahme des Landgerichts, die Zeugin sei, soweit es den genau-
en Wortlaut der Äußerung der Nebenklägerin betrifft, ein völlig ungeeignetes
Beweismittel im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO (vgl. BGHR StPO § 244
Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 4 m.w.N.), begegnet schon deshalb durchgrei-
fenden rechtlichen Bedenken, weil es einen allgemeinen Erfahrungssatz, daß
ein Zeuge nach Ablauf „von vielen Jahren“ (hier: nach mehr als acht Jahren)
den Wortlaut der Äußerung nicht mehr zuverlässig wiedergeben kann, nicht
gibt. Auch die übrigen Erwägungen des Landgerichts sind verfahrensfehlerhaft.
Ob ein Zeuge, der für länger zurückliegende Vorgänge benannt worden
ist, völlig ungeeignet ist, weil auszuschließen ist, daß er sie zuverlässig in sei-
nem Gedächtnis behalten hat (vgl. BGHSt 14, 339, 342; BGH StV 1982, 339,
341; NStZ 1999, 362, 363), hat der Tatrichter anhand allgemeiner Lebenser-
fahrung unter Berücksichtigung aller Umstände, die dafür oder dagegen spre-
chen, daß der Zeuge die in sein Wissen gestellten Wahrnehmungen gemacht
und im Gedächtnis behalten hat, zu beurteilen (vgl. BGH NStZ 1993, 295, 296;
Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 244 Rn. 60 m.w.N.). Maßgeblich für die Beur-
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teilung ist insbesondere, ob der Vorgang, zu dem der Zeuge aussagen soll, für
ihn bedeutsam gewesen ist, sein Interesse geweckt hat und ob sich der Zeuge
auf Erinnerungshilfen stützen kann (vgl. Meyer-Goßner aaO). Bei der Prüfung
der Geeignetheit des Beweismittels ist zwar in Grenzen eine Vorwegnahme der
Beweiswürdigung und dabei auch Freibeweis zulässig, wobei jedoch festste-
hen muß, dass eine verwertbare Aussage keinesfalls zu erwarten ist (vgl. BGH
NStZ 1999, 362, 363 m.w.N.). Das ist hier aber schon deshalb nicht der Fall,
weil die Zeugin bei ihrer freibeweislichen Anhörung nachvollziehbare Gründe
dafür genannt hat, daß sie den Wortlaut der Äußerung im Gedächtnis behalten
hat. Hinzu kommt, was das Landgericht nicht bedacht hat, daß Gegenstand der
Beweisbehauptung kein völlig belangloser Vorgang war (vgl. BGH NStZ 1993,
295, 296), sondern eine Äußerung der Nebenklägerin über sexuelle Belästi-
gungen durch ihren leiblichen Vater, die für die Zeugin so bedeutsam gewesen
sein kann, daß sie deren Wortlaut trotz des Zeitablaufs zuverlässig im Ge-
dächtnis behalten hat. Bei einer solchen Sachlage würde die Zulässigkeit einer
vorweggenommenen Beweiswürdigung die Ersetzung des Strengbeweises
durch den Freibeweis in einem für die Schuldfrage wesentlichen Punkt bedeu-
ten (vgl. BGH NStZ 1999, 362, 363).
b) Rechtsfehlerhaft ist auch die Wahrunterstellung der vom Landgericht
dahin modifizierten Beweisbehauptung, die Zeugin habe die Äußerungen der
Nebenklägerin als Schilderung sexueller Übergriffe verstanden. Diese Ausle-
gung des eindeutig auf die Beweiserhebung über den genauen Wortlaut der
Äußerungen der Nebenklägerin gerichteten Antrages verkürzt die Beweisbe-
hauptung in unzulässiger Weise (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahr-
unterstellung 4). Der Beweisantrag war objektiv nicht unklar und deshalb einer
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Auslegung nicht zugänglich (vgl. Herdegen in KK-StPO 5. Aufl. § 244 Rdn. 47
m.w.N.).
2. Die Revision beanstandet ferner zu Recht die Ablehnung des von der
Verteidigung im Rahmen der Schlußvorträge hilfsweise gestellten Antrages,
den Richter am Landgericht Dr. G. zum Beweis der Tatsache zu vernehmen,
daß die Nebenklägerin in der vorangegangenen Hauptverhandlung nicht be-
kundet hat, der Angeklagte habe sie mit einer Hand an beiden Händen fest-
gehalten und mit der anderen Hand berührt. Das Landgericht hat aufgrund der
Bekundungen der Nebenklägerin in der neuen Hauptverhandlung zur ersten
Tat entsprechende Feststellungen getroffen und hat in den Urteilsgründen zur
Ablehnung des Hilfsbeweisantrages ausgeführt, es handele sich insoweit um
einen Beweisermittlungsantrag, weil nicht dargetan worden sei, was die Zeugin
konkret geäußert haben solle. Auch die Aufklärungspflicht zwinge nicht zu der
beantragten Vernehmung, zumal offen sei, in welcher Weise und mit welchen
Nachfragen dieser Punkt behandelt worden sei.
Die Behandlung des Antrages als Beweisermittlungsantrag, der lediglich
der Vorbereitung von Beweisanträgen dient, die von der Verteidigung noch
nicht gestellt werden konnten, weil sie die Beweistatsache nicht kannte (vgl.
BGHSt 30, 131, 142; Meyer-Goßner aaO § 244 Rdn. 25 m.w.N.), ist rechtsfeh-
lerhaft. Zwar liegt grundsätzlich wegen der Notwendigkeit der Trennung von
Beweistatsache und Beweisziel besonders dann, wenn - wie hier - Negativtat-
sachen in das Wissen eines Zeugen gestellt werden, die Annahme einer blo-
ßen Beweisanregung nahe (vgl. BGHSt 39, 251, 254; BGH NStZ 1999, 362 f.;
Meyer-Goßner aaO § 244 Rdn. 20, jeweils m.w.N.). So liegt es hier jedoch
nicht. Der Hilfsbeweisantrag enthält eine Tatsachenbehauptung über die Be-
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kundungen der Nebenklägerin in der vorangegangenen Hauptverhandlung und
genügt damit den Anforderungen, die an die Bestimmtheit der in einem Antrag
bezeichneten Beweistatsache zu stellen sind (vgl. BGHSt 39, 251, 253). Da der
als Zeuge benannte Richter an der ersten Hauptverhandlung und damit an der
Vernehmung der Nebenklägerin teilgenommen hat, sind die Bekundungen der
Zeugin in jener Verhandlung und damit auch die in das Wissen des Zeugen
gestellte Negativtatsache seiner unmittelbaren eigenen Wahrnehmung zugäng-
lich gewesen, so daß die behauptete Negativtatsache, ohne daß der Charakter
des auf Vernehmung des Zeugen gerichteten Antrags als Beweisantrag ge-
fährdet wäre, Beweisthema sein kann (vgl. BGHSt 39, 251, 253; BGH NStZ
1999, 362, 363).
3. Auf den aufgezeigten Verfahrensfehlern kann das Urteil beruhen.
Die Bekundungen der Nebenklägerin zu ihrem Vorleben und zu den Tat-
vorwürfen weisen ebenso wie das Aussageverhalten der Nebenklägerin im Er-
mittlungsverfahren und den beiden Hauptverhandlungen zahlreiche Wider-
sprüche und andere Ungereimtheiten auf, die jedoch nach Auffassung des
Landgerichts auch, soweit sie nicht erklärbar sind, keinen Anlaß geben, an der
Richtigkeit der Angaben insgesamt zu zweifeln.
Das Landgericht hat zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin unter ande-
rem ausgeführt, während der gesamten Aussage sei deutlich geworden, daß es
für die Nebenklägerin überaus unangenehm und belastend gewesen sei, die
sexualbezogenen Details des Geschehens mit eigenen Worten zu schildern.
Sie pflege nach eigenem Bekunden auch im alltäglichen Leben keinen offenen
Umgang mit sexualbezogenen Themen. Hiermit läßt sich die mit dem Antrag
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auf Vernehmung der Zeugin F. unter Beweis gestellte Tatsache, daß die Ne-
benklägerin der ihr damals fremden Zeugin erklärt habe, sie sei von ihrem leib-
lichen Vater sexuell belästigt worden, nicht ohne weiteres in Einklang bringen.
Das Landgericht hat zudem im Hinblick auf Widersprüche in den Bekun-
dungen der Nebenklägerin zum Alkoholgenuß des Angeklagten für möglich
gehalten, daß diese in einzelnen Punkten versucht hat, ihre Angaben anzupas-
sen, es hat dem aber keine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung der
Glaubwürdigkeit der Zeugin zugemessen. Ferner hat es hervorgehoben, daß
die Nebenklägerin als einzige Zeugin des Geschehens durchaus schwerwie-
gendere Anschuldigungen hätte vorbringen können, dies aber "gerade nicht
getan" habe. Möglicherweise wäre das Landgericht insoweit zu einer anderen
Beurteilung gelangt, wenn die Nebenklägerin, wie von der Verteidigung mit
dem rechtsfehlerhaft abgelehnten Hilfsbeweisantrag auf Vernehmung des Zeu-
gen Dr. G. unter Beweis gestellt worden ist, Angaben zu der Fixierung ihrer
Hände durch den Angeklagten bei der ersten Tat erstmals in der neuen Haupt-
verhandlung gemacht hat, zumal der Senat in dem Beschluß vom 25. Februar
2003 für die neue Hauptverhandlung vorsorglich darauf hingewiesen hatte, daß
die sexuelle Nötigung erst mit der Ausführung der durch Gewalt erzwungenen
sexuellen Handlung vollendet ist.
Bei dieser Sachlage kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Land-
gericht, wären die rechtsfehlerhaft abgelehnten Beweiserhebungen durchge-
führt worden, bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Indizien, die gegen die
Glaubwürdigkeit der einzigen Belastungszeugin sprechen können (vgl. BGH
StraFo 1997, 245 m.w.N.), zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit des
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Tatvorwurfs gelangt wäre; dies gilt umso mehr, als hier Aussage gegen Aussa-
ge steht und die Fragwürdigkeiten sich häufen.
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4. Der Senat macht von der Möglichkeit der Zurückverweisung an ein
anderes Gericht Gebrauch (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible